„Nach uns die Sintflut!“ Hätte dieser Satz ein Fragezeichen, so würde er einer tiefen Sorge und Befürchtung vieler Menschen Ausdruck verleihen. Mit einem Ausrufezeichen hat er etwas Obszönes, ja Diabolisches. Der Ausruf soll von Madame Pompadour (1721–1764) stammen, der Geliebten und einflussreichen Ratgeberin Ludwigs XV. Bei einer festlichen Gelegenheit wurde die Botschaft überbracht, dass die französischen Truppen gegen die von Friedrich II. von Preußen unterlegen waren (Schlacht von Roßbach 1757). Dazu Peter Sloterdijk:
„Man kann sich noch heute recht gut vorstellen, wie die Gastgeberin, vermutlich bei einer Veranstaltung am Hof von Fontainebleau, entschlossen, die Laune ihrer Besucher nicht in Gefahr zu bringen, von einer Sekunde zur nächsten Zuflucht nahm zu der hysterisch-galanten Heiterkeit, die von alters her zu den Requisiten der höfischen Konversation gehört.“[1]
Sloterdijk merkt an:
„Sehr wohl wissen die Reichen und Übermütigen seither, daß Sorglosigkeit eine Fiktion ist, die Kosten verursacht.“ Und erläutert, übrigens lange vor Corona: „Die Unbesorgten, die Bedenkenlosen, die Enthemmten von heute feiern zwischen Sankt Moritz, Dubai und Moskau kein Fest, bei dem das geflügelte Wort der Marquise nicht in der Luft läge.“[2]
Nimmt Sloterdijk ein latentes Bewusstsein der Bedenkenlosen und Enthemmten für die verhängnisvollen Konsequenzen ihres Lebensstils an, so meint der Soziologe Bruno Latour sogar kaltblütige Berechnung erkennen zu müssen:
„Alles spricht dafür, dass ein gewichtiger Teil der führenden Klassen (heute recht vage als »Eliten« bezeichnet) zu dem Schluss gelangte, dass für ihn und für den Rest der Menschen nicht mehr genügend Platz vorhanden sei. Folgerichtig entschied man, dass es nutzlos sei, vorzugeben, die Geschichte strebe weiter auf einen gemeinsamen Horizont zu, auf eine Situation, in der »alle Menschen« in gleichem Maße zu Wohlstand kommen würden. Seit den achtziger Jahren geht es den führenden Klassen nicht länger darum, die Welt zu führen, vielmehr suchen sie außerhalb dieser Welt Schutz.“[3]
Offenkundig nimmt Latour an, dass relevante Personen sich entschlossen haben, künftig weder sozialen Ausgleich anzustreben noch Klimavorsorge zu betreiben, weil sie sich auf einer komfortablen Arche den Slogan leisten zu können glauben: „Neben uns die Sintflut!“ (Und was für ein dickes Fell, welche Festungsmentalität hat sich Europa angesichts ertrinkender und erfrierender Flüchtlinge tatsächlich schon zugelegt.)
Aber: ob Latour da nicht teilhat an der allgemeinmenschlichen Neigung zu Verschwörungserzählungen?
Kann man die Phänomene, die Sloterdijk und Latour im Blick haben, nicht auch durch die natürliche Tendenz zur Rationalisierung der eigenen privilegierten Position und zur Verdrängung von Fakten, die weitreichende Veränderungen nahelegen, ja gebieten würden? Es kommt mir der Begriff „Apokalypse-Blindheit“ von Günther Anders in den Sinn.
„Was uns heute — im Unterschied zu Faust — aufregen müßte, ist jedenfalls nicht, daß wir nicht allmächtig sind oder allwissend; sondern umgekehrt, daß wir im Vergleich mit dem, was wir wissen und herstellen können, zu wenig vorstellen und zu wenig fühlen können. Daß wir fühlend kleiner sind als wir selbst.“[4]
Anders denkt 1956ff an die atomare Bedrohung, aber seine Sätze lassen sich leicht auf die Klimabedrohung beziehen, wobei die Klimaverschiebung allerdings sehr viel Anschauungsmaterial liefert, während der nukleare Winter die Vorstellungskraft extrem fordert.
Anders beobachtete bereits das seltsame Phänomen, dass die Wissenschaftler erregt warnen („übrigens ein erstmaliger Fall: Apokalypse-Angst gerade bei Nicht-Religiösen“), während ansonsten „eschatologische Windstille“ herrsche, gerade bei den Religiösen sei im Blick auf die atomare Bedrohung „nicht die geringste Panik zu registrieren“[5]. Offenbar passt weder die atomare Bedrohung noch die Klimakrise ins Beuteschema der Apokalyptiker.
Die Apokalypse-Blindheit hat nach Anders ihren Grund in der Fortschrittsgläubigkeit. Aber selbst wenn diese weicht, bleiben schlicht Beharrungskräfte maßgeblich. Die Gelbwesten-Proteste in Frankreich reichten, um die Politiker nachhaltig zu verängstigen, und die Chance beide Probleme – die soziale Spaltung und die ökologische Krise – gleichzeitig anzugehen, scheinen sie und die sie wählenden Bürger*innen nicht entschlossen zu nutzen. Ich bin versucht, James Baldwin zu zitieren:
„Wenn wir jetzt nicht alles wagen, droht uns die Erfüllung jener Prophezeiung, die ein Sklave einst in Anlehnung an die Bibel im Lied wiedererweckte: God gave Noah the rainbow sign. No more water, the fire next time!“[6]
Aber der Begriff „Apokalypse-Blindheit“ wurde kaum rezipiert und verliert in einer fortschreitend säkularen Welt erst recht an Eingängigkeit. Vielleicht bedarf es für die Offenheit, Erkenntnisse der Wissenschaften ernst zu nehmen, eines gewissen Kontingenzbewusstseins: es ist keineswegs ausgemacht, dass alles ungefähr so wie bisher weitergeht. Es kann Brüche, Katastrophen, Epochenwenden gegeben. Die Corona-Pandemie könnte das Bewusstsein dafür geweckt haben, oder erschöpft sie vielmehr unsere Kapazität, auf dramatische Entwicklungen, die schlicht Konsequenzen unseres Handelns sind, zu reagieren?
Eine Welt. Ein Klima. Eine Zukunft
– das könnte eine Formel für alle Menschen guten Willens sein (über seine Funktion als Eröffnung der Spendenaktion von Brot für die Welt 2021 hinaus).
[1] Peter Sloterdijk: Die schrecklichen Kinder der Neuzeit. Über das anti-genealogische Experiment der Moderne, Berlin: Suhrkamp, 2014, S. 27.[2] A.O. S. 28.[3] Bruno Latour: Das terrestrische Manifest, Berlin: Suhrkamp, 1. Abschnitt.[4] Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. Erster Band: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München: C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung, S. 269.[5] A.O. S. 276f.[6] James Baldwin: Nach der Flut das Feuer, dtv 14736, 2020, S.112 (Schlusssätze).