Eine Frage der Ehre oder Wie es zu moralischen Revolutionen kommt.
Seit Ruth Benedicts Studie The Chrysanthemum and the Sword. Patterns of Japanese Culture von 1946 hat die kulturwissenschaftliche Unterscheidung zwischen Scham- und Schuldkulturen an Bedeutung gewonnen.[1]
In unserer alles in allem noch christlich geprägten Kultur neigen wir dazu anzunehmen, ein Verhalten sei insbesondere durch das Bestreben, ein Schuldgefühl zu vermeiden, bestimmt. Entsprechend entsteht in der ökologischen Diskussion oft der Eindruck, es solle „ein schlechtes Gewissen gemacht werden“, wenn etwa auf den ökologischen Fußabdruck hingewiesen wird.
Umso erhellender erscheint mir, dass nicht nur in den so genannten Schamkulturen andere Motive wirksamer im Blick auf Verhalten und Verhaltensänderung sind, sondern auch in unserer. So unterschätzen wir systematisch den Faktor „Ehre“.
Eine Frage der Ehre heißt ein Buch von Kwame Anthony Appiah mit dem Untertitel Wie es zu moralischen Revolutionen kommt. Er analysiert drei moralische Revolutionen: die Abschaffung des Duells, die Abschaffung der transatlantischen Sklaverei und die Abschaffung des Füßebindens bei Frauen in China.
„Noch als diese Institutionen als verrückt oder schlecht verdammt wurden, konnten sie weiter blühen. Erst als man sie verachtete, gingen sie zu Grunde.“[2]
So duellierte sich noch Wellington, der Napoleon-Besieger, als das Duell bereits verboten war, gegen die Kirchenlehre verstieß, und politisch äußerst riskant war. Zudem war Wellington selbst eigentlich ein Gegner von Duellen. Dennoch sah er sich gezwungen, auf das Duell einzugehen: eine Frage der Ehre. Als sich aber die Öffentlichkeit lustig zu machen begann über ein solch ein Ehrverständnis, war das Duell schnell am Ende. Denn nun war keine Ehre mehr zu gewinnen, sondern die Preisgabe an Lächerlichkeit zu befürchten.
Ähnliches gilt für das Füßebinden in China. Markant ist eine Denkschrift an den Kaiser von Kang Youwei, in der er schreibt:
„Die Zeit ist vorbei, da wir unter einer Herrschaft vereint und von der ganzen Welt isoliert waren. Heute ist China klein und übervölkert, hat Opiumsüchtige und die Straßen sind gesäumt von Bettlern. Ausländer machen Bilder davon, lachen über uns wegen dieser Dinge und bezeichnen uns als Barbaren. Und nichts macht uns so sehr zum Gegenstand von Gespött wie das Binden der Füße. Ich, Euer ergebenster Diener, schäme mich dafür zutiefst.“[3]
Appiah bemerkt dazu:
„Wie das Duell, so kann auch die Praxis des Füßebindens nicht deshalb aufgegeben worden sein, weil man neue Argumente dagegen entdeckte. Die Argumente liegen auf der Hand und sie waren seit der Frühzeit des Goldenen Lotus weithin bekannt.“[4]
Aber zurück zu unserer westlichen Kultur und zur 3. moralischen Revolution, die Appiah analysiert: Auch der Sklavenhandel galt eigentlich schon länger als moralisch verwerflich, aber erst als zu diesem Schuldgefühl das Gefühl der Schande hinzutrat, kam es zu wirklichen Konsequenzen.
Die Quäker hatten sich schon lange gegen die Sklaverei gewandt, etwa George Fox im Jahre 1671, als er Nordamerika besuchte[5]. 1775 wurde die erste Vereinigung zur Bekämpfung der Sklaverei gegründet. Auch die Enzyklopädie der Aufklärung von Diderot und d‘Alembert bezeichnet den Sklavenhandel als schlimmes Verbrechen. Ende des 18. Jahrhunderts galt Sklaverei als verwerflich. Er wurde jedoch von einem bestimmten Zeitpunkt an als Sache der Ehre betrachtet, sich für die Abschaffung der Sklaverei zu engagieren. So kam es zu einem Wettkampf zwischen den aufstrebenden Industriestädten um die meisten Unterschriften zur Abschaffung. Es waren auch die arbeitende Klasse, die sich beteiligte:
„Die Sklaverei machte ihnen zu schaffen, weil auch sie wie die Sklaven im Schweiße ihres Angesichtes arbeiteten und produzierten.“[6]
Tausende Menschen kamen zu Versammlungen der Anti-Slavery Society 1830 und 1831. Schuld und Ehre hängen natürlich zusammen. Bischof William Wilberforce verstand das Fortbestehen der Sklaverei auch als Schuld, aber bemerkenswerterweise zunehmend als Schande für die Nation. 1833 beschloss das Parlament die Abschaffung der Sklaverei.
„Beweise, dass du menschliche Gefühle hast,
Bevor du unsere hochmütig in Frage stellst“
heißt es in William Cowpers Negro´s Complaint[7]. Es wurde damit die Frage gestellt: Wer bist du, dass du an der Sklaverei festhältst?
Auf dem Potential des fremden oder reflexiven Blicks für eine Verhaltensänderung basiert auch der Grundgedanke der von dem Sozialpsychologen Harald Welzer ins Leben gerufene Stiftung „Futur zwei“. „Veränderung geschieht nicht vor dem Hintergrund von Katastrophenszenarien; sie benötigt ein positives Ziel, und zwar eines, das mit der eigenen Identität und mit der Person, die man sein möchte, in Verbindung gebracht werden kann.“[8] Futur zwei, das meint und fragt: Wer will ich einmal gewesen sein? – wenn aus nicht zu ferner Zukunft ich selbst auf mein Leben zurückblicke, oder meine Kinder, Enkel, Nichten, Neffen – oder im Gedankenexperiment: ich selbst aus einer Zukunft, die ich de facto nicht mehr selbst erleben werde.
Kwame Anthony Appiah: Eine Frage der Ehre oder Wie es zu moralischen Revolutionen kommt, aus dem Englischen von Michael Bischoff, München: C.H.Beck, 2011.
[1] Benedict, Ruth: Chrysantheme und Schwert. Formen der japanischen Kultur, Frankfurt: Suhrkamp 2009, insbesondere S.196ff.
[2] Appiah, Kwame Anthony: Eine Frage der Ehre oder: Wie es zu moralischen Revolutionen kommt, München: C.H. Beck 2011, S.64.
[3] Zit. nach Appiah 2011, S.75.
[4] Appiah 2011, S.87.
[5] Vgl. Appiah 2011, S.124.
[6] Appiah 2011, S.150.
[7] Zit. nach Appiah 2011, S.128.
[8] Welzer, Harald und Rammler, Stephan: Der FUTURZWEI Zukunftsalmanach 2013, Bonn 2013, S.14.
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