Im Grunde gut. Eine „radikale Idee“ will Bregman in seinem Buch[1] begründen, nämlich die, dass die meisten Menschen im Grunde gut sind. Unser Vorurteil, das wir allerdings für gut begründet halten, lautet, dass Menschen egoistisch sind und zu Rücksichtslosigkeit und oft Grausamkeit neigen. Besonders im Katastrophenfall würden die Menschen nur noch an ihr eigenes Überleben denken.
Doch der Historiker Bregman zeigt auf, wie weder im England während des deutschen Bombenkrieges noch bei der Flucht aus den Twin Towers, und auch nicht bei der Flutkatastrophe in New Orleans, Rücksichtslosigkeit dominierte, sondern vielmehr Mitgefühl und Hilfsbereitschaft; denn obwohl von New Orleans zunächst Gräueltaten berichtet wurden, stellten sich diese kurz darauf als Falschmeldungen heraus, was aber dann offenbar keine Nachricht mehr wert war. Auch hier war „die überwältigende Mehrheit des spontanen Verhaltens prosozial geprägt“[2]. Bregman untermauert seine Grundthese für zahlreiche Situationen, für das Verhalten von Soldaten im Krieg, für das Stranden von Jugendlichen auf einer einsamen Insel (mit Bezug auf die Fiktion von „Herr der Fliegen“), für die Probanden von Milgram- und Gefängnisexperimenten und er nimmt auch auf den Eichmannprozess bezug.
Bregman sieht Eichmann nicht als gehorsames Rädchen in einer Mordmaschinerie. Dass er nur gehorcht habe, ist gelogen. Aber er stimmt mit der „vielschichtigen Philosophie“ von Hannah Arendt darin überein, dass der Mensch nicht gedankenlos vom Bösen mitgerissen wird, sondern vom Bösen verführt wird, das im Gewande des Guten daherkommt. Hier hätte ich mir eine genauere Analyse gewünscht, wie diese Verführbarkeit des Menschen zu Konformismus und seine Anfälligkeit für kollektiven Hass anthropologisch fundiert ist. Es geht schließlich nicht darum, wie weit der Schieberegler auf eine Position zwischen Gut und Böse gestellt ist, sondern um die moralischen Stärken und Schwächen des Menschen in ihrer Interaktion. Dafür liefert Jonathan Haidt das entscheidende Raster mit sechs moralischen Intuitionen. Ich habe seine Systematik verschiedentlich referiert und ihre Erklärungskraft an verschiedenen Themen zu erproben versucht.
Bregman arbeitet allerdings sehr gut heraus, dass (auch) die (meisten) deutschen Soldaten im Zweiten Weltkrieg „nicht für ein Tausendjähriges Reich oder für noch mehr Blut und Boden“ Kämpften. „Am Ende kämpften sie für ihre Kameraden, die sie nicht im Stich lassen wollten.“ (231)
Ein zweites Problem für das Gutsein des Menschen stellt Macht dar. Macht verführt und korrumpiert. Seitdem wir nicht mehr als Sammlerinnen und Jäger leben konnten Ressourcen und damit auch Macht angehäuft werden.
In den letzten Kapiteln schildert Bregman gelungene Beispiele für den neuen Realismus, etwa den norwegischen Strafvollzug, der bestrebt ist, das Leben im Haft dem Leben draußen so weit wie möglich anzunähern und damit effektiv auf dieses vorzubereiten. „Und das Sonderbare ist, dass diese Strategie zu funktionieren scheint.“ (358) Oder die Einführung eines beträchtlichen Bürgerhaushaltes in Porto Alegre (Brasilien), der über Mitsprache und Beteiligung zu entscheidenden Verbesserungen (Wasseranschluss, Kanalisation etc.) führte, die die Weltbank durchweg positiv evaluierte.
Bregmans Buch kann etwas sehr Besonderes erreichen: dass man nämlich die Menschen nach der Lektüre mit anderen Augen sieht. Unsere Fixierung auf Verbrechen, Betrug und Grausamkeit zeigt gerade, dass wir diese als Abweichung empfinden, über die wir uns empören. Aber weil die Nachrichten und Medien voll davon sind, beginnen wir sie als den Regelfall statt als Ausnahme zu betrachten, was sie in Wirklichkeit sind.
Anmerkungen
[1] Rutger Bregman: Im Grunde gut. Eine neue Geschichte der Menschheit. Aus dem Niederländischen von Ulrich Faure und Gerd Busse, Hamburg: Rowohlt, 2020. [Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel „De Meeste Mensen Deugen / Humankind“ bei De Correspondent Uitgevers, Amsterdam.]
[2] A. O. S. 22 mit Bezug auf Havidán Rodríguez et al.: Rising to the Challenges of a Catastrophe: The Emergent and Prosocial Behavior Following Hurricane Katrina, in The Annals of the American Academy of Political and Social Science, Vol. 604, Issue 1 (2006)
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