Ein kurzer Blick in die Philosophiegeschichte
Dass der aufrechte Gang den Menschen kennzeichnet und auszeichnet, ist schon sehr früh erkannt worden. Aristoteles meinte in De partibus animalium (4, 10. 686a25ff ):
„Der Mensch geht als einziges von den Lebewesen aufrecht, da seine Natur und sein Wesen göttlich sind.“
Obwohl für Aristoteles die Erde im Mittelpunkt der Welt ist, verkörpert der Mensch mit seiner Ausrichtung nach oben den Blick auf das Ganze der Welt (vgl. 2, 10. 656a3ff).
Und Seneca macht es noch anschaulicher:
Einen neugierigen Geist hat uns die Natur gegeben und, ihrer Kunst und Schönheit sich bewußt, uns als Zuschauer bei diesem großen Weltenschauspiel geschaffen […]. Damit du weißt, jene wollte genau betrachtet, nicht nur flüchtig angesehen werden, sieh, welchen Platz sie uns gegeben hat: genau in ihre Mitte hat sie uns gestellt und uns den freien Blick auf alles gegeben; und sie hat nicht nur die aufrechte Haltung dem Menschen verliehen, sondern auch: willens, möglich zu machen die Betrachtung, damit er vom Aufgang die Sterne bis zum Untergang verfolgen könne und seinen Blick herumschweifen lassen mit dem All, hat sie ihm aufrecht das Haupt gemacht und auf einem biegsamen Hals gesetzt. (De otio/Über die Muße V,3–4)[1]
Steht bei Seneca ganz die Befähigung zur Betrachtung im Vordergrund, so wird diese beim Kirchenvater Augustin moralisch ausgedeutet: Die aufrechte Haltung ist für den Menschen
„die Mahnung, nicht dem Irdischen verfallen zu sein wie das Vieh, dessen ganzes Wohlbefinden aus der Erde stammt, weshalb denn auch sämtliche Tiere mit dem Bauch erdwärts geneigt und hingestreckt sind.“ Die vernünftige Seele solle „nach dem trachten, was droben ist, nicht nach dem, was auf der Erde ist“ (Kolosserbrief 3,2)[2].
Wenn nun aber die beruhigende Zielgerichtetheit, sei es der Natur oder des göttlichen Schöpfers, als Erklärung ersetzt werden soll durch einen Evolutions- und Abstammungsprozess, der kein Ziel, sondern nur Variation und Selektion kennt, stellt sich die Frage nach den Ursachen des aufrechten Ganges neu und präziser.
In den Anfängen der Evolutionstheorie
Jean-Baptiste de Lamarck hatte noch vermutet, Bestrebungen der Lebewesen könnten sich vererben. So sah er in dem Wunsch nach einem weiten Blick die Triebkraft für den aufrechten Gang. Darwin hätte diesen Gedanken leicht in seiner Theorie so modifizieren können, dass der weite Blick auf sich anschleichende Raubtiere, äußerst vorteilhaft gewesen wäre und einen Selektionsvorteil bedeutet hätte. Diese Theorie zählt heute in der Tat mit zu den zahlreichen Theorien über den Ursprung des aufrechten Ganges. Aufrecht, nicht um in Muße die Gestirne zu betrachten, sondern um Raubtiere auszumachen für die schnelle Flucht.
In seinem neuen Buch First Steps. How upright Walking made us Human analysiert Jeremy DeSilva, ein anerkannter Experte für Fossilien (insbesondere des Gangapparates) die Frage aufs Neue umfassend. Er beschreibt schön die Problematik der genannten Theorie: Der Mensch, der aufrecht ging, um Raubtiere besser sehen zu können, hätte dies erkauft mit der drastisch reduzierten Fluchtgeschwindigkeit, die mit dem aufrechten Gang nun einmal verbunden war. Sich-aufrichten its etwas anderes als aufrecht gehen – wie das Beispiel der Grünen Meerkatze zeigt. Es ist faszinierend zu beobachten, wie strittig sowohl die Gründe für den aufrechten Gang als auch für das später einsetzende Wachstum des Gehirnvolumens nach wie vor sind.
In einem (5‑minütigen englischsprachigen) Youtube-Video werden die verschiedenen Theorien zur Entstehung des aufrechten Ganges, der Bipedalität, anschaulich erörtert.
Auch Darwins Theorie schien nur plausibel zu sein, seine Idee nämlich, dass die drei wichtigen Merkmale des Menschen zusammen entstanden:
- Aufrechter Gang
- Werkzeuggebrauch
- kleine Zähne.
Der paläanthropologische Befund
Seit dem Fund von Lucy und den Fußspuren von Laetoli ist klar, dass sich der aufrechte Gang vor der Vergrößerung des Gehirns und vor erkennbarem Werkzeuggebrauch entwickelt hat. Lucy, die 1974 von Donald Johanson entdeckt wurde, muss vor 3,18 bis 3,22 Mio. Jahren gelebt haben, nämlich nach bzw. vor Vulkanausbrüchen, deren Ascheschichten datiert werden können. Sowohl ihr Becken als auch die Lage des Hinterhauptsloches (foramen magnum) sowie viele weitere Merkmale lassen eindeutig auf einen aufrechten Gang schließen, aber ihr Gehirnvolumen war kaum größer als das eines Schimpansen. Dann kamen 1977 die Fußspuren von Laetoli hinzu, die von Mary Leakey als Hominidenspuren gedeutet wurden. Diese sind sogar 3,6 Mio. Jahre alt. Johanson nannte die neuen Hominidenspezies Australopitecus afarensis. Der aufrechte Gang war also nicht um der freiwerdenden Hände zum Werkzeuggebrauch willen entstanden und ging nicht mit der dazugehörigen größeren Hirnkapazität einher.
Fortsetzung folgt.
Hier eine anschaulicher YouTube-Beitrag über die möglichen Vorteile des aufrechten Gangs.