In den „Katalog menschlicher Grundbedürfnisse“[1] gehört, immer schon die Vergewisserung über die Herkunft der Welt, der anderen Lebewesen und des Menschen selbst. Die Schöpfungsmythen aus allen Kulturen legen davon beredtes Zeugnis ab[2]. Diese Mythen erfüllen offenbar eine Art von kausalem Bedürfnis des Menschen[3]. Sie lassen damit nicht ins Bewusstsein gelangen, dass hier mit Zufälligkeiten bzw. Kontingenz gerechnet werden müsste. Mit Zufälligkeiten rechnen und operieren, erstmals einige der Vorsokratiker in ihren kosmogonischen Weltentstehungsentwürfen. Auf andere Weise rechnet monotheistischer Schöpfungsglaube – phasenweise sehr ernsthaft – mit die Kontingenz der Welt, sofern sie aus dem freien Willen Gottes ihren Ursprung erfährt. Überwiegend wurde allerdings sowohl die Rolle des Zufalls beim Werden der Welt schroff zurückgewiesen, man denke an die Polemik gegen Epikur, die sich durch die Philosophie- und Theologiegeschichte zieht. Und auch die Betonung der Allmacht Gottes, die bei einigen nominalistischen Theologen des Mittelalters Gott jede Willkür zubilligte, blieb einer interessanten theologiegeschichtlichen Phase vorbehalten.
Nun haben allerdings die Naturwissenschaften den gegenwärtigen Zustand der Welt auf einen Evolutionsprozess zurückgeführt, den sie als durch Zufall und Notwendigkeit geprägt erkennen; so auch der Titel des berühmten Buches von Jacques Monod. Diese erneute Irritation ist nachhaltig. Sie wird brisant durch Kontingenzerfahrungen, wie sie die Corona-Krise, Vulkanausbrüche und Meteoriteneinschläge zur Folge haben können, aber auch die Klimabedrohung. Die Annahme, es müsse alles immer so ähnlich weitergehen bzw. fortschreiten wie bisher, ist als naiv entlarvt.
[1] Vgl. zu dieser Formulierung Dietrich Rössler (Christentum und Neuzeit. Erwägungen aus Anlaß eines Buches [Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, 1966], in Birkner, Hans-Joachim – Rössler, Dietrich (Hg.): Beiträge zur Theorie des neuzeitlichen Christentums, Berlin 1968, S.91–100, S.95, der im Anschluss an Hans Blumenberg die Frage der Kontinuität im „Katalog menschlicher Grundfragen“ diskutiert.
[2] Vgl. etwa die Textsammlungen bei Mircea Eliade (Geschichte der religiösen Ideen. Quellentexte, übers. und hg.v. Günter Lanczkowski, Freiburg – Basel – Wien 1981 (Org.ausg.: From Primitives to Zen. A Thematic Sourcebook of the History of Religions, 1967) und Ulrich Mann (Schöpfungsmythen. Vom Ursprung und Sinn der Welt, Stuttgart – Berlin 1982).
[3] Bruno Snell betont, dass „auch das ´mythische´ Denken“ um „aitiologische Verknüpfung“ bemüht sei: „ja ein wesentlicher Kern der Mythen ist es, auf die Fragen nach den Ursachen zu antworten – nach der Entstehung der Welt, der Naturerscheinungen, der Menschen, ihrer Einrichtungen, Gebräuche, Geräte usf.“ (Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen, Göttingen, 6.1986, [1.1975]) S.195. Anthropologisch fundiert sieht Lichtenberg (Sudelbücher II S.286, J 1551) dieses Bedürfnis: „Der Mensch ist ein Ursache[n] suchendes Wesen, der Ursachensucher würde er im System der Geister genannt werden können.“ Eine Erklärung dieses Phänomens bietet die „evolutionäre Erkenntnistheorie“ an, vgl. vor allem Rupert Riedl (Biologie der Erkenntnis. Die stammesgeschichtlichen Grundlagen der Vernunft, Berlin – Hamburg 3.1981 [1.1979]) S.118–147.
Der Begriff des Zufalls thematisiert ein Phänomen, dem sich der Mensch seit Urzeiten konfrontiert sah[1]. Jean Piaget hat jedoch betont, daß die Idee des Zufalls menschheitsgeschichtlich spät aufgetaucht sei[2]. Die Angehörigen ursprünglicher Kulturen gehen von persönlichen Kraftwirkungen in den Naturphänomenen aus und verstehen diese Phänomene in der Regel als zugedacht, sei es als Strafe oder als Belohnung. Aus diesem Grund konnte Lucien Lévy‑Bruhl immer wieder erklären, dass das „primitive Denken“ keinen Zufall kenne[3]. Der Anthropologe Christopher R. Hallpike bestätigt differenzierend, dass die „gewisse Vorstellung“ von „Zufall“ bei Angehörigen ursprünglicher Kulturen darin besteht, dass sie etwas als „einfach geschehen“ betrachten, ohne dass dafür eine spezielle Erklärung benötigt wird oder auch nur verfügbar wäre[4]. „Es gibt, mit anderen Worten, eine Vorstellung von ‚insignifikantem Zufall‘, nicht aber von ’signifikantem Zufall‘.“[5] Dass ein bedeutungsvolles Ereignis durch zufällige Faktoren bewirkt sein könnte, ist hier undenkbar.
In der griechischen Gedankenwelt scheint sich im Begriff der Tyche[6] eine Annäherung von insignifikantem Zufall ‑ Tyche bedeutet zunächst schlicht „Geschehen“ ‑ und signifikantem Zufall vollzogen zu haben[7], möglicherweise dadurch bedingt bzw. unterstützt, dass Tyche, die unbekannte Ursache des Ereignisses an sich göttlich personifiziert wurde. Nun gewinnt das zufällige Phänomen einen Eigenwert, da es nur noch als von der Tyche, dem „Zufall“ selbst zugedacht verstanden wird. Dies ermöglicht eine Zurückhaltung in der Ausdeutung auch sehr bedeutsamer Ereignisse.[8]
Die Zahl der griechischen Gottheiten, die (jedenfalls phasenweise) keine bestimmten Zwecke verfolgen oder Werte repräsentieren, ist beachtlich: z. B. Tyche, Nemesis, Moira, Ananke, Erinys[9], Daimon, Zeus[10]. So ist für Aristoteles auch nicht mehr das anerkannt sehr verschiedene Ausmaß an Glück und Unglück (ευτυχíα – δυστυχíα)[11] von Bedeutung, das die Tyche bringen kann, sondern ihre Verschiedenheit von den wesentlichen und zweckhaften Vorgängen in der Natur[12], von denen keinesfalls gesagt werden kann, sie geschähen durch Zufall.
Aristoteles kann signifikanten Zufall anerkennen[13], indem er ihn ontologisch geringschätzt. Bei Aristoteles zeichnet sich ein Verständnis des Zufalls als Überschneidung zweier unabhängiger Kausalketten[14] ab. Es erscheint plausibel, diesen Begriff des Zufalls mit zu den griechischen Errungenschaften einer „kognitiven Revolution“ zu rechnen, die sich möglicherweise im Gefolge der von links nach rechts geschriebenen vokalischen Alphabetschrift vollziehen konnten.[15] Diese Schrift bot erstmals eine vollständige phonetische Repräsentation der Sprache und forderte und förderte damit das analytische Nachvollziehen einer linearen Reihenbildung.[16] Die Verarbeitung geschieht primär in der linken Gehirnhemisphäre. Beim Erlernen anderer Schriftzeichen und ‑symbole spielt das ganzheitliche synthetische Erfassen, das vorwiegend die rechte Gehirnhälfte leistet, eine größere Rolle. Das scheint auch noch für die von rechts nach links geschriebene unvokalisierte Schrift zu gelten.
[1] Mit der Entwicklung der Fähigkeit, aus Erfahrung zu lernen, wurde es zu einem eminenten Vorteil, zufällige Koinzidenzen unterscheiden zu können von solchen, die sich wiederholen und damit sinnvollerweise auch erwartet werden sollten. „Denn keine Kreatur könnte überleben, würde sie die Zufälle für vorhersehbar, das Notwendige aber für unvorhersehbar halten.“ So Riedl, a.a.O. S.40.
[2] Jean Piaget: Die Entwicklung des Erkennens II. Das physikalische Denken; Gesammelte Werke, Studienausgabe Bd.9, Stuttgart 1975, S.164.
[3] Lucien Lévy-Bruhl: Die geistige Welt der Primitiven, München 1927.
[4] Christopher Robert Hallpike: Die Grundlagen des primitiven Denkens, Stuttgart 1986 S.527.
[5] Hallpike, a.a.O. S.533.
[6] Vgl. über die Rolle der Tyche im Epos, in der Lyrik, im Drama, bei den Rednern, Geschichtsschreibern, in der Philosophie, im Roman und Märchen der Antike den Artikel Tyche von Gertrud Herzog-Hauser (1948) in Paulys Real-Encyklopädie 2.Reihe, 14.Halbbd.1948 Sp.1643–1689.
[7] Analog vollzieht sich dies auch bei contingere, das zunächst schlicht geschehen meinte.
[8] Vgl. Eric R. Dodds: The Greeks and the Irrational, Berkeley – Los Angeles – London 1951. S.242: „in default of any positive object, the sentiment of dependence attaches itself to the purely negative idea of the unexplained and unpredictable, which is Tyche.“ Dodds scheint diese Aussage aber im Blick auf die Ausbreitung des Kultes der Tyche in der frühen hellenistischen Zeit zu treffen.
[9] Nach Dodds, a.a.O. S.7f hatten die Erinyen ursprünglich keineswegs eine Rachefunktion, sondern eine Dienstfunktion für Moira.
[10] Zeus repräsentiert oft nicht einen individuellen Gott, sondern „a generalised divine will“, so Dodds, a.a.O. S.23 Anm.66. Eine ähnliche Entwicklung ist in der römischen Religion zu beobachten, wo Fortuna die Symbole, Funktionen und die Göttlichkeit selbst von den früheren römischen Göttern übernimmt, so Jerold C. Frakes: The Fate of Fortune in the Early Middle Ages. The Boethian Tradition, (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters, hg.v. Albert Zimmermann Bd.23) Leiden – New York 1988, S.17.
[11] Aristoteles: Metaphysik XI,8 1065b 1.
[12] Aristoteles: Physik II,6–8 197a 36 – 199a 32.
[13] Aristoteles unterscheidet, a.O. II,6 197a 36ff, begrifflich zwischen dem Ungefähr (αυτóματον), das keine Relevanz für menschliche Handlungen hat, und der Tyche, die im Bereich beabsichtigter Handlungen eintritt. Diese Unterscheidung hält noch Boethius fest: casus und fortuna (im Blick auf den Menschen): In top. Cic. comm. V (PL 64, 1152C‑D).
[14] Vgl. die Unterscheidung von causa per se und causa per accidens bei Aristoteles: Physik II,5 196b 27–29. Vgl. besonders: De divinatione per somnum, Werke Bd.I S.462b Z.25ff. Prägnant formuliert dann Boethius, Consolatio philosophiae V,1,14 (CSEL 67, 108 = CC 94, 90 = PL 63, 832A =CC 94?): „das unvorhergesehene, unerwartete Zusammentreffen von Ursachen erscheint als Zufall“ (quarum inprovisus inopinatusque concursus casum videtur operatus). Vgl. zu Boethius ausführlich Frakes, a.a.O. bes. S.58f. Ähnlich Calcidius: Commentarius in Timaeum 159 (ed. Waszink S.193): „Quare sic etiam fortuna recte definiri potest: Fortuna est concursus simul cadentium causarum duarum originem ex proposito trahentium, ex quo concursu prouenit aliquid praeter spem cum admiratione[…].“ Im biblischen Hebräisch deutet sich allenfalls ein Zufallsbegriff an, typischerweise ausgehend von der Wortbedeutung treffen, vgl. vor allem Kohelet 9,11: „Zeit und Zufall trifft sie alle.“ Der Zufall, der wie kein anderer alle trifft, ist für Kohelet der Tod,
[15] Vgl. den umfassenden Sammelband von de Kerckhove/Lumsden (Eds.) (1988) The Alphabet and the Brain. The Lateralization of Writing, Berlin 1988; darin besonders John R. Skoyles (1988).Right Hemisphere Literacy in the Ancient World, S.362–380. Vgl. auch ders. in Nature 309 (1984) S.409.
[16] Die Tatsache, dass es kaum Ausnahmen von der Regel gibt, dass konsonantische Alphabete von rechts nach links, alphabetische aber von links nach rechts geschrieben werden, legen neurobiologische statt kultureller Erklärungsversuche nahe. So liegt das zu Lesende bei der Konsonantenschrift, die wegen der kontextuell intuitiv zu ergänzenden Vokale eine gute Mustererkennung voraussetzt, im linken Gesichtsfeld und wird folglich zunächst in der rechten Gehirnhälfte verarbeitet, die eben dafür besonders geeignet ist; vgl. de Kerckhove (1988) S.402 und 409.