Lesefrüchte zum menschlichen Gruppendenken und seinen Die-da-ismen.
Wir sind zur Kooperation wie geschaffen. Aber wer ist Wir? Jede menschliche Gesellschaft kennt Kooperationen in der Gruppe oder in Gruppen. Selbst in unserer relativ individualistischen Gesellschaft gibt es das Bedürfnis nach dem Erleben eines Wirgefühls, sei es als Fan einer Mannschaft oder Mitglied eines Vereins oder einer Partei etc. Manchmal wird uns unser Zugehörigkeitsgefühl erst bewusst, wenn „unsere“ Gruppe (Beruf, Verein, Mundart, Nation) angegriffen oder kritisiert wird.
„Wir sind Gruppenwesen. Wir gehören nicht einfach zur Menschheit, sondern geben unseren eigenen Leuten den Vorzug und lassen uns leicht dazu überreden, uns gegen Außenstehende zu wenden.“
So Kwame Anthony Appiah in seinem Buch Identitäten[1].
Unsere Neigung zu Die-da-Ismen
Als 10-jähriger hat der Schriftsteller George Tabori seinem Vater berichtet, was er gerade in der Schule (in Budapest) gelernt hatte, dass nämlich alle Rumänen schwul seien. Sein Vater erklärte ihm,
„dies wäre die Zeit der ekelerregenden Nationalismen, die die Menschheit mit einer Art von Die-da-Ismen verdinglicht, um sie leichter zu vernichten. Erstens seien nicht alle Rumänen schwul. Zweitens, es wäre nicht schlimm, wenn alle es seien, und drittens, es gäbe so etwas wie ‚die Rumänen‘ nicht. Seitdem fällt es mir schwer, den Menschen nicht eins-zu-eins zu begegnen, ich könnte den Faust, den Kleist, den Heine, den Böll, die Liste ist endlos, nicht mit dem Himmler in einen teutonischen Topf stecken, nur weil sie alle Heinrich hießen.“[2]
Wir neigen dazu, zwischen Uns und Denen zu unterscheiden. Dazu gehört, dass wir stolz auf unsere Gruppenzugehörigkeit sein wollen und andere entsprechend abwerten.
Hanns Dieter Hüsch hat dieses Phänomen unübertroffen beschrieben – Link zu Youtube:
Was ist das für ein Phänomen
Fast kaum zu hören, kaum zu sehn
Ganz früh schon fängt es in uns an
Das ist das Raffinierte dran
…
Es ist ein alter Menschenbrauch
Nur weil ein andrer anders spricht
Und hat ein anderes Gesicht
…
Er paßt mir nicht, er liegt mir nicht
Ich mag ihn nicht und find’ ihn schlicht
Und wenn man’s noch so harmlos meint
Das ist das Anfangsbild vom Feind
Geschmacklos und hat keinen Grips
Und außerdem sein bunter Schlips
Dann setzt sich in Bewegung leis’
Der Hochmut und der Teufelkreis
…
Nur wenn wir in uns alle sehn
besiegen wir das Phänomen
Nur wenn wir alle in uns sind
fliegt keine Asche mehr im Wind.
David Berreby, der ein faszinierendes Buch mit dem Titel Us and Them geschrieben hat, meint, Menschen seien
“amazingly good” – bewunderns- und belustigenswert gut darin, Gründe dafür zu finden glauben zu können, dass wir nicht so sind wie sie.[3]
Berreby geht auch auf die vielzitierten Experimente von Muzafer Sherif ein, der zwei unterschiedliche Jugendgruppen in benachbarten Camps jeweils ein starkes Gruppengefühl aufbauen ließ und dann die beiden Gruppen in Kontakt brachte. Ich brauche nicht auszuführen, welche Konkurrenz und auch Feindseligkeit zwischen den Gruppen entstand.[4] Oft wird allerdings dieses Experiment nur bis zu diesen Feindseligkeiten geschildert. Das war aber nur der erste Teil der Studie. Sherif gelang es im weiteren Verlauf sehr schnell, durch gemischte Interessensgruppen (gemischte Musikgruppe etc.) völlig neue und bunte Gruppenbildungen zu initiieren, so dass sich die Jugendlichen dann darüber mokierten, wie undenkbar es für sie noch vor einer Woche war, dass sie mal zusammen Musik machen könnten.
Wen beziehen wir ins „Wir“ ein?
„Gehören | Menschen anderer Religionen | Ausländer/Migranten | Flüchtlinge | für Sie persönlich auch zum „Wir“ dazu oder nicht?“ Diese Frage wurde 2017 Anhängern diverser Parteien gestellt[5].
„Nein“ sagen dazu | 36 | 75 | 80 | % von AfD-Anhängern.
„Nein“ sagen dazu | 3 | 5 | 14 | % von Grünen-Anhängern. Die anderen Parteien liegen durchweg zwischen diesen „Extremwerten“.
Max Czollek hat das Problem auf den Punkt gebracht[6]:
Das Problem dieser Gesellschaft ist kein Mangel an Gemeinschaftsgefühl, sondern ein Mangel an Gefühl dafür, wer zu dieser Gemeinschaft dazugehört.
In Kafkas Schloss wird K. von der Wirtin angegangen (Fischer TB 12444, S. 63):
„Sie sind nicht aus dem Schloß, Sie sind nicht aus dem Dorfe, Sie sind nichts. Leider aber sind Sie doch etwas, ein Fremder, … einer dessen Absichten unbekannt sind …“.
Zum Glück sind wir sehr flexibel im Empfinden von Verbundenheit und Nähe. Schon David Hume machte die interessante Beobachtung[6b]:
Ein Engländer [das heißt ein Landsmann], den wir in Italien treffen, ist ein Freund, und ein Europäer in China ebenso; wir würden vielleicht einen Menschen als solchen lieben, wenn wir ihm auf dem Monde begegneten.
Bei der Loyalität haben wir es mit einer aus ethischer Sicht sehr problematischen Neigung zu tun. Kooperation in der Gruppe impliziert auch die Bereitschaft, sich ggf. gegen eine andere Gruppe zu behaupten, sich über sie zu erheben, sie zu bekämpfen. Die allgemeinmenschliche Tendenz zur Identifikation mit einer Gruppe macht z.B. nationales, rassistisches, ethnozentrisches Denken so stark und so gefährlich.
George Orwell hat im Mai 1945 die polemische Schrift „Über Nationalismus“ verfasst (München: DTV 2020, Übers. Andreas Wirthensohn). Er rechnet mit jeder Form von verblendeter Loyalität ab, die Menschen klassifiziert und eine Gruppe mit dem Etikett gut und alle anderen mit dem Etikett böse belegt. Dabei weitet er den Begriff des Nationalismus aus und fasst darunter auch Kommunismus, politischen Katholizismus, Klassenbewusstsein etc. Immer lässt sich nach Orwell eine Gleichgültigkeit gegenüber der Realität beobachten. Man verteidigt bedingungslos die Taten und Untaten der idealisierten Gruppe. Bemerkenswert ist, dass Orwell in jedem Menschen die Neigung erkennt, sich in übertriebener Weise mit einer Gruppe zu identifizieren:
„Es muss nur ein bestimmter Ton getroffen oder an einen sensiblen Punkt gerührt werden […], und die unvoreingenommenste und sanftmütigste Person verwandelt sich in einen brutalen Parteigänger“. „Trifft man den Nerv des Nationalismus, kann der intellektuelle Anstand flöten gehen, die Vergangenheit wird geklittert und die offenkundigsten Tatsachen werden geleugnet.“ (S. 36f)
Orwell sieht also hier eine allgemeinmenschliche Tendenz am Werk, die u.U. über andere ebenso natürliche Tendenzen dominieren kann:
„Es geht um Loyalität, und deshalb zählen Mitgefühl und Bedauern nicht mehr.“ (S. 40)
Genau diese krude Verabsolutierung einer an sich wertvollen Fähigkeit zu Solidarität und Loyalität stellt das im Nationalsozialismus beschworene Prinzip dar:
„Du bist nichts, dein Volk ist alles.“
Die Gruppe wird dabei über das Individuum und seine Freiheit gestellt. Wo bleibt Mitgefühl? Wo bleibt Fairness? Wo bleibt Freiheit? Das über all dies dominierende Wirgefühl wird allerdings gestützt durch die Kategorien Heiligkeit und Reinheit. Die Nation war „heilig“, der Führer löste einen heiligen Schauer aus, wurde geradezu religiös verehrt. Vor allem aber wurde die Reinheit des arischen Blutes propagiert, was zum Genozid an allen, die man nicht dazu rechnete, führen sollte. Ein auf die Nation umgedeutetes Wirgefühl plus eine ideologische Konzeption von der Reinheit dieses Wir, konnten eine zeitlang triumphieren über die volle Menschlichkeit, in der Mitgefühl ebenso wie Gerechtigkeit und Freiheit ihren Platz haben.
„Im Dritten Reich sagte das Gewissen nicht: Es ist falsch zu töten, es sagte: Es ist falsch, nicht zu töten, wie Hannah Arendt es so präzise formuliert hat. Ermöglicht wurde dies durch eine Verschiebung in der Sprache, die sich in ihrer Reinform in Mein Kampf zeigt, wo es kein »Du« gibt, nur ein »Ich« und ein »Wir«, wodurch aus dem »Sie« ein »Es« gemacht werden kann. Im »Du« lag der Anstand. Im »Es« lag die Bösartigkeit.
Aber es waren »Wir«, die sie vollstreckten.“[7]„… wer werden wir an dem Tag sein, an dem unser Anstand auf die Probe gestellt wird? Werden wir es wagen, dem zu widersprechen, was alle denken, was unsere Freunde, Nachbarn und Kollegen denken, und darauf beharren, dass sie unanständig sind, während wir selbst anständig sind? Groß ist die Kraft des Wir, fast unzerreißbar seine Fesseln, und im Grunde können wir nur hoffen, dass unser Wir ein gutes Wir ist. Denn wenn das Böse kommt, dann sicher nicht in Gestalt eines »Sie«, als etwas Fremdes, das wir leicht von uns weisen können, es wird in Gestalt eines »Wir« kommen. Es wird als »das Richtige« kommen.“[8]
So Karl-Ove Knausgård in seinem großen Werk „Kämpfen.
Die Erweiterung des „Wir“
Das Wirgefühl ist wohl die problematischste (moralische) Intuition ist, die wir besitzen. Es muss darum gehen, das Wirgefühl zu erweitern auf die gesamte Menschheit; und auch die Tiere sollten wir in unser Mitgefühl einbeziehen. Charles Darwin hat einen solchen kulturellen Entwicklungsprozess als plausibel und naheliegend beschrieben:
„Wenn der Mensch in der Kultur fortschreitet und kleine Stämme zu größeren Gemeinwesen sich vereinigen, so führt die einfachste Überlegung jeden Einzelnen schließlich zu der Überzeugung, daß er seine sozialen Instinkte und Sympathien auf alle, also auch auf die ihm persönlich unbekannten Glieder desselben Volkes auszudehnen habe. Wenn er einmal an diesem Punkte angekommen ist, kann ihn nur noch eine künstliche Schranke hindern, seine Sympathien auf die Menschen aller Nationen und aller Rassen auszudehnen. Wenn diese Menschen sich in ihrem Äußeren und ihren Gewohnheiten bedeutend von ihm unterscheiden, so dauert es, wie uns leider die Erfahrung lehrt, lange, bevor er sie als seine Mitmenschen betrachten lernt. Wohlwollen über die Schranken der Menschheit hinaus, d.h. Menschlichkeit gegen die Tiere, scheint eines der am spätesten erworbenen sittlichen Güter zu sein.”[9]
Darwin behauptet, dass uns Erfahrung und Verstand sagen können, dass wir unser Mitgefühl und unsere Kooperationsbereitschaft mit Einzelnen nicht auf unsere Gruppe beschränken sollten, sondern alle Menschen und vielleicht auch die Tiere in unsere positiven Gefühle und Handlungen einbeziehen sollten.
Der dominierende Trend zum Individualismus könnte das Gruppendenken entschärfen. Aber der Einzelne bleibt angewiesen auf Erfahrungen des Wirgefühls, und sei es nur das Gefühl der Verbundenheit mit einem virtuellen Wir im Netz, mit dem man spezielle Interessen oder Deutungen teilt. Damit geht schnell die Vorstellung und das Empfinden einher: Wir sind mehr/besser/richtiger als Die. Und das Netz hat die Möglichkeit, dass sich Gleichgesinnte, Anhänger der verschiedensten „Theorien“ finden und austauschen und damit ein Wir entwickeln, extrem gefördert.
Der bedeutende Primatenforscher Frans de Waal meinte[10]:
So merkwürdig es klingen mag, ich hätte Bedenken, die menschliche Natur radikal zu verändern. Doch wenn ich eines ändern könnte, würde ich die Grenzen des Zusammengehörigkeitsgefühls erweitern. Angesichts so vieler verschiedener Gruppen, die auf unserem überfüllten Planeten unmittelbar Berührung haben, ist die übermäßige Bindung an die eigene Nation, Gruppe oder Religion heute das größte Problem. Menschen sind zu extremer Geringschätzung gegenüber jedermann fähig, der anders aussieht oder denkt […].
Auf die Frage, wieso von ihm niemals die Zahl der im Irakkrieg getöteten Zivilisten genannt werde, antwortete Donald Rumsfeld: „Wir zählen die Opfer anderer Völker nicht.“
Empathie für „andere Völker“ ist der Rohstoff, den die Welt dringender braucht als Öl. Es wäre wunderbar, wenn wir wenigstens ein Quentchen davon herstellen könnten.
[1] Kwame Anthony Appiah: Identitäten. Die Fiktionen der Zugehörigkeit, München: Hanser Verlag 2019, S. 58.
[2] George Tabori: Dieses peinliche Wort: Liebe, Rede zum Georg-Büchner-Preis 1992, DIE ZEIT Nr. 43, 16.Okt. 1992 S. 71. Hier die Dankrede von 1992.
[3] David Berreby: Us and Them. The Science of Identity, Chicago: University of Chicago Press 2008: “Human beings are amazingly good at finding reasons to believe that we aren´t like them.” (S. XXf)
[4] Muzafer Sherif: The Robbers Cave experiment. Intergroup Conflict and Cooperation, Middletown, Conn; Scranton, Pa: Wesleyan University Press 1988. Vgl. aber dazu auch kritisch Rutger Bregman: Im Grunde gut, 2020, S. 170–175.
[5] Heinrich Wefing: Wie tolerant sind die Deutschen? in DIE ZEIT Nr.35/2017.
[6] Max Czollek: Gegenwartsbewältigung, München 2020, S. 180.
[6b] David Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur, Buch III. Teil 2 Abschn. 1, Hamburg: Felix Meiner 1978, S. 224-
[7] Karl Ove Knausgård: Kämpfen, München: btb Verlag 2018, S. 898.
[8] Knausgård a.O. S. 900.
[9] Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen, Stuttgart: Kröner Verlag 4. Aufl. 1982, S. 155f.
[10] Frans de Waal: Das Prinzip Empathie, München: Carl Hanser Verlag 2011, S. 263.
Vgl. auch den Blogbeitrag zum Thema Solidarität