Was hält uns zusammen? Solidarisch unterwegs sein
Kirche um sieben in Waiblingen – hier ansehen auf Youtube 0:32–51 und 1:04–1:27
Was hält uns zusammen? Da muss ich sofort fragen:
Wer gehört zu diesem „Uns“ und „Wir“?
Die Waiblinger? Die Deutschen? Wirklich die Deutschen, alle Staatsbürger unabhängig von ihrer Herkunft und kulturellen Prägung? Oder die EU-Europäer? Oder alle Menschen aus der sogenannten westlichen Welt? Oder alle Menschen? Oder alles empfindungsfähige Lebendige?
Ich möchte die Themenstellung nicht ad absurdum führen, ich vermute, dass die Frage vage auf den „gesellschaftlichen Zusammenhalt“ zielt. Aber bei Zusammenhalt und Solidarität muss das Warnsignal aufleuchten: wen schließen wir aus, wenn wir von wir und uns sprechen? Es gibt Gesellschaften, die vorbildlich solidarisch sind, was Zusammengehörigkeitsgefühl und konkret die relative soziale Gleichheit betrifft (die dänische gehört sicher dazu), die sich aber (fast scheint es) umso vehementer abschließen z.B. gegen Flüchtende.
Wenn ich die Gemeinschaft stärke, ist diese auch verstärkt in der Versuchung, die Außenstehenden auszuschließen bzw. abzuwerten. Solidarität ist gut, aber dann und nur dann, wenn sie zu einem Bündnis gegen Gefahren und Probleme führt (nicht aber gegen Menschen) und dabei immer die ganze Menschheit und die natürlichen Lebensgrundlagen beachtet. [Vgl. den Blogbeitrag Wir – Die]
Umgekehrt ist es eine bekannte Strategie von Politikern, einen äußeren Feind zu beschwören, um im Inneren den Zusammenhalt und natürlich die Gefolgschaft zu stärken. Aber nicht nur ein äußerer Feind, jede Krise führt dazu, dass die Solidarität nach innen ansteigt und nach außen abnimmt. Genau das haben Soziologen auch für die Coronakrise in den stärksten Wirtschaftsnationen festgestellt. Sie meinen, dass in der Corona-Krise die Unterstützung für Nachbarn, Freunde und Verwandte zugenommen habe. Auch auf Bundesebene war mit 77% die Zustimmung zur Pandemiebekämpfung in Deutschland im Herbst bemerkenswert hoch (trotz aller medialen Diskussionen).
In den westlichen Industriestaaten, besonders stark in Großbritannien, habe aber die äußere Solidarität abgenommen und die Wissenschaftler äußern sich besorgt, dass dies die globale Beherrschung der Corona-Krise erschweren wird.
BILD regte sich darüber auf, dass wir uns nicht mehr von „unserem Impfstoff“ gesichert hätten, unterschlägt aber, dass in Brasilien und Argentinien 44.000 Menschen diesen Impfstoff an sich haben testen lassen, und dass ohne Pfizer die Massenproduktion nicht möglich gewesen wäre. Aber Bild weiß, was ankommt.
„Gut“ ist ja bei der Corona-Pandemie eigentlich, dass wir als Gegner das Virus selbst haben und nicht eine andere Gruppe. Ja, dass wir, wie nun oft nun gesagt wird, die Pandemie erst besiegt haben, wenn sie weltweit besiegt ist. Einerseits traurig, dass nicht das Argument reicht, dass man allen Menschen weltweit den Schutz zukommen lassen will, der uns in so kurzer Zeit zur Verfügung gestellt geworden ist (oder in Kürze zur Verfügung gestellt wird). Weltweite Solidarität. Andererseits auch klug, an das Eigeninteresse zu appellieren, damit wir echte Anstrengungen unternehmen, die Impfstoffe noch in ganz anderen Größenordnungen zu produzieren bzw. produzieren zu lassen.
Die Ethik des „Wir und Die“
Sollen wir jetzt sagen: wir machen gar keinen Unterschied zwischen denen, die uns nahe sind und anderen? Einige ethische Theorien, die sich streng rational herleiten, würden das (jedenfalls in der Theorie) behaupten. Der Utilitarismus will ja die Summe des Glücks oder Wohlbefindens aller Menschen maximieren. Da zählt jeder gleich. Und es ist interessant zu sehen, wie z.B. Utilitaristen ihre nüchterne Berechnung, dann im einzelnen relativieren und abschwächen, weil sie sonst unmenschliche Züge bekommt. Nur z.B.: Das Vererben des Vermögens an die eigenen Kinder wäre ethisch nicht in Ordnung, weil ziemlich sicher andere Kinder in der Welt mehr von diesem Erbe hätten.
Auf der anderen Seite stehen manche konservativen Positionen, die die Familie und unseren natürlichen Nepotismus (unsere Vetterles- und Bäsleswirtschaft) hochhalten und vielleicht noch einen Lokalpatriotismus oder gar Nationalismus, und die von allen, die eine universalistische Perspektive haben, schnell als „Gutmenschen“ sprechen.
Es sollte einen mittleren Weg geben, den ich jetzt nur andeuten kann: Für jede und jeden in unserem Umfeld gilt positiv, dass wir ihm und ihr in Not helfen und sie unterstützen. Und ich würde keiner ethischen Theorie folgen, die mir sagen würde, ich soll meine Kinder nicht wichtiger nehmen als Kinder irgendwo auf der Welt. Für jede und jeden in der großen weiten Welt, sollte zunächst einmal gelten, dass wir ihm und ihr zumindest nicht schaden. Und selbst das ist ja schon anspruchsvoll. Hier ist natürlich unser Konsum zu denken bzw. die politischen Entscheidungen wie ein Lieferkettengesetz. Hier könnte man von Solidarität sprechen, denen gegenüber, deren Dienstleistung wir für unser Wohlbefinden in Anspruch nehmen. Eigentlich würde hier Fairness ausreichen. Dass es eine wirtschaftliche Ungleichheit gibt, ist das eine, dass sich eine Frau aus Bangladesch für unsere Kleidung krank arbeitet, dass für unseren Soja-Futtermittelimport, Indigenen ihre Lebensgrundlage entzogen wird, Bauern durch den Pestizid-Cocktail vergiftet werden, dass Kinder im Kongo Kobalt abbauen für unsere Elektroautos aber auf einem ganz anderen Blatt, das schnellstens neu beschrieben werden muss. Fairer und solidarischer Einkauf am besten von recycelten oder recycelbaren Produkten, ist genauso ein Gebot der Stunde, wie die vom Bundesverfassungsgericht geforderten Klimaschutzmaßnahmen.
„Autonome“ Solidarität
Wenn wir unter Solidarisch-Sein zunächst Hilfsbereitschaft und Kooperationsbereitschaft verstehen, so sind wir als Menschen höchst soziale und solidarische Wesen mit allen, die wir eben zu den Unseren zählen, seien es Angehörige oder Freunde oder alle, mit denen wir in Austausch und Kommunikation stehen. In allen außer unseren westlichen Gesellschaften, ist dieses Netz ziemlich eng gewebt, ziemlich reißfest und beruht auf engen Verwandtschaftsbeziehungen und vielfältigen Beziehungen von Geben und Nehmen. Da wird nicht von Solidarität gesprochen, sondern von Zusammenarbeit, Mitarbeit, Hilfe, Nächstenliebe. Was ist der Unterschied? Der Unterschied ist, dass all das eigentlich Selbstverständlichkeiten sind, in der Antike Selbstverständlichkeiten waren und in den meisten Gesellschaften heute noch sind. Dagegen setzt der viel späte Begriff Solidarität irgendwie eine kognitive Entscheidung voraus, die nicht ganz so natürlich-selbstverständlich ist. Mit der Anonymität der Städte, mit der Schwächung der Verwandtschaftsbeziehungen und der Nachbarschaftsnetze, mit der Stärkung des Individualismus und der freien Märkte, war diese enge emotionale Verbundenheit nicht mehr selbstverständlich, aber – Sie werden es kaum glauben – andererseits ging damit einher eine Erweiterung der Kooperationsbereitschaft, des Vertrauens gegenüber Fremden und der Beachtung von allgemeinen Normen, und genau dieses Bündel von sozialen, wirtschaftlichen und emotionalen Neuerungen, wird heute als Erklärung für das (problematische) Erfolgsmodell, der westlich geprägten Gesellschaften in Anschlag gebracht.
Seit wann weiß man eigentlich, wie es fremden Menschen geht in anderen Ländern oder gar Erdteilen? Seit wann interessiert man sich dafür? Seit wann meint man auf ihr Wohlergehen einen Einfluss zu haben? Das alles kommt im 18. Jahrhundert auf. Vielleicht war die Bewegung zur Abschaffung des Sklavenhandels und der Sklaverei eine erste Chance, Solidarität mit einem persönlich fremdem Menschen zu zeigen oder zu üben. Wirkmächtig waren Abbildungen eines knienden Sklaven, um die herum geschrieben stand: „Am I not a man and Brother? Bin ich nicht ein Mensch und Bruder?“ Das war eine Solidaritätsbewegung, die allerdings noch nicht unter dem Begriff der Solidarität lief.
Erst im späten 18. Jahrhundert wird Im Französischen von solidarité gesprochen, zunächst oft im Sinne einer Solidarhaftung, und ich flechte hier schon einmal ein, dass wir ja was die Folgen des Klimawandels betrifft auch in einer Art Solidarhaftung sind und es vielleicht hilfreich ist, es so zu sehen.
Nachdem Fraternité durch die Französische Revolution zu Berühmtheit gelangte (neben liberté und egalité), verdrängte der Begriff solidarité ihn zunehmend, insbesondere im Zuge der Revolution von 1848 in Frankreich.
In Deutschland stärkten sich die Begriffe Brüderlichkeit und Solidarität gegenseitig, wobei Brüderlichkeit Übersetzung von fraternité darstellt und also kein altes deutsches Wort ist. Stephan Born, der Führer der Arbeiterverbrüderung stellt das Prinzip: Jeder für Alle! der freien Konkurrenz entgegen.[1] Wie zuvor in Frankreich begann auch in Deutschland der Begriff der Solidarität den Vorrang über den Begriff der Brüderlichkeit zu bekommen. Solidarité ist nicht so emotional und ließ sich offenbar besser anwenden auf Gemeinsamkeiten von rationalen Interessen.
Der Solidaritätsbegriff erlangte so seine Hochzeit zur Zeit der Arbeiterbewegung und der Gewerkschaften bis weit ins 20. Jahrhundert hinein.
Brecht dichtete:
»Vorwärts und nicht vergessen,
worin unsere Stärke besteht!
Beim Hungern und beim Essen,
vorwärts und nie vergessen: die Solidarität!«[2]
Die Solidarität der Menschen gründet in der Empfindung
„Ich empöre mich, also sind wir.“ (Albert Camus)[3]
Von einer solchen Wucht hat das Wort Solidarität heute nichts mehr.
Warum? Weil es keine einfache Klassengesellschaft mehr gibt, weil sich die Gesellschaft enorm ausdifferenziert hat. Weil wir heute unzählige Möglichkeiten der Solidarisierung haben.
Bevor ich zum Ende des ersten Teils komme, aber noch kurz und plakativ etwas zur Solidarität innerhalb des Staates. Was hält uns zusammen? Demokratie und Rechtstaatlichkeit. Unsere Solidarität mit diesem Staat können wir dadurch beweisen, dass wir wählen gehen, unsere Steuern bezahlen und an der Solidarität der Demokraten teilhaben, für freie Meinungsäußerung und Toleranz eintreten, immer unter Beachtung der Achtung vor der Person des Anderen. Was hält uns zusammen? Das hält uns zusammen. Vielleicht ist das gar nicht so wenig, aber mehr müssen wir zum Glück für unseren Staat nicht tun. Und unser Staat hält uns den Rücken frei für unser selbstbestimmtes Engagement.
[1] „‚Freie Konkurrenz! Jeder für sich!‘ wird hier gegenübergestellt dem Prinzip der Solidarität, der ‚Verbrüderung: Jeder für Alle!‘“ (Historisches Wörterbuch der Philosophie, Art. Solidarität, Bd.7 Sp.1006).
[2] Brecht, „Solidaritätslied“, in: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe in 30 Bänden, Bd. 14, Frankfurt am Main 1998, S.116–118.
[3] Albert Camus: Der Mensch in der Revolte, rororo tb 1216, Reinbek bei Hamburg 1969, S.21.
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