Wir alle hoffen vermutlich, nun endlich herauskommen aus einer Zeit, in der wir – vorher kaum für möglich gehaltene – Einschränkungen unserer freien Lebensgestaltung hinnehmen, ertragen, tolerieren müssen. Es war eine Zeit, in der auch unsere Toleranz gegenüber Bekannten, Freund*innen, die ganz andere Auffassungen von der COVID-Krise hatten, auf die Probe gestellt wurde.
Das lateinische tolerantia meint ein solches Ertragen. Von Cicero wird es zuerst gebraucht und ist stoisch geprägt. Tolerantia bedeutet das geduldige Ertragen von physischen und psychischen Übeln und Beschwernissen wie Unglück oder Ungerechtigkeit.[1]
Und ausführlich wird diese stoische Tugend bei Seneca erörtert, der vom tapferen Ertragen (fortis tolerantia) spricht, die Toleranz also der Kardinaltugend der Tapferkeit zurechnet – neben Leidensfähigkeit (patientia) und Ausharren (perpessio).[2]
Es ist nicht häufig, dass ein Begriff sein Bedeutungsspektrum so wenig gewandelt hat, was natürlich nicht zuletzt an der Universalität der Herausforderung, Widrigkeiten zu ertragen, liegt. Während es allerdings bei Cicero um das tapfere Ertragen von Schmerz und Unglück geht, steht heute das Ertragen anderer Sitten, anderer (sexueller, religiöser etc.) Orientierungen im Vordergrund und gewinnt politische Relevanz: Tolerieren wir die Vollverschleierung? Oder den einfachen Schleier? Bei einer Erzieherin? Bei einer Lehrerin? „Wir“ meint jeden persönlich, aber auch uns als Bürger*innen einer Demokratie, die diesbezüglich Gesetze beschließt.
Historischer Rückblick
Das römische Reich war einigermaßen tolerant und erlaubte z.B. die jüdische Religionsausübung als „religio licita“; Juden mussten damit nicht am Staatskult teilnehmen. Davon profitierten auch die Christen, solange sie als jüdische Sekte galten. Christenverfolgungen gab es insbesondere dann, wenn ein Kaiser von den Christen die Teilnahme am Staats- bzw. Kaiserkult forderte, wie das insbesondere Decius 249–251 tat. Das römische Reich war tolerant gegenüber einer Vielzahl von Kulten, forderte aber die Teilnahme am Staatskult.[3]
Fast 300 Jahre lebten Christen latent in der Gefahr einer drohenden Verfolgung. Interessante Überlegungen stellten sie in dieser Zeit an.
Tertullian (gest. nach 220) etwa argumentiert:
»Fürwahr, bedenkt, ob nicht auch dies auf die Anschuldigung der Gottlosigkeit hinausläuft: die Freiheit der Gottesverehrung wegzunehmen und die Wahl der Gottheit zu untersagen, so dass ich nicht verehren darf, wen ich will, sondern gezwungen werde, einen zu verehren, den ich nicht verehren will. Niemand wird wohl von einem Unwilligen verehrt werden wollen, nicht einmal ein Mensch.«[4] Und weiter: »Jedoch ist es ein Menschenrecht und ein Naturrecht, das zu verehren, was man für gut hält, und die Gottesverehrung des einen bringt dem andern weder Schaden noch Nutzen. Es liegt nicht im Wesen der Gottesverehrung, zur Gottesverehrung zu zwingen, da sie von freien Stücken unternommen werden muss und nicht aus Zwang; denn auch Opfer werden nur von einer willigen Gesinnung gefordert. Wenn ihr uns also auch wirklich zum Opfern treiben wollt, so würdet ihr euren Göttern keinen Dienst damit erweisen.«[5]
Wenn man sich die Intoleranzgeschichte des Christentums ab 380 vergegenwärtigt, dann steht man fassungslos vor solchen monumentalen Sätzen, Religionsfreiheit als Menschenrecht und Naturrecht.
Im Jahr 313 werden die Christen von der latenten Bedrohung erlöst durch die Vereinbarung die der Herrscher des Westens des römischen Reiches, Konstantin, mit dem Herrscher im Osten, Licinius, trifft, auch fälschlich Mailänder Edikt genannt.
»Als wir, ich, Constantinus Augustus, wie auch ich, Licinius Augustus, uns glücklich in Mailand eingefunden hatten, […] glaubten wir, […] wir sollten allen, den Christen wie allen übrigen, die Freiheit und die Möglichkeit geben, derjenigen Religion zu folgen, die ein jeder wünscht, auf daß, was an Göttlichem auf himmlischem Sitze thront, uns und allen Reichsangehörigen gnädig gewogen sein möge«[6].
Konstantin hat hier mit Licinius weitgehende Religionsfreiheit angeordnet. Es war nicht Konstantin, der das Christentum zur Staatsreligion erhob. Das geschah durch Theodosius I. im Jahr 380, nachdem es unter Julian 361–363 kurzzeitig noch einmal eine Restauration des alten römischen Kultes gegeben hatte.
Der Reformator Jan Hus wurde 1415 auf dem Konzil in Konstanz verbrannt. Erinnerung an Jan Hus in einer Unterführung in Konstanz.
Nun entsteht also eine christliche Mehrheitsgesellschaft, wir können auch sagen: Dominanzkultur. Sowohl Augustin als auch Thomas von Aquin lehnen eine Zwangsbekehrung der Heiden ab. Augustin hat gegenüber der sogenannten Sekte der Donatisten jedoch sehr wohl Zwang gut geheißen.
Für Häretiker fordert dann auch Thomas von Aquin den Kirchenausschluss und die Todesstrafe.
Nach einer Theorie Augustins, mit der sich noch der Humanist Johannes Reuchlin auseinandersetzen musste, sind Juden zu tolerieren, weil sie in ihrer Verstocktheit, in der sie den Bringer des ewigen Reichs „frevelhaft töteten und verstießen“ bestraft worden seien und nun zerstreut leben müssten, aber durch ihre „Schriften das Zeugnis liefern, daß wir die Weissagungen von Christus nicht erdichtet haben“. Sie sind nach Augustin unfreiwillig Zeugen der Wahrheit des Christentums und sollen es auch bleiben.
Martin Luther trat dafür ein, Ketzer nicht mit dem Schwert, sondern mit dem Wort zu bekämpfen. Dennoch hielten er und besonders Johannes Calvin an der überlieferten Verbindung zwischen Glauben und Obrigkeitsgehorsam fest, so dass Ketzer nach wie vor wegen ihrer Eigenschaft als politische Aufrührer von der Obrigkeit verfolgt werden sollten.
Man sollte meinen, in der Zeit der Renaissance und des Humanismus hätte die Toleranz eine erste Blüte erlebt. Es war aber ein sehr zaghaftes Aufblühen und weit vom Mainstream entfernt.
Es war so ein Exot wie Sebastian Franck (1499–1542), der im konfessionellen Dogmatismus die Wurzel des Übels sah:
„Mir ist ein Papist, Lutheraner, Zwinglianer, Täufer, ja ein Türke ein guter Bruder, der mich zu gut hat und neben ihm leiden kann, ob wir gleich nit einerlei gesinnt, durchaus eben sind, bis uns Gott einmal in seiner Schul zusammen hilft und eins Sinns macht…
Auch sei keiner meines Glaubens Meister und nöt/zwinge mich nit, dass ich seines Kopfes Knecht sei, so soll er mein Nächster und mir ein lieber Bruder sein, ob er ein Jude oder Samariter wäre, will (ich) ihm Liebs und Guts tun, so viel mir möglich. Ich werfe keinen hin, der mich nicht hinwirft. Ich bin billig ein Mensch einem Menschen.“[6]
»Das schlichte Menschsein erhält nun eine eigene Würde zugesprochen.« [7]
Man kannte im Mittelalter und bis weit in die Neuzeit hinein allenfalls eine Erlaubnistoleranz (Rainer Forst). Denken wir daran, dass im Augsburger Religionsfrieden 1555 noch die Annahme vorherrschte, dass ein Gemeinwesen nur eine Konfession ertragen könne. Und selbst „cuius regio, cuius religio“ galt nur für Lutheraner und Katholiken, weder für Calvinisten noch Täufer (nach dem 30-jährigen Krieg wurden auch die Reformierten einbezogen). Nur in den Reichsstädten war eine gemischte Bevölkerung möglich.
(Fortsetzung folgt)
[1] In Ciceros Schrift Paradoxa stoicorum steht es für die den Weisen auszeichnende „Stärke im Ertragen des Schicksals“ (tolerantia fortunae), Paradoxon IV,27, Nickel, Rainer (Hg.), De legibus, Paradoxa stoicorum. Lateinisch und deutsch = Über die Gesetze, Stoische Paradoxien (Sammlung Tusculum), Darmstadt 1994, S. 221. Die Ausführungen stützen sich insgesamt weithin auf Rainer Forst, der eine umfassende geschichtliche Darstellung des Toleranzgedankens verfasst hat: Toleranz im Konflikt (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1682), 5. Aufl. 2017.
[2] Seneca: An Lucilius, Brief 67, 4–10, Ad Lucilium. Epistolae morales I‑LXIX – An Lucilius. Briefe über Ethik 1–69. Lateinisch und deutsch (Philosophische Schriften 3), Darmstadt 4. Aufl. 1995, S. 596–603.
[3] Die Teilnahme am Kult war schon unter Kaiser Trajan (98–117) der Lackmustest. Man sollte Christen nicht aufspüren und auch unbehelligt lassen, wenn sie am Kult teilnahmen, sonst aber mit dem Tode bestrafen.
[4] Tertullian, Apologetikum – Verteidigung des Christlichen Glaubens 24, Fontes Christiani Bd. 62, über. v. Tobias Georges, Freiburg 2015, S. 189.
[5] Tertullian, An Scapula 2, zit. nach Forst, a. O. S. 63.
[6] Zitiert nach Adolf Martin Ritter: Alte Kirche [Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen Band I], Neukirchen-Vluyn 1977, S. 124.
[7] Sebastian Franck: Das verbüthschiert mit siben Sigeln verschlossen Buch von 1539, zit. nach Forst S. 164 (orthographisch und sprachlich verändert).
[8] So Rainer Forst, a.O. S. 166.