Vgl. auch den Vortrag „Zur Einschätzung der Diskussion um Sterbewünsche“
am Studientag der Tübinger Hospizdienste e.V. 2014
Assistierter Suizid und aktive Sterbehilfe
Aktive Sterbehilfe und damit Tötung auf Verlangen ist zur Zeit nur in den Niederlanden, Belgien und Luxemburg und durch einen Parlamentsbeschluss im Dezember 2020 nun auch in Spanien unter bestimmten Bedingungen erlaubt. Die Tatherrschaft hat hier der Arzt, während bei der Beihilfe zum Suizid diese beim Sterbewilligen liegt, so sehr er auch im Vorfeld (Bei-)Hilfe erfahren hat.
In den Niederlanden wurden im Jahr 2020 6705 Fälle von Sterbehilfe gemeldet. Das sind 4,12% aller Todesfälle (168.566).
Wie groß schätzen Sie die Anteile von diesen regulär gemeldeten Fällen
- einerseits der Beihilfe zum Suizid, die jetzt in Deutschland zur Diskussion steht,
- andererseits der Tötung auf Verlangen?
50 : 50 ?
Nein, 96% wählen die aktive Sterbehilfe durch einen Arzt und nur 4% wählen die Hilfe beim Suizid. (6 Jahre zuvor waren es gut 6% gewesen.)
Vgl. den Jahresbericht von 2020 der Regionalen Kontrollkommissionen für Sterbehilfe
Ein bemerkenswerter Befund.
Er scheint zu zeigen, dass – so viel auch von Autonomie im Kontext der aktuellen Diskussion um die Beihilfe zum Suizid die Rede ist – Menschen sich eher scheuen, von eigener Hand zu sterben; dass sie lieber durch die Gabe einer Infusion oder Spritze durch den Arzt sterben, jedenfalls dort, wo eine liberale Tradition das möglich macht.
Können wir daraus folgern, dass die Eröffnung der Möglichkeit zum assistierten Suizid nur ein erster Schritt sein wird, da viele Menschen letztlich die aktive Sterbehilfe „bevorzugen“ und einfordern werden?
In Oregon, einem einwohnermäßig kleinen Bundesstaat der USA, besteht die Möglichkeit des assistierten Suizids (aber nicht der aktive Sterbehilfe) seit 1997 unter klaren Bedingungen. Die Zahl der assistierten Suizide stieg dort von zunächst 0,1% aller Todesfälle auf (2014) 0,3%. Meiner Kenntnis nach gibt es dort keine Bestrebungen, auch die aktive Sterbehilfe zuzulassen. In Deutschland war die Zahl der Personen, die von Dignitas in der Schweiz Hilfe beim Suizid in Anspruch nahmen über Jahre hinweg im zweistelligen Bereich. Dazu gab es vor 2015 durch andere Organisationen geschätzt weitere 150 assistierte Suizide.
Angesichts der relativ geringen Zahlen, sprach der Mediziner Gian Domenico Borasio im Blick auf die Beihilfe zum Suizid überraschenderweise von einem „marginalen Phänomen“; gleichwohl hat Borasio sich 2014 enorme Mühe gemacht, einen gesetzlichen Regelungsvorschlag mit auszuarbeiten. Er werde gebraucht, „um den Blick auf wichtigere Probleme am Lebensende frei zu machen“ (selbst bestimmt sterben, München: Verlag C.H. Beck 2014, Kap.7).
Passive Sterbehilfe
Was sind die wichtigeren Probleme am Lebensende? Natürlich ist hier an die 20%, also 100 x mehr Todesfälle zu denken, bei denen eine andere Form von Sterbehilfe von Bedeutung ist, nämlich die passive Sterbehilfe, vielleicht besser als „Sterben lassen“ zu bezeichnen. Dies bedeutet den Verzicht auf eine medizinische Maßnahme oder auch den Abbruch einer medizinischen Maßnahme. Natürlich ist es psychologisch leichter, eine Beatmung gar nicht erst zu beginnen als sie zu beenden; und doch ist beides erlaubt, wenn es nach dem Willen des Patienten erfolgt. In ca. 40% findet eine Abwägung statt, bei der letztlich der Patientenwille, sei er nun mündlich, schriftlich oder mutmaßlich entscheidend ist (hier ist auch die indirekte Sterbehilfe mit einbezogen, s.u.).
Das Gesetz von 2009 zur Patientenverfügung und zum Patientenwillen war also der große Schritt, die entscheidende Neuregelung. Menschen können seitdem ihren Willen in einer Verfügung bekunden und haben die Beruhigung, dass ihr Wille (zunehmend) auch beachtet wird. Ich habe in vielen Veranstaltungen zum Thema Patientenverfügung erlebt, wie wichtig dies Menschen aus ihren Erfahrungen mit dem Sterben von nahen Angehörigen ist: die medizinischen Therapien am Lebensende begrenzen zu können.