Wer, wenn nicht ich? Kar­rie­re eines Konzepts

So lau­te­te der Titel eines Vor­trags auf einer Tagung der Kran­ken­haus­seel­sor­ge in Würt­tem­berg. Hier das Manu­skript des Vor­trags: Autonomie_Renz_2015.

Eini­ge Aspek­te daraus:

Der Begriff „auto­nom“ wird in der grie­chi­schen Anti­ke m.W. nur ein­mal auf eine Ein­zel­per­son ange­wandt: auf Anti­go­ne bei Sopho­kles. Anti­go­ne steht vor einem Dilem­ma. Nach Kre­ons Ver­bot darf sie den Leich­nam ihres Bru­ders Polyn­ei­kes nicht bestat­ten, sie folgt aber der stär­ker emp­fun­de­nen Ver­pflich­tung, ihrem Bru­der die­sen letz­ten Dienst der Bestat­tung zu erweisen.
Doch der Begriff „auto­nom“ wird auf Anti­go­ne erst ange­wandt als sie, nach­dem Kre­on sie leben­dig ein­mau­ern ließ, sich selbst tötet:

Nicht zeh­ren­der Krank­heit erlagst du / emp­fingst nicht des Schwer­tes blu­ti­gen Lohn, / son­dern lebend nach eig­nem Gesetz allein / ent­schrittst du leben­dig zum Hades. (zitiert nach: His­to­ri­sches Wör­ter­buch der Phi­lo­so­phie Bd.1, Sp.701)

Der Begriff Auto­no­mie wird erst von Kant mit Empha­se ver­wen­det. Mora­li­sche For­de­run­gen müs­sen nach Kant immer ver­nünf­tig sein. Da ich selbst ein ver­nünf­ti­ges Wesen bin, kann ich die­se For­de­run­gen nicht nur ein­se­hen, viel­mehr kann ich sie mir zu eigen machen. Mora­li­tät muss also nicht von außen oktroy­iert wer­den, sie kommt von innen, aus der eige­nen Ver­nunft. Das ist der Kern von Kants Gleich­set­zung von Auto­no­mie und Moral.

„Das Prin­zip der Auto­no­mie ist also: nicht anders zu wäh­len, als so, daß die Maxi­men sei­ner Wahl in dem­sel­ben Wol­len zugleich als all­ge­mei­nes Gesetz mit begrif­fen sei(e)n.“ [1]

Damit ist Auto­no­mie auch „der Grund der Wür­de der mensch­li­chen und jeder ver­nünf­ti­gen Natur“.[2]

Kant hat somit die Auto­no­mie von Ver­nunft und Moral begrün­det, ihre Unab­hän­gig­keit von Reli­gi­on und Tra­di­ti­on, er hat aber gera­de nicht das the­ma­ti­siert, was wir heu­te mit der Auto­no­mie der Per­son bezeich­nen. Denn sein Auto­no­mie­be­griff lässt kei­nen Platz für indi­vi­du­el­le Beson­der­hei­ten und ist damit so ziem­lich das Gegen­teil von dem, was wir heu­te unter Auto­no­mie verstehen.

Es ist leicht nach­zu­voll­zie­hen, war­um der Begriff der Auto­no­mie im Zuge der Stu­den­ten­be­we­gung und der femi­nis­ti­schen Bewe­gung eine zen­tra­le Bedeu­tung erlan­gen konn­te. Teil­wei­se war dabei ein Motiv, den „auto­ri­tä­ren Charakter“[3] zu ent­lar­ven, den die Eltern­ge­nera­ti­on zu einem guten Teil verkörperte.

„Die ein­zig wahr­haf­te Kraft gegen das Prin­zip von Ausch­witz wäre Auto­no­mie, wenn ich den Kan­ti­schen Aus­druck ver­wen­den darf; die Kraft zur Refle­xi­on, zur Selbst­be­stim­mung, zum Nicht-Mitmachen.“[4]

So Theo­dor W. Adorno.

[1] Kant: Grund­le­gung zur Meta­phy­sik der Sit­ten, Kant Werk­aus­ga­be, hg.v. W. Wei­sche­del, Bd. 7, S.74f.

[2] A.O. S. 69.

[3]  Theo­dor W. Ador­no: Stu­di­en zum auto­ri­tä­ren Cha­rak­ter; 1950 (The Aut­ho­ri­ta­ri­an Per­so­na­li­ty) auf Eng­lisch und erst 1973 (mit den Tei­len, an denen Ador­no betei­ligt war) auf deutsch erschie­nen im Suhr­kamp Ver­lag, suhr­kamp taschen­buch 107.

[4] Theo­dor W. Ador­no: Erzie­hung nach Ausch­witz, in ders.: Stich­wor­te. Kri­ti­sche Model­le 2, edi­ti­on suhr­kamp 347, 1969, S.90.