Der Schriftsteller Thomas Glavinic sagte in einem Interview …:
»Ich finde es problematisch, etwa eine Mindestrentnerin in Ottakring, die im Fernsehen eingerissene Grenzzäune sieht und auf der Straße mehr und mehr Menschen, deren Herkunft sie gar nicht mehr einordnen kann, gleich als Nazi abzuqualifizieren. Die Frau hat einfach Angst, Punkt.«[1]
Der „Punkt“ irritiert mich. Denn hier beginnen ja erst die Fragen: Wie ernst muss man Angst nehmen? Oder vielleicht besser: Wie nimmt man Angst ernst?
Als der Historiker Fritz Stern im Februar 2016, „zu seinem 90. Geburtstag, wie so oft zuvor, zur Lage der Welt befragt wurde, warnte er vor einem ‚neuen Zeitalter der Angst‘. Er erkannte es im Aufstieg einer verjüngten, geradezu erfrischten Rechten in Europa, in der rasanten Drift zu autoritären Regimen, die erst Ungarn und nun Polen erlebten. Das sei ‚furchtbar‘, schon die Geschwindigkeit, mit der sich der polnische Szenenwechsel vollzogen hatte, erschreckte diesen großen Zeugen des 20. Jahrhunderts.“[2] Die verbreitete Angst löste bei Stern Sorgen aus. Während Glavinic die Angst offenbar als brutum factum anerkannt wissen will, strebt Stern eine Eingrenzung der Angst durch rationale Reflexion an.
Physiologisch gehört die Angst zu den angeborenen Grundemotionen. Mit Paul Ekman bin ich der Überzeugung, dass es eine ganze Reihe von Grundemotionen gibt. Charles Darwin hat das erste, gar nicht ausreichend zu würdigende Standardwerk zum Thema verfasst: The expression of the emotions in man and animals. Bereits 1872 im Erscheinungsjahr der englischen Ausgabe ist es von J. Victor Carus auch auf Deutsch übersetzt erschienen: Der Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren. Das 12. Kapitel handelt von Überraschung-Erstaunen-Furcht-Entsetzen. Überraschung und evtl. auch Staunen können in Furcht bzw. Angst übergehen. Darwin hat, um die Universalität des mimischen Ausdrucks zu zeigen, mit allen möglichen Forschern oder auch Missionaren auf der ganzen Welt korrespondiert.
Paul Ekman hat seit Darwin wohl am akribischsten an Emotionen und ihrem Ausdruck geforscht[3]. Er meint neben Angst/Furcht 6 weitere Grundemotionen universell nachweisen zu können, nämlich Freude, Trauer, Wut, Ekel, Verachtung und Überraschung.
Nach meiner Erinnerung hat die Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross in einem Vortrag einmal betont, es gebe keine angeborene Todesangst, angeboren sei nur Angst vor Lärm und Angst vor dem Fallen aus größerer Höhe. Stimmt das?
In der Tat können wir erschrecken, wenn plötzlich der Blitz in der Nähe krachend einschlägt. Aber selbst ein abbrechender Ast löst eine physiologische Angstreaktion aus und ähnlich ist es bei einer galoppierenden Herde von Büffeln, dem Trompeten eines Elefanten, Affengekreische oder auch Kriegsschrei, ‑geheul oder Trommellärm.
Auch die Angst vor dem Fallen dürfte universell sein, wenn sie auch durch Gewohnheit weitgehend abtrainiert werden kann. Es wurde zwar angenommen, dass Indianer, die z.T. beim Bau von Wolkenkratzern tätig waren, auf Grund einer genetischen Variation keine Höhenangst empfänden, doch hat sich m.W. diese Annahme als falsch herausgestellt. Tatsächlich waren Mohawk am Bau mehrerer Wolkenkratzer beteiligt, aber auf dem berühmten Bild Lunch atop a Skyscraper wurden auch einige Iren identifiziert.
Angst vor Schlangen, Spinnen etc.?
Angeboren ist wohl nur die Disposition, vor diesen Tieren Angst zu haben. Die natürliche Anpassung bezieht sich auf Objekte und Situationen, die eine Bedrohung für das Überleben unserer Vorfahren darstellten: Spinnen, Schlangen, Dunkelheit und so fort. Beobachtet ein Kind beispielsweise, wie sein Vater vor Angst kreischt, weil ihm eine Spinne über den Arm kriecht, kann dieses eine Erlebnis ausreichen für das Erwerben dauerhafter Furcht vor Spinnen. Sieht aber dasselbe Kind, wie seine Großmutter furchtsam auf Gewehre, Motorräder und andere potenzielle tödliche Erfindungen der Neuzeit reagiert, wird die Furcht nicht so rasch erlernt. Es ist leichter, einem Kind die Furcht vor einer Spinne als die vor einer Steckdose beizubringen. Angeboren und erlernt bilden also nicht immer einen Widerspruch.
Möglicherweise ist die Angst vor Feuer weitgehend verlorengegangen und wird stattdessen kulturell (schnell) erlernt. Menschen scheinen schon seit hunderttausenden von Jahren Feuer unter dauerhafter Kontrolle zu haben und seit noch längerer Zeit Erfahrung in der Nutzung zu besitzen.
Als man in einer Studie 394 holländische Kinder im Alter zwischen sieben und zwölf Jahren aufforderte, aus einer Liste auszuwählen, wovor sie Angst hatten, oder aber dies frei anzugeben, unterschieden sich die Ergebnisse. Hier ein Vergleich der sechs am meisten gefürchteten Situationen[4]:
Was Kinder aus einer Liste auswählen:
Bombenangriffe oder eine Invasion
Von einem Auto oder Lkw angefahren werden
Nicht atmen können
Eine schwere Krankheit bekommen
Aus großer Höhe abstürzen
Feuer oder verbrannt werden
Was Kinder frei antworten:
Spinnen
Tod
Krieg
Krankheit
Dunkelheit
Schlangen
Was also bei den „freien“ Antworten fehlt, ist die Angst vor dem Auto und vor dem Feuer. Andererseits werden Spinnen und Schlagen spontan genannt.
Während wir tatsächlich diese angeborenen Angstreaktionen bzw. Dispositionen für Angstreaktionen als biologische Gegebenheit weitgehend hinnehmen müssen und sollten, gilt dies für abgeleitete Formen, von denen wir im gesellschaftlichen und politischen Kontext sprechen, sicher nicht.
„Die Frau hat einfach Angst, Punkt.“ Müsste man nicht zutreffender sagen: Die Frau hat die Sorge, die Befürchtung, dass sie irgendwann einmal Angst haben könnte oder gewisse Nachteile in Kauf zu nehmen hätte? Es ist hier keineswegs sinnlos zu fragen, ob diese Sorge berechtigt ist. Bei wirklicher Angst würden wir nicht fragen, ob sie berechtigt ist. Wenn jemand auf der Achterbahn Angst hat, sagen wir (hoffentlich) nicht: Deine Angst ist nicht berechtigt. Hier gilt wirklich: jemand hat Angst. Punkt. Zurecht hat Martha Nussbaum von der natürlichen Angstreaktion konstatiert:
„Angst ist primitiv. […] Angst ist mit primitiven Gehirnprozessen verbunden, die alle Wirbeltiere gemeinsam haben, und menschliche Angst, die auf vielfache Weise komplexer ist, hat weiterhin teil an diesen gemeinsamen tierischen Ursprüngen.“[5]

Politik der Angst
Eva Illouz hat eindrücklich analysiert, wie autoritäre Politiker Angst schüren, um sich als Retter und Beschützer inszenieren zu können.
Angst, eingebildete wie begründete, ist ein mächtiges politisches Werkzeug. Sie sticht alle anderen Gefühle und Erwägungen aus und setzt sich über sie hinweg. Sie planiert die gesamte politische Bühne und rechtfertigt die Aussetzung von Grundrechten und bürgerlichen Freiheiten. Sie ist gleichsam der Oberbefehlshaber aller Emotionen.[6]
Anmerkungen
[1] So das Zitat von Glavinic bei Clemans Setz: Angst will überleben. In: DIE ZEIT 22/2016, 19.05.2016, S. 42.
[2] Gustav Seibt: Das einzige, was wir fürchten müssen ist die Furcht. Nachruf auf Fritz Stern. In Süddeutsche Zeitung (Feuilleton) vom 19.05.2016, „Angst als politische Macht stand am Beginn von Sterns wissenschaftlicher Laufbahn. Der Titel seines ersten Buches wurde sprichwörtlich: ‚Kulturpessimismus als politische Gefahr‘ (‚Politics of cultural despair‘, 1961 erschienen). Der schmale Band analysierte die Kulturpanik der deutschen Rechten im Kaiserreich vor 1914, das Syndrom aus Massenverachtung und Demokratiefurcht, Dekadenzhysterie und Rassenhass, das alle politischen Fehlentscheidungen bis 1945 mitbestimmte, obwohl es sich bei den Urhebern, Paul de Lagarde, Julius Langbehn und Arthur Moeller van den Bruck eher um Ästheten und Kulturkritiker als um politische Denker handelte.“
[3] Paul Ekman und Susanne Kuhlmann-Krieg: Gefühle lesen. Wie Sie Emotionen erkennen und richtig interpretieren. 1. Aufl., [Nachdr.]. München: Elsevier Spektrum Akad.-Verl. 2005.
[4] Gerd Gigerenzer: Risiko. Wie man die richtigen Entscheidungen trifft. München 2013, Kap. 4 mit Verweis auf Muris, P., H. Merckelbach, C. Meesters und P. Van Lier: What do children fear most often? Journal of Behavior Therapy and Experimental Psychiatry 28 (1997), S. 263–267.
[5] Martha Nussbaum: Die neue religiöse Intoleranz. Ein Ausweg aus der Politik der Angst, Darmstadt 2. unveränderte Aufl. 2014, S.55.
[6] Eva Illouz: Undemokratische Emotionen, Berlin 2023, S.55.