Wäh­rend der Coro­na-Pan­de­mie haben Uti­li­ta­ris­ten gewag­te Gerech­tig­keits­über­le­gun­gen angestellt.

Sie woll­ten die durch die Coro­na-Maß­nah­men gewon­ne­nen Lebens­jah­re abwä­gen gegen den Preis der Lockdown-Maßnahmen.

Der Uti­li­ta­ris­mus stellt dafür einen ein­heit­li­chen Maß­stab zur Ver­fü­gung: Die Sum­me an Wohl­be­fin­den (plea­su­re) von allen (!) betrof­fe­nen Men­schen. Als Rechen­ein­heit kann der QALY (qua­li­täts­kor­ri­gier­tes Lebens­jahr) die­nen: 1 QALY ist ein Lebens­jahr bei bes­tem Wohl­be­fin­den (oder zwei Lebens­jah­re mit mitt­le­rem Wohl­erge­hen usw.).

In Groß­bri­tan­ni­en darf eine medi­zi­ni­sche Inter­ven­ti­on, die einen QALY bringt, i.d.R. nicht mehr als 30.000 Pfund kos­ten.[1] Ver­ständ­lich dass dort gezö­gert wur­de, „um jeden Preis“ Leben zu retten.

Wäh­rend der Coro­na-Zeit gab es diver­se Ver­su­che einer QALY-Berech­nung für die Coro­na-Maß­nah­men, so von Prof. Ulrich Schmidt vom Kie­ler Insti­tut für Welt­wirt­schaft.[2] Sei­ne Rech­nung ist leicht nach­zu­voll­zie­hen: Einen QALY setzt er mit 158.448 Euro an, also deut­lich groß­zü­gi­ger als es im knapp bemes­se­nen Gesund­heits­etat Groß­bri­tan­ni­ens vor­ge­se­hen ist. Im Durch­schnitt 6 gewon­ne­ne Lebens­jah­re mit gut 2/3 Lebens­qua­li­tät erge­ben dann 643.000 €. Die­ser Betrag kann also inves­tiert wer­den, um einem Men­schen­le­ben zu die­ser Lebens­ver­län­ge­rung zu verhelfen.

Bei wirt­schaft­li­chen Ver­lus­ten durch die Lock­down-Maß­nah­men von 225 Mrd. €, müss­ten in die­sem Bei­spiel 350.000 Men­schen­le­ben (für 6 Jah­re) geret­tet wer­den, damit sich sich die­se Maß­nah­men „loh­nen“.

Die­se Berech­nung, oder viel­mehr Abschät­zung, ist aller­dings mit vie­len pro­ble­ma­ti­schen Annah­men ver­bun­den. Vor allem aber wird Vie­les, um nicht zu sagen das meis­te gar nicht einbezogen.

- Wie hoch sind die wirt­schaft­li­chen Kos­ten ohne Lock­down, wenn ihn ande­re Län­der aber vollziehen?

- Wie hoch sind die Gesund­heits­kos­ten bei wei­ter­lau­fen­der Wirt­schaft und frei­em Infek­ti­ons­ge­sche­hen? Denn auch in die­sem Sze­na­rio müss­te jeder Betrof­fe­ne 158.448 € pro QALY in Anspruch neh­men können.

- Wie ist eigent­lich die Ver­min­de­rung an Lebens­qua­li­tät durch Trau­er und Ver­zweif­lung der Ange­hö­ri­gen zu ver­rech­nen? Und wür­de der Uti­li­ta­rist die Freu­de über vor­zei­ti­ge Erb­schaf­ten dage­gen rechnen?

- Und was ist mit der Erschöp­fung der Pfle­ge­kräf­te und Ärzt*innen? Was mit der mora­li­schen Zer­rüt­tung, die wir im Gefol­ge einer sol­chen Lage zu gewär­ti­gen hätten?

Müss­te ein Uti­li­ta­rist ange­sichts einer sol­chen Fol­gen­ab­schät­zun­gen nicht unbe­dingt für Schutz­maß­nah­men gegen die Aus­brei­tung eines eini­ger­ma­ßen gefähr­li­chen Virus wie es Covid-19 ist, plädieren?

Mora­li­sche Intui­tio­nen und Über­zeu­gun­gen einer kaum durch­führ­ba­ren Rechen­ope­ra­ti­on zu opfern, ist schwer­lich ethisch akzep­ta­bel.[3] Aus die­sem Grund hat schon John Stuart Mill den küh­len Uti­li­ta­ris­mus von Jere­my Bent­ham ent­schei­dend abge­wan­delt und nähert sich de fac­to einer tugend­ethi­schen Posi­ti­on.[4]

[1] Dil­lon 2015.
[2] Jung 2020.
[3] Und: Wie weit in die Zukunft meint eigent­lich ein Uti­li­ta­rist rech­nen zu müs­sen bzw. zu können?
[4] Mill 2010. Vgl. S.37: „Der Uti­li­ta­ris­mus kann sein Ziel daher nur durch die all­ge­mei­ne Aus­bil­dung und Pfle­ge eines edlen Cha­rak­ters errei­chen, selbst wenn für jeden Ein­zel­nen der eige­ne Edel­mut eine Ein­bu­ße an Glück und nur jeweils der Edel­mut der ande­ren einen Vor­teil bedeutete.“

Lite­ra­tur­ver­zeich­nis

Ber­re­by, David (2008): Us and them. The sci­ence of iden­ti­ty. Chi­ca­go: Uni­ver­si­ty of Chi­ca­go Press.

Dil­lon, Andrew (2015): Car­ry­ing NICE over the thres­hold. Hg. v. NICE. Online ver­füg­bar unter https://www.nice.org.uk/news/blog/carrying-nice-over-the-threshold, zuletzt geprüft am 23.06.2020, nun nicht mehr ver­füg­bar, vgl. statt­des­sen: Kap. 6.3 von Gui­de to the methods of tech­no­lo­gy app­rai­sal 2013 https://www.nice.org.uk/process/pmg9/chapter/the-appraisal-of-the-evidence-and-structured-decision-making

Gil­ligan, Carol (1998): Die ande­re Stim­me. Lebens­kon­flik­te und Moral der Frau. Unter Mit­ar­beit von (Übers.) Bri­git­te Stein. 6. Aufl., 30. – 35. Tsd, Neu­ausg. Mün­chen: Piper (Serie Piper, 838).

Haber­mas, Jür­gen; Gün­ther, Klaus (2020): Frei­heit! Lebens­schutz! – Ein Gedan­ken­aus­tausch. In: DIE ZEIT 2020, 06.05.2020 (20). Online ver­füg­bar unter https://www.zeit.de/2020/20/grundrechte-lebensschutz-freiheit-juergen-habermas-klaus-guenther, zuletzt geprüft am 23.06.2020.

Haidt, Jona­than (2012): The righ­teous mind. Why good peo­p­le are divi­ded by poli­tics and reli­gi­on. Lon­don: Allen Lane.

Hen­rich, Joseph (2015): The secret of our suc­cess. How cul­tu­re is dri­ving human evo­lu­ti­on, dome­sti­ca­ting our spe­ci­es, and making us smar­ter. Prince­ton, Oxford: Prince­ton Uni­ver­si­ty Press.

Jung, Frank (2020): „Coro­na-Lock­down ist öko­no­mi­scher Irr­sinn“. Kie­ler Insti­tut für Welt­wirt­schaft legt Kos­ten-Nut­zen-Ana­ly­se vor – und wirft dabei mora­li­sche Fra­gen auf. In: shz 2020, 29.04.2020. Online ver­füg­bar unter https://www.shz.de/regionales/schleswig-holstein/wirtschaft/kieler-institut-fuer-weltwirtschaft-corona-lockdown-ist-oekonomischer-irrsinn-id28183722.html.

Lüb­be, Her­mann (1990): Reli­gi­on nach der Auf­klä­rung. 2. Aufl. Graz: Verl. Styria.

Mill, John Stuart (2010): Uti­li­ta­ria­nism. Der Uti­li­ta­ris­mus. Eng­lisch /Deutsch. Unter Mit­ar­beit von über­setzt und hg.v. Die­ter Birn­ba­cher. [Nach­dr.]. Stutt­gart: Reclam (Reclams Uni­ver­sal-Biblio­thek, 18461).

Nida-Rüme­lin, Juli­an; Schloe­mann, Johan (2020): „Wir müs­sen Licht am Ende des Tun­nels sehen“. Auto­no­mie! In: Süd­deut­sche Zei­tung 2020, 23.05.2020. Online ver­füg­bar unter https://www.sueddeutsche.de/kultur/coronavirus-lockerungen-risikogruppen-julian-nida-ruemelin-interview-philosophie‑1.4914827?reduced=true, zuletzt geprüft am 23.06.2020.