Impul­se Abitur: (Medizin-)Ethik trifft Coro­na. Vor­trag von Gün­ter Renz
Anse­hen auf YouTube.

Mit Ver­stand und Moral aus der Krise

In der Ver­un­si­che­rung, die die Coro­na-Pan­de­mie bewirkt, ist zwei­er­lei gefragt: 1. das aktu­ell ver­füg­ba­re Wis­sen (Infek­ti­ons­ri­si­ko, Krank­heits­ver­läu­fe usw.) und 2. die mora­lisch-ethi­sche Bewer­tung, aus der per­sön­li­che und poli­ti­sche Ent­schei­dun­gen her­vor­ge­hen. Das Ers­te­re bil­det dabei die Grund­la­ge, so begrenzt das Wis­sen um die Fak­ten auch ist. Denn oft ist klar, was zu tun ist, wenn klar ist, was der Fall ist.[1] Dazu ver­hel­fen mora­li­schen Intui­tio­nen. Der Sozi­al­psy­cho­lo­ge Jona­than Haidt[2] hat Emp­fangs­ka­nä­le aus­ge­macht, auf denen prak­tisch alle Men­schen mora­lisch ansprech­bar sind. Ähn­lich wie beim Geschmacks­sinn ver­fü­gen wir über mora­li­sche „Rezep­to­ren“:

Wir kön­nen Mit­ge­fühl empfinden,
wir haben ein Emp­fin­den für „Hei­li­ges“,
wir weh­ren uns gegen Unter­drü­ckung und stre­ben nach Freiheit,
wir haben ein intui­ti­ves Ver­ständ­nis für Gerech­tig­keit und Fairness,
wir sind bereit zur Kooperation.
Die Unter­schie­de in unse­rer mora­li­schen Bewer­tung lie­gen oft dar­an, dass wir die­se Aspek­te unter­schied­lich gewich­ten und das tun auch Ethiken:

So kön­nen für die eine Mit­ge­fühl zen­tral sein und die Bil­der aus Ita­li­en völ­lig aus­rei­chend, um die Ein­schrän­kung der eige­nen Frei­heit zu tole­rie­ren. Aber sie wird auch mit­füh­len mit den iso­lier­ten vul­ner­ablen Per­so­nen, Mög­lich­kei­ten des Kon­takts ein­for­dern – und sich z.B. auf eine Care-Ethik im Sin­ne Carol Gil­ligans[3] berufen.

Für einen ande­ren ist Leben an sich hei­lig und er wird folg­lich Maß­nah­men zum Lebens­er­halt befür­wor­ten. Jür­gen Haber­mas ver­steht das Grund­ge­setz bzw. die Aus­le­gung des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­rich­tes so, dass der (von der Men­schen­wür­de untrenn­ba­re) Lebens­schutz zen­tral ist, weil Leben die Vor­aus­set­zung aller ande­ren Grund­rech­te (z.B. Ver­samm­lungs- und Reli­gi­ons­frei­heit) ist.[4]

Eine Drit­te kann die Ein­schrän­kung der per­sön­li­chen Frei­heit vie­ler Men­schen als mora­lisch inak­zep­ta­bel emp­fin­den. Juli­an Nida-Rüme­lin sagt: „Auto­no­mie, Auto­no­mie, Auto­no­mie – und zwar aller, auch der Älte­ren und der Vor­er­krank­ten!“[5]

Und natür­lich stel­len wir alle Gerech­tig­keits­über­le­gun­gen an und for­dern z.B. Kom­pen­sa­tio­nen und Für­sor­ge für die, die beson­de­re Belas­tun­gen tra­gen, etwa Allein­er­zie­hen­de, durch häus­li­che Gewalt Bedroh­te und Kin­der, die nicht über die nöti­gen Lern­mit­tel ver­fü­gen. Auch die Gene­ra­tio­nen­ge­rech­tig­keit im Blick auf die beschlos­se­nen Staats­schul­den wer­den the­ma­ti­siert. Dabei ist aller­dings zu beden­ken, dass durch Erb­schaf­ten und Schen­kun­gen 400 Mrd. € jedes Jahr (!) wei­ter­ge­ge­ben wer­den[6] und damit ein Teil der kom­men­den Gene­ra­ti­on von der lan­gen Frie­dens­zeit mit wach­sen­dem Wohl­stand sehr wohl (unver­dient) pro­fi­tiert. Das Pro­blem der Gene­ra­tio­nen­ge­rech­tig­keit könn­te (wohl­ge­merkt im Blick auf die Ver­schul­dung – nicht im Blick auf die Kon­se­quen­zen der dra­ma­ti­schen Kli­ma­ver­än­de­run­gen) also durch mehr Gerech­tig­keit in der hori­zon­ta­len Ver­tei­lung ent­schei­dend ent­schärft werden.

Fol­gen­rei­che Gerech­tig­keits­über­le­gun­gen stel­len Uti­li­ta­ris­ten an, die die gewon­ne­nen Lebens­jah­re abwä­gen wol­len gegen den Preis der Lock­down-Maß­nah­men. Der Uti­li­ta­ris­mus stellt dafür einen ein­heit­li­chen Maß­stab zur Ver­fü­gung: Die Sum­me an Wohl­be­fin­den (plea­su­re) von allen (!) betrof­fe­nen Men­schen. Als Rechen­ein­heit kann der QALY (qua­li­täts­kor­ri­gier­tes Lebens­jahr) die­nen: 1 QALY ist ein Lebens­jahr bei bes­tem Wohl­be­fin­den (oder zwei Lebens­jah­re mit mitt­le­rem Wohl­erge­hen usw.). In Groß­bri­tan­ni­en darf eine medi­zi­ni­sche Inter­ven­ti­on, die einen QALY bringt, i.d.R. nicht mehr als 30.000 Pfund kos­ten.[7] Ver­ständ­lich dass dort gezö­gert wur­de, „um jeden Preis“ Leben zu ret­ten. Es gibt offen­bar den Ver­such einer QALY-Berech­nung für die Coro­na-Maß­nah­men von Prof. Ulrich Schmidt vom Kie­ler Insti­tut für Welt­wirt­schaft.[8] Sei­ne Rech­nung ist leicht nach­zu­voll­zie­hen: Einen QALY setzt er mit 158.448 Euro an, also deut­lich groß­zü­gi­ger als es im knapp bemes­se­nen Gesund­heits­etat Groß­bri­tan­ni­ens vor­ge­se­hen ist. Im Durch­schnitt 6 gewon­ne­ne Lebens­jah­re mit gut 2/3 Lebens­qua­li­tät erge­ben dann 643.000 €, die pro Men­schen­le­ben inves­tiert wer­den kön­nen. Bei wirt­schaft­li­chen Ver­lus­ten durch die Lock­down-Maß­nah­men von 225 Mrd. €, müss­ten dann 350.000 Men­schen­le­ben geret­tet wer­den, damit sich die­se „loh­nen“.

Die­se Berech­nung, oder viel­mehr Abschät­zung, ist aller­dings mit vie­len pro­ble­ma­ti­schen Annah­men ver­bun­den. Vor allem aber wird Vie­les, um nicht zu sagen das meis­te gar nicht einbezogen.

- Wie hoch sind die wirt­schaft­li­chen Kos­ten ohne Lock­down, wenn ihn ande­re Län­der nicht vollziehen?

- Wie hoch sind die Gesund­heits­kos­ten bei wei­ter­lau­fen­der Wirt­schaft und frei­em Infek­ti­ons­ge­sche­hen? Denn auch in die­sem Sze­na­rio müss­te jeder Betrof­fe­ne 158.448 € pro QALY in Anspruch neh­men können.

- Wie ist eigent­lich die Ver­min­de­rung an Lebens­qua­li­tät durch Trau­er und Ver­zweif­lung der Ange­hö­ri­gen zu ver­rech­nen? Und wür­de der Uti­li­ta­rist die Freu­de über vor­zei­ti­ge Erb­schaf­ten dage­gen rechnen?

- Und was ist mit der Erschöp­fung der Pfle­ge­kräf­te und Ärzt*innen? Was mit der mora­li­schen Zer­rüt­tung, die wir im Gefol­ge einer sol­chen Lage zu gewär­ti­gen hätten?

Müss­te ein Uti­li­ta­rist ange­sichts einer sol­chen Fol­gen­ab­schät­zun­gen nicht unbe­dingt für Schutz­maß­nah­men gegen die Aus­brei­tung eines eini­ger­ma­ßen gefähr­li­chen Virus wie es Covid-19 offen­bar ist, plädieren?

Mora­li­sche Intui­tio­nen und Über­zeu­gun­gen einer kaum durch­führ­ba­ren Rechen­ope­ra­ti­on zu opfern, scheint kaum akzep­ta­bel zu sein. [9] Aus die­sem Grund hat schon John Stuart Mill den küh­len Uti­li­ta­ris­mus von Jere­my Bent­ham ent­schei­dend abge­wan­delt und nähert sich de fac­to einer tugend­ethi­schen Posi­ti­on.[10]

Nahe­zu alle Ethi­ken kenn­zeich­net ihre For­de­rung nach Ver­all­ge­mei­ner­bar­keit. Sie gehen damit über unse­re mora­li­schen Intui­tio­nen hin­aus. Denn unse­re Fähig­keit zur Koope­ra­ti­on und Soli­da­ri­tät (die sich durch­aus beein­dru­ckend in der bis­he­ri­gen Kri­se zeig­te), hat die Schat­ten­sei­te, dass wir geneigt sind, Ande­re aus­zu­schlie­ßen[11]. Welt­wei­te Gerech­tig­keit, ein Han­deln, als hät­te man Mit­ge­fühl mit allen, auch den Flüch­ten­den oder Coro­na-Infi­zier­ten in Indi­en, zu so radi­ka­len Schlüs­sen kommt unser Ver­stand, wenn wir ihn ergän­zend zu unse­ren mora­li­schen Intui­tio­nen, zu Wor­te kom­men lassen.

[1] In Anleh­nung an eine For­mu­lie­rung von Her­mann Lüb­be, der von der sehr all­ge­mei­nen Norm eines Medi­zi­ners spricht, die dar­über mit bestimmt, „was fäl­lig ist, wenn der Fall ist, was für wahr zu hal­ten die Wis­sen­schaft gute Grün­de lie­fert“, Lüb­be 1990, S.47.

[2] Haidt 2012. Haidt nennt sechs Intui­tio­nen für fol­gen­de Gegen­satz­paa­re: care/harm, liberty/oppression, fairness/cheating, loyalty/betrayal, authority/subversion, sanctity/degradation. Authority/subversion wur­de von mir nicht auf­ge­führt. Haidts Aus­füh­run­gen über­zeu­gen hier nur mit Modi­fi­ka­tio­nen: Wie Joseph Hen­rich (Hen­rich 2015) über­zeu­gend dar­ge­legt hat, gibt es eine in der Human­evo­lu­ti­on ent­wi­ckel­te Nei­gung, Respekt vor kul­tu­rel­lem Wis­sen zu haben. Die­se sechs­te (und tat­säch­lich gera­de­zu mora­lisch gefärb­te) Intui­ti­on, soll­te sich in unse­rer wis­sen­schaft­lich gepräg­ten Kul­tur im Respekt vor wis­sen­schaft­li­cher Erkennt­nis wie­der­fin­den lassen.

[3] Gil­ligan 1998.

[4] Haber­mas und Gün­ther 2020.

[5] Nida-Rüme­lin und Schloe­mann 2020.

[6] So eine Stu­die des DIW von 2017: https://www.diw.de/sixcms/detail.php?id=560982. Davon wur­den 2018 nur 5,7 Mrd. € Erb­schafts­steu­er und 1 Mrd. Schen­kungs­steu­er fäl­lig (2017: 5 und 1,3 Mrd.), vgl. destatis.de.

[7] Dil­lon 2015.

[8] Jung 2020.

[9] Und: Wie weit in die Zukunft meint eigent­lich ein Uti­li­ta­rist rech­nen zu müs­sen bzw. zu können?

[10] Mill 2010. Vgl. S.37: „Der Uti­li­ta­ris­mus kann sein Ziel daher nur durch die all­ge­mei­ne Aus­bil­dung und Pfle­ge eines edlen Cha­rak­ters errei­chen, selbst wenn für jeden Ein­zel­nen der eige­ne Edel­mut eine Ein­bu­ße an Glück und nur jeweils der Edel­mut der ande­ren einen Vor­teil bedeutete.“

[11] Wohl die größ­te mora­li­sche Schwä­che unse­rer mora­li­schen Aus­stat­tung: Die Frem­den kön­nen inter­es­san­te Han­dels- (und auch Sexu­al­part­ner) sein, aber das Miss­trau­en und die Aggres­si­ons­be­reit­schaft sind nicht leicht zu sub­li­mie­ren und zu über­win­den. Vgl. z.B. das aus­ge­zeich­ne­te Buch von Ber­re­by: Us and them, Ber­re­by 2008.

Lite­ra­tur­ver­zeich­nis

Ber­re­by, David (2008): Us and them. The sci­ence of iden­ti­ty. Chi­ca­go: Uni­ver­si­ty of Chi­ca­go Press.

Dil­lon, Andrew (2015): Car­ry­ing NICE over the thres­hold. Hg. v. NICE. Online ver­füg­bar unter https://www.nice.org.uk/news/blog/carrying-nice-over-the-threshold, zuletzt geprüft am 23.06.2020.

Gil­ligan, Carol (1998): Die ande­re Stim­me. Lebens­kon­flik­te und Moral der Frau. Unter Mit­ar­beit von (Übers.) Bri­git­te Stein. 6. Aufl., 30. – 35. Tsd, Neu­ausg. Mün­chen: Piper (Serie Piper, 838).

Haber­mas, Jür­gen; Gün­ther, Klaus (2020): Frei­heit! Lebens­schutz! – Ein Gedan­ken­aus­tausch. In: DIE ZEIT 2020, 06.05.2020 (20). Online ver­füg­bar unter https://www.zeit.de/2020/20/grundrechte-lebensschutz-freiheit-juergen-habermas-klaus-guenther, zuletzt geprüft am 23.06.2020.

Haidt, Jona­than (2012): The righ­teous mind. Why good peo­p­le are divi­ded by poli­tics and reli­gi­on. Lon­don: Allen Lane.

Hen­rich, Joseph (2015): The secret of our suc­cess. How cul­tu­re is dri­ving human evo­lu­ti­on, dome­sti­ca­ting our spe­ci­es, and making us smar­ter. Prince­ton, Oxford: Prince­ton Uni­ver­si­ty Press.

Jung, Frank (2020): „Coro­na-Lock­down ist öko­no­mi­scher Irr­sinn“. Kie­ler Insti­tut für Welt­wirt­schaft legt Kos­ten-Nut­zen-Ana­ly­se vor – und wirft dabei mora­li­sche Fra­gen auf. In: shz 2020, 29.04.2020. Online ver­füg­bar unter https://www.shz.de/regionales/schleswig-holstein/wirtschaft/kieler-institut-fuer-weltwirtschaft-corona-lockdown-ist-oekonomischer-irrsinn-id28183722.html.

Lüb­be, Her­mann (1990): Reli­gi­on nach der Auf­klä­rung. 2. Aufl. Graz: Verl. Styria.

Mill, John Stuart (2010): Uti­li­ta­ria­nism. Der Uti­li­ta­ris­mus. Eng­lisch /Deutsch. Unter Mit­ar­beit von über­setzt und hg.v. Die­ter Birn­ba­cher. [Nach­dr.]. Stutt­gart: Reclam (Reclams Uni­ver­sal-Biblio­thek, 18461).

Nida-Rüme­lin, Juli­an; Schloe­mann, Johan (2020): „Wir müs­sen Licht am Ende des Tun­nels sehen“. Auto­no­mie! In: Süd­deut­sche Zei­tung 2020, 23.05.2020. Online ver­füg­bar unter https://www.sueddeutsche.de/kultur/coronavirus-lockerungen-risikogruppen-julian-nida-ruemelin-interview-philosophie‑1.4914827?reduced=true, zuletzt geprüft am 23.06.2020.