Joa­chim Gauck / Hel­ga Hirsch: Erschüt­te­run­gen: Was unse­re Demo­kra­tie von außen und innen bedroht

Rezen­si­on von Ruth Ing­wer­sen

Das Buch geht aus vom Ein­marsch der rus­si­schen Armee in die Ukrai­ne am 22. Febru­ar 2022 und the­ma­ti­siert auch den eigent­li­chen Beginn die­ser „Zei­ten­wen­de“: die Beset­zung der Krim 2014. Es wur­de auf der Leip­zi­ger Buch­mes­se 2023 vor­ge­stellt, ist am 2.Mai 2023 im Han­del erschie­nen und wen­det sich an alle, die seit dem 22. Febru­ar 2022 vie­le Fra­gen haben und deren Erklä­rungs­be­darf hoch ist: Wie konn­te es zu die­ser Situa­ti­on kommen?

Im ers­ten Teil des Buches geht es um die äuße­re Bedro­hung der deut­schen Demokratie.

Die Autoren gehen zurück bis in die zwei­te Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts, den Kal­ten Krieg, die deut­sche Ost­po­li­tik, Wil­ly Brandts Ent­span­nungs­po­li­tik, das Kon­zept „Wan­del durch Annä­he­rung“. Die Oppo­si­ti­ons­be­we­gun­gen in der DDR und den mit­tel­ost­eu­ro­päi­schen Län­dern, vor allem Soli­dar­nosc in Polen, wur­den laut Gauck/Hirsch in die­ser Zeit nicht aus­rei­chend wahr­ge­nom­men, viel­fach sogar abge­lehnt aus der Furcht her­aus, die Annä­he­rung könn­te dadurch gefähr­det werden.

Ein wei­te­res wich­ti­ges Kapi­tel befasst sich mit Russ­lands beson­de­rem Weg, Putins Rol­le, sei­nem Mythos der Ein­krei­sung und dem Ver­hält­nis von Russ­land zur Ukrai­ne, der jahr­hun­der­te­al­ten kom­pli­zier­ten Geschich­te der rus­sisch-ukrai­ni­schen Bezie­hun­gen und war­um Russ­land die Exis­tenz einer unab­hän­gi­gen Ukrai­ne fürch­tet. Zur Unab­hän­gig­keit der Ukrai­ne im Jahr 1991 gibt es einen lan­gen Vor­lauf, der in die­sem Buch nur ver­kürzt wie­der gegen wer­den kann. Es sind jedoch zahl­rei­che Quel­len hin­ter­legt. Will man die Situa­ti­on ver­ste­hen, lohnt es sich m.E. sich hier einzulesen.

Es fol­gen in die­sem Teil Über­le­gun­gen zu bis­he­ri­gen Wahr­neh­mungs­lü­cken und Grün­den für die ver­brei­te­te Rea­li­täts­blind­heit. Von gro­ßem Inter­es­se dürf­te auch die Beschrei­bung und Ein­schät­zung ver­schie­de­ner Strö­mun­gen (natio­na­lis­ti­sche bis faschis­ti­sche Ein­stel­lun­gen, z.B. über die Per­son Ste­fan Ban­de­ra) in der Ukrai­ne sein. Es folgt eine Ein­schät­zung der deut­schen Poli­tik nach dem Ein­marsch auf die Krim. Auch mit häu­fig auf­ge­wor­fe­nen skep­ti­schen Fra­gen und Äuße­run­gen im Zusam­men­hang mit dem The­ma Waf­fen­lie­fe­run­gen (z.B. War­um hat Deutsch­land damals in Ruan­da nicht ein­ge­grif­fen, aber im Koso­vo?) set­zen die Autoren sich auseinander.

Im Teil 2 des Buches geht es um die inne­re Bedro­hung der deut­schen Demokratie.

Die Immer schnel­le­ren Ver­än­de­run­gen, die immer kom­ple­xe­ren Pro­ble­me in einer glo­ba­li­sier­ten Welt, die zahl­rei­chen Kri­sen (Flücht­lings-Coro­na-Ukrai­ne-…, dazu die Bedro­hun­gen durch die Kli­ma- und Umwelt­kri­sen) ver­ur­sa­chen enor­me Unsi­cher­hei­ten und Ängs­te und trei­ben vie­le Men­schen in die Arme der Rechts­po­pu­lis­ten. Die Autoren grei­fen die Fra­ge auf, ob dies vor­wie­gend Men­schen des auto­ri­tä­ren Cha­rak­ter­typs betrifft. Es folgt eine Abhand­lung zur auto­ri­tä­ren Dis­po­si­ti­on, in der auch auf neue­re For­schungs­er­geb­nis­se hin­ge­wie­sen wird. Sehr wich­tig und dif­fe­ren­ziert sind in die­sem Zusam­men­hang auch die Kapi­tel zu den The­men Ein­wan­de­rung, Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus, Ras­sis­mus und zur Cri­ti­cal Race Theory.

Das Fazit der Autoren: Men­schen­rech­te sind uni­ver­sell! Es folgt ein Plä­doy­er für eine wehr­haf­te Demokratie.

Die zen­tra­le Inten­ti­on des Autoren­paa­res ist das Wer­ben für die libe­ra­le Demo­kra­tie. Bis­her zu wenig hin­ter­frag­te schein­ba­re Gewiss­hei­ten wer­den infra­ge gestellt und in einen Zusam­men­hang gebracht.

Fra­gen, um die sich nach der Lek­tü­re die­ses Buches nie­mand mehr her­um­mo­geln kann, sind: Wie wich­tig ist jedem ein­zel­nen die libe­ra­le Demo­kra­tie? Ist man ggf. bereits sie zu verteidigen?

Berech­tig­te Fra­gen! Die Autoren wei­sen dar­auf hin, dass es eine ver­häng­nis­vol­le Gewöh­nung an das Gute gibt: „…die­ses wird schließ­lich so selbst­ver­ständ­lich, dass es banal erscheint“ (Zitat, S.221)

Das Autoren­paar spal­tet nicht, es erklärt und bringt Ver­ständ­nis auf, auch für die­je­ni­gen, die sich von den west­li­chen eta­blier­ten Par­tei­en abwen­den. Sie for­dern im Inter­es­se des Erhalts der libe­ra­len Demo­kra­tie dazu auf, sich hier dif­fe­ren­ziert auseinanderzusetzen.

Ein sehr nach­denk­lich machen­des Buch, dass manch einen aus Bequem­lich­kei­ten her­aus­rei­ßen dürf­te, in denen er/sie  sich bis­her ein­ge­rich­tet hat. Es gibt Hil­fe­stel­lung, um zu Hal­tun­gen und Ent­schei­dun­gen zu kom­men und dürf­te auch eine gute Grund­la­ge bie­ten für Dis­kus­sio­nen in und mit den Anhän­ge­rIn­nen der Frie­dens- und Frau­en­be­we­gung des letz­ten Drit­tels des 20. Jahr­hun­derts. Im Buch ist eine Band­brei­te von wich­ti­gen The­men ange­spro­chen, in die sich die Leser­schaft bei Bedarf mit Hil­fe der Lite­ra­tur­an­ga­ben wei­ter ein­ar­bei­ten kann.

Drin­gen­de Leseempfehlung!