Bei der Zählung der Gartenvögel des NABU im Mai 2021 rückte der Distelfink bzw. Stieglitz in der Häufigkeitsliste auf Platz 16 vor. Auch ich habe ihn noch nie so häufig gesehen und fotografieren können. Die meisten Menschen werden wohl höchstens ein Dutzend Vögel erkennen können. Und wie viele erkennen wir am Gesang?
Es wird gesagt: Man schützt nur, was man kennt. Jedenfalls ist die Motivation sehr viel stärker, wenn wir wissen, was zu verschwinden droht.
Erstaunlich, wie viele Schriftsteller sich ornithologisch betätigen und natürlich auch für Vogel- und Naturschutz eintreten: Jonathan Franzen berichtet in seinen Essays Weiter weg u.a. über die Vogeljagd im Mittelmeerraum, aber von (Naturzerstörung und) Vogelbeobachtung handelt auch sein großartiger Roman Freiheit. Aus Richard Powers Das Echo der Zeit werden die Leser für immer die Kranichschwärme in Erinnerung behalten. Vögel durchziehen in ihrer Vielfalt und Freiheit und Bedrohtheit Colum McCanns unglaubliches Werk Apeirogon, das vom Israel-Palästina-Konflikt handelt. Und bei Juli Zeh spielt der Kampfläufer eine prominente Rolle, sowohl in „Unter Leuten“ als auch in „Über Menschen“ (vgl. S. 371).
Vom Distelfink handelt der Bestseller von Donna Tartt, genauer von den fiktiven Geschehnissen rund um das Bild „Der Distelfink“ von Carel Fabricius von 1654. Dieser Distelfink, der keineswegs naturalistisch dargestellt ist, scheint gleichwohl den Betrachter anzuschauen. Tartt schenkt uns erst auf den Seiten 768f und 1014f schöne Beschreibungen (der ganze Roman lohnt gelesen zu werden), etwa:
„Da ist nur ein winziger Herzschlag, die Einsamkeit, die helle, sonnenbeschienene Wand und ein Gefühl der Ausweglosigkeit. Zeit die sich nicht bewegt, Zeit, die nicht Zeit genannt werden sollte. Und eingesperrt im Herzen des Lichts – der kleine Gefangene, reglos.“ (S.1015 in der Goldmann Taschenbuchausgabe von 2015)
Lange vor Tartt hat Laurence Sterne in seiner Empfindsamen Reise (A Sentimental Journey von 1768) beschrieben, wie ein gefangene Star den Ich-Erzähler zutiefst anrührt. Der Star sagt immer, wenn er an ihm vorbei kommt: „I can’t get out – I can’t get out“. Er versucht vergeblich, den Star aus dem Käfig zu befreien.
„Ich schwör’s, nie wurde mein Mitgefühl empfindlicher geweckt; noch entsinne ich mich eines Vorfalls in meinem Dasein, wo mir die versprengten Lebensgeister, welche meine Vernunft genasführt hatten, so jäh zurückgerufen worden wären.“ (Eine empfindsame Reise, Berlin: Galiani, 2018, S.118)
Auf seinem Zimmer versucht er sich in das Schicksal der Sklaven hineinzuversetzen, merkt aber, dass ihm das nicht gelingt und malt sich in allen Einzelheiten das Leiden eines einzelnen Gefangenen aus: „ich konnte das Gemälde der Gefangenschaft, welches meine Phantasie entworfen, nicht ertragen …“ (S.121).