Erklä­ren Sie sich!

Alle schei­nen sich einig zu sein: Organ­spen­de ret­tet Leben. Zu weni­ge haben einen Organ­spen­de­aus­weis. Des­halb ster­ben täg­lich Men­schen auf der War­te­lis­te. Also wur­de ein Gesetz ver­ab­schie­det, nach dem die Men­schen regel­mä­ßig auf­ge­for­dert wer­den, sich zur Organ­spen­de zu erklären.

Bei die­ser Sicht wird eini­ges außer Acht gelassen:

  1. Schon längst und auch künf­tig kom­men nicht nur Men­schen für eine Organ­spen­de in Betracht, die einen Organ­spen­de­aus­weis aus­ge­füllt haben. Auch eine münd­li­che Äuße­rung, die die Ange­hö­ri­gen bezeu­gen, ist dafür hin­rei­chend, ja, es genügt der mut­maß­li­che Wil­le, und nicht nur das: wenn sich auch die­ser nicht eru­ie­ren lässt, kön­nen die Ange­hö­ri­gen ersatz­wei­se zustim­men. Des­halb wer­den auch nicht nur 10% oder 18% der hirn­to­ten Men­schen Organ­spen­der (näm­lich die, die einen Organ­spen­de­aus­weis aus­ge­füllt haben), son­dern mehr als 60%! Wann aber wer­den sich 60% schrift­lich posi­tiv zur Organ­spen­de erklärt haben?
  2. Selbst in Län­dern, in denen die Wider­spruchs­lö­sung gilt (z.B. Öster­reich und Spa­ni­en), nach der alle Men­schen grund­sätz­lich als Organ­spen­der infra­ge kom­men, wenn sie dem nicht klar wider­spro­chen haben – selbst in die­sen Län­dern wer­den die Ange­hö­ri­gen um ihr Zustim­mung gebe­ten. Aus gutem Grund. Mascha Kalé­ko (Ver­se für Zeit­ge­nos­sen) hat tref­fend formuliert:
    „Bedenkt: den eig­nen Tod, den stirbt man nur, / Doch mit dem Tod der andern muss man leben.“
    Die Ange­hö­ri­gen ste­hen auf der Inten­siv­sta­ti­on vor der Auf­ga­be zu begrei­fen: Eben noch lie­fen die Appa­ra­te mit dem Ziel der Lebens­ret­tung, jetzt, weil eine Organ­spen­de eine Opti­on gewor­den ist. Am Aus­se­hen des Pati­en­ten hat sich nichts ver­än­dert. Im Fal­le einer Organ­spen­de kön­nen sie am Ster­ben des gan­zen Men­schen nicht teil­neh­men. Zwar muss ihnen (so sieht es das Gesetz vor) auch nach der Organ­spen­de noch ein Abschied von dem Ver­stor­be­nen, der Ver­stor­be­nen mög­lich sein, (zu) oft aber wird davon abge­ra­ten. Also soll­te doch denen, die in ihrer begin­nen­den Trau­er­ar­beit beson­ders betrof­fen sind, eine Mit­ent­schei­dung zuge­bil­ligt wer­den. Ja, es kann eine Hil­fe für die Ange­hö­ri­gen sein, wenn sie wis­sen, wie er, wie sie sich dazu erklärt hat. Nein, die vor­lie­gen­de Erklä­rung kann und darf es nicht „ein­fach“ und „schnell“ machen. Die Sen­si­bi­li­tät gegen­über den Ange­hö­ri­gen wür­de lei­den, wenn sie ihr Mit­spra­che­recht, das ihnen bis­lang nahe­zu über­all de fac­to zuge­bil­ligt wird, verlören.
  3. Vie­le Men­schen emp­fin­den, dass die effek­ti­ve Hil­fe, die durch die Organ­spen­de mög­lich ist, ein über­ra­gen­der Wert ist. Ande­re Men­schen emp­fin­den stär­ker den Tabu­bruch und die Gewalt­sam­keit, einem durch­blu­te­ten Leib Orga­ne zu ent­neh­men, um sie einem ande­ren ein­zu­set­zen. Der Phi­lo­soph Hans Jonas formulierte:
    „Denn nie­mand hat ein Recht auf eines ande­ren Leib. – Um noch in einem ande­ren, reli­giö­sen Geist zu spre­chen: Das Ver­schei­den eines Men­schen soll­te von Pie­tät umhegt und vor Aus­beu­tung geschützt sein.“ 
    Für Men­schen ver­schie­de­ner Kul­tu­ren kann das Gewicht der an sich uni­ver­sa­len mora­li­schen Intui­tio­nen unter­schied­lich sein. Mit­ge­fühl und Hilfs­be­reit­schaft sind für vie­le Men­schen die zen­tra­len Wer­te, die sie die Organ­spen­de befür­wor­ten lässt. Aspek­te von Hei­lig­keit und Unan­tast­bar­keit spie­len in den west­li­chen libe­ra­len Gesell­schaf­ten dage­gen eine unter­ge­ord­ne­te Rol­le, wenn sie auch kei­nes­wegs ver­schwun­den sind. Wir schul­den Men­schen Respekt, deren mora­li­sche Intui­ti­on der Inte­gri­tät des Lei­bes eines Hirn­to­ten einen hohen Wert bei­misst. Dass es eine Tabu­ver­let­zung ist, einen Men­schen nicht unan­ge­tas­tet zu Ende ster­ben zu las­sen, wer­den wohl auch Organ­trans­plan­teu­re emp­fin­den. Gewiss, sie stüt­zen sich auf die Hirntoddefinition.
  4. Intel­lek­tu­el­le Red­lich­keit erfor­dert es, klar im Blick zu behal­ten, dass es sich bei der Hirn­tod­de­fi­ni­ti­on um eine Defi­ni­ti­on han­delt, die in Kon­kur­renz zu ande­ren mög­li­chen Defi­ni­tio­nen steht, und die nur dadurch gegen­ein­an­der abge­wo­gen wer­den kön­nen, dass sie mehr oder weni­ger klar, mehr oder weni­ger plau­si­bel oder akzep­ta­bel erschei­nen. Unplau­si­bel und nicht akzep­ta­bel erscheint zum Bei­spiel eine Defi­ni­ti­on des Todes, die nur ein Abge­stor­ben­sein des Hirn­stamms vor­aus­setzt, wie es in Groß­bri­tan­ni­en der Fall ist (brain stem death), wo es des­halb schon vor­ge­kom­men sein soll, dass Pati­en­ten mit einem Locked-in-Syn­drom als „tot“ erklärt wur­den. Die in Deutsch­land maß­geb­li­che Defi­ni­ti­on setzt hin­ge­gen vor­aus, dass der „end­gül­ti­ge, nicht beheb­ba­re Aus­fall der Gesamt­funk­ti­on des Groß­hirns, des Klein­hirns und des Stamm­hirns nach Ver­fah­rens­re­geln, die dem Stand der Erkennt­nis­se ent­spre­chen, fest­ge­stellt ist“ (Trans­plan­ta­ti­ons­ge­setz § 3). Die­se Defi­ni­ti­on hiel­ten die Deut­sche Bischofs­kon­fe­renz und der Rat der Evan­ge­li­schen Kir­che in Deutsch­land offen­bar für plau­si­bel wenn sie schon 1990 formulierten:
    „Der unter allen Lebe­we­sen ein­zig­ar­ti­ge mensch­li­che Geist ist kör­per­lich aus­schließ­lich an das Gehirn gebun­den.“ Und: „Daß das irdi­sche Leben eines Men­schen unum­kehr­bar zu Ende ist, wird mit der Fest­stel­lung des Hirn­to­des zwei­fels­frei erwiesen.“

Wegen der genann­ten Aspek­te ist es jeden­falls völ­lig ver­fehlt, einen mora­li­schen Druck aus­zu­üben, der Men­schen in eine bestimm­te Rich­tung drän­gen will. Alles jedoch, was zu einer bes­se­ren Infor­ma­ti­on bei­trägt und auch dazu, dass Men­schen mehr mit ihren Ange­hö­ri­gen über eine mög­li­che Organ­spen­de­be­reit­schaft oder auch eine Pati­en­ten­ver­fü­gung spre­chen, ist hilf­reich und wertvoll.