Amartya Sen und dann Martha Nussbaum entwickelten ein Konzept, um die Lebensqualität (human welfare) zu erfassen, den sogenannten Capabilities Approach[1]. Die Erfassung von Lebensqualität ist zentral sowohl für die ökonomische Theoriebildung als auch für politische Entscheidungsfindung.
Amartya Sen, geb. 1933 in Indien, war als Ökonom (und Philosoph) bestrebt, die Entwicklung von Ländern nicht nur nach dem BIP (Bruttoinlandsprodukt) zu bemessen. Die USA sind das beste Beispiel dafür, dass das enorm hohe BIP, auch pro Kopf der Bevölkerung, nichts über die Lebensqualität, ja nicht einmal etwas über die Lebenserwartung aussagt. Die USA haben z.B. mit Abstand das teuerste und gemessen daran ineffizienteste Gesundheitswesen der Welt[2], das damit natürlich auch zur Erhöhung des BIP beiträgt, aber – für viele Menschen jedenfalls – wenig hilfreich ist. Die Lebenserwartung betrug 2021: 77,2 Jahre, in Frankreich waren es 82,5, in Spanien 83 Jahre, Deutschland hat eher bescheidene 80,6 Jahre, ungefähr so hoch wie Großbritannien (80,7). Das Ziel muss doch aber sein, dass Menschen ein langes, gesundes und kreatives Leben führen können. Aber wie lässt sich das genau fassen? Was sind sinnvolle Ziele für die Entwicklung von Staaten?
Die Arbeiten von Sen und anderen haben dazu geführt, dass die UN den Human Devolopment Index (HDI) eingeführt haben. Auf der Internetseite Our World in Data, sind (neben vielem anderen) Daten sowohl zum BIP aller Länder, aber auch zum HDI der meisten Länder (bis 2021) aufzurufen. Der HDI berücksichtigt neben dem BIP auch die Lebenserwartung und die (Aus-)Bildung. Diese Daten haben den Vorteil, sich relativ leicht quantifizieren zu lassen. (Und hier Daten zur subjektiven Lebenszufriedenheit.)
Dies kann zunächst als Methode zum sinnvollen Vergleich zwischen Ländern und im zeitlichen Prozess betrachtet werden.
Bei Martha Nussbaum wird der Capabilities Approach zu einer ethischen Konzeption. Es ist als ethischer Wert zu betrachten, dass Menschen sich in ihren Fähigkeiten entfalten und entwickeln können. Oft wurde in der Entwicklungspolitik nur darauf abgezielt, „Menschen ein gutes Gefühl“ zu geben. Das Problem ist jedoch, dass Menschen sich oft an ihre Situation adaptieren und gar nicht wissen können, was ihnen an Entwicklungsmöglichkeiten verwehrt ist.
Nussbaum geht es um Berechtigungen (entitlements) zur Ausschöpfung von Entwicklungspotenzialen.
Nussbaum nennt in ihren letzten Veröffentlichungen[3] zehn capabilities:
- Leben in „normaler Länge“
- Körperliche Gesundheit (Ernährung, Wohnung, Sexualität)
- Körperliche Integrität, Bewegungsfreiheit, Freiheit von Bedrohung
- Sinne, Fantasie und Denken – Bildung in allen Facetten
- Emotionen entwickeln können durch Zusammensein (nicht unterbunden durch Angst)
- Praktische Vernunft – Lebensplanung, Gewissens- und Religionsfreiheit
- Zugehörigkeit – soziale Interaktion, (Selbst-)Respekt, Freiheit von Diskriminierung
- Natürliche Umwelt und andere biologische Arten – in Beziehung zu ihnen und der Welt der Natur leben können
- Freizeit/Spielen
- Kontrolle über die eigene Umwelt (z. B. politische Partizipation und Eigentumsrechte)
Utilitarimus
Mit dem capabilities approach verbindet sich eine Kritik an der Ethik des Utilitarismus. Jeremy Bentham (1748–1832) bezeichnet jemanden als utilitarian , der nach dem Prinzip der Nützlichkeit verfährt und den Nutzen für die Allgemeinheit zum Maßstab für die Beurteilung jeder Handlung macht. Worin besteht ein Nutzen? In der Erhöhung des Wohlbefindens (pleasure) und der Minderung des Schmerzes (pain). Benthams Utilitarismus ist eine anspruchsvolle ethische Theorie, insofern sie jeden auffordert, nicht an die Maximierung des persönlichen Nutzens, sondern des Allgemeinnutzens zu denken. Und dieser besteht schlicht aus der Summe des Wohlergehens von allen, ohne dabei einen Unterschied zwischen dem sozialen Stand, dem Geschlecht oder der Hautfarbe zu machen. Es handelt sich also um eine geradezu revolutionäre Ethik, die noch dazu ohne die Berufung auf eine religiöse Fundierung auskommt.
Kritik des Utilitarismus
Dennoch gibt es gravierende Einwände gegen diese ethische Theorie, die Martha Nussbaum an verschiedenen Orten erläutert:
- Kann Vergnügen der höchste Wert sein, wenn es doch in der Regel doch mit bestimmten Aktivitäten verbunden ist und muss nicht z. B. zwischen dem Vergnügen, eine gute Mahlzeit zu genießen, und dem ein geliebtes Kind im Arm zu halten unterschieden werden[4]?
- Bentham interessiert sich nicht für die Verteilung von Lust und Schmerz. „In Benthams Theorie gibt es keine Möglichkeit, den am wenigsten Begüterten besondere Aufmerksamkeit zu schenken“ (S. 72), ja u. U. kann sich eine Mehrheit am Leid eines Einzelnen erfreuen und damit die Summe von Vergnügen erhöhen.
- Menschen passen sich an ihre Lage an und wissen möglicherweise nicht, was ihnen an Entwicklungsmöglichkeiten vorenthalten bleibt.
- Ist wirklich nur das Vergnügen von Bedeutung und nicht auch ganz andere Werte: Bewegungsfreiheit z. B. (S.74).
In gewisser Weise kann man Nussbaums capabilities approach im Vergleich zum Utilitarismus so charakterisieren: Aus 1 (pain/pleasure) mach 10 (capabilities). Außerdem ist es Nussbaum wichtig, dass für jede und jeden ein bestimmter Schwellenwert der capabilities nicht unterschritten wird.
Einen Vorteil des Utilitarismus teilt aber Nussbaums Ansatz: Beide können zwanglos auf Tiere erweitert werden. Für den Utilitaristen ist der Schmerz eines Tieres ethisch relevant und Nussbaums capabilities möchte sie auch Tieren zugestanden wissen.
Der Beitrag ist in Bearbeitung.
[1] Vor allem Amartya Sens Buch Commodities and Capabilities von 1985 (Amsterdam) führte capabilities in die Diskussion ein. Vgl. aber schon ders.: Equality of What? The Tanner Lecture on Human Values, Delivered at Stanford University May 22, 1979. Hier thematisierte er „Basic Capability Equality“ als adäquate Theorie von Gleichheit.
[2] Vgl. Max Roser (2020) – „Why is life expectancy in the US lower than in other rich countries?“. Published online at OurWorldInData.org. Retrieved from: https://ourworldindata.org/us-life-expectancy-low [Online Resource]
[3] Vgl. Martha Nussbaum: Creating Capabilities. The Human Development Approach, Cambridge (Mass.) – London (England) 2011, Kap. 2;
Königreich der Angst. Gedanken zur aktuellen politischen Krise, Darmstadt 2019, S. 274–276;
Gerechtigkeit für Tiere, Darmstadt 2023, S. 115–117.
[4] Gerechtigkeit für Tiere, S. 71. Die folgenden Seitenangaben beziehen sich auf dieses Buch.