Entlang den Gräben
Navid Kermani ist bekannt als wunderbarer Schriftsteller, als gefragter Orientalist, als kritischer Publizist, so dass sich der Bundestag 2014 keinen geeigneteren Redner zur Feierstunde 65 Jahre Grundgesetz hat wünschen und zumuten können, weil Kermani sowohl würdigend als auch kritisch-scharf zu sprechen vermag.
Würdigend, wohlwollend und kritisch zugleich befragt Navid Kermani auch die vielen Menschen, denen er auf seinen Reiseabschnitten durch das östliche Europa begegnet.
Im Auftrag des Spiegels bereiste er in Schwerin beginnend mit Unterbrechungen 54 Tage lang die Länder des östlichen Europa bis in den Iran hinein und die ihm vertraute Heimatstadt seiner Eltern: Isfahan. Er selbst wurde in Siegen geboren und besitzt die deutsche und iranische Staatsbürgerschaft.
Die Reise beginnt in Schwerin mit der Überraschung einer recht gelingenden Integration der syrischen Flüchtlinge. Entlang den Gräben, den Gräben der Grenzen, den Gräben zwischen den Völkern und Volksgruppen, aber auch sehr wörtlich den Gräben, die die Ermordeten bergen, die Opfer der Zaren, der Kolonialmächte, Stalins, Hitlers und neuerer Kämpfe.
Kein bedeutender Konflikt in den bereisten Ländern wird übergangen (nur ein paar Stichwörter: Ostukraine, Krim, russische Republik Tschetschenien, Aserbeidschan und Armenien) und oft auch anhand von literarischen Quellen erörtert. Kermani befragt Museumsleiterinnen, Verwalter von Gedenkstätten, Schriftstellerinnen, Lehrerinnen, kauzige Bischöfen und Imame und immer wieder Leute von der Straße, Verkäuferinnen, und Angehörige von Minderheiten. Er versucht zu erheben, wie der Opfer gedacht wird, wie Feindschaft bearbeitet wurde und wie heute die Chancen für Toleranz und Versöhnung stehen.
Das ist erhellend und berührend: Ich staune über die Vielfalt der Völkerschaften und ihrer Schicksale. Kermani fasst es selbst treffend zusammen: „So viele Kriege und so wenige Sieger, so kleine Länder und so reiche Kulturen, der Alltag mühselig und die Feste um so länger.“ (S.263) Oder auch: „Es gibt keine Monokulturen, nirgends. Es gibt nur friedliche und nicht friedliche Wege zusammenzuleben, sofern man den anderen nicht auszulöschen bereit ist.“ (S.170) Typisch ist der Kaukasus, in dem mehr als fünfzig Völker leben auf einem Gebiet kaum größer als die Bundesrepublik. Er hat jede Form von Feindseligkeit erlebt. „Aber zugleich hat Tiflis, hat der Kaukasus insgesamt wie kaum eine andere Region auch das Zusammenleben der Völker gelernt. So wie neben vielen Kirchen eine Moschee steht, wird auch in der Moschee selbst kein Unterschied gemacht zwischen den Gläubigen oder zwischen Mann und Frau.“ (S.223)
Die Reise endet in Isfahan, der Heimatstadt seiner Eltern. Am bittersten ist für ihn dort, das vertrocknete Flussbett des Zayandehrud zu sehen. Ich lese es als Mahnung, dass nun neben der Mitmenschlichkeit auch die Mitgeschöpflichkeit unverzichtbar geworden ist.
Navid Kermani: Entlang den Gräben. Eine Reise durch das östliche Europa bis nach Isfahan, München 2018