Vinzent von Gogh malte immer wieder biblische Motive. Er ist dabei sehr behutsam, in großer Achtung vor dem Bibeltext und meist in Anlehnung an künstlerische Darstellungen von Autoritäten vor ihm, besonders Delacroix.
Wer ist mein Nächster? Das war die Ausgangsfrage, die Jesus veranlasste, die Geschichte vom Barmherzigen Samariter zu erzählen.
Wen wir als unseren Nächsten betrachten, wem wir nahe kommen, wem wir erlauben, uns nahe zu kommen – damit geht jeder und jede von uns um, mehr oder weniger überlegt, mehr oder weniger flexibel.
Wer einen nahen Nächsten hat, der hat viel.
Nahe, näher, am nächsten. Mein Nächster, meine Nächste, ein starkes Wort. Haben wir überhaupt einen Nächsten? In manchen Zeiten mag uns allein Gott noch ein Nächster sein, wie Rilke einmal als Gebet dichtete: „Du bist der Nächste meiner Nächte.“
Jesus bringt den kühnen Gedanken ins Spiel, dass wir uns dafür offenhalten sollten, dass uns ein ganz Fremder zum Allernächsten wird; und er erzählt von dem Samariter, der dem Verletzen zum Allernächsten geworden ist. Wir brauchen hier nur bei von Gogh zu sehen, wie der Samariter den Verletzten auf seinen Maulesel hebt. Das geht nicht, ohne dass die Körper dicht an dicht sind, ungeachtet von Blut und Schweiß.
Van Gogh hat diese Szene dargestellt, in der der Samariter den verletzten Mann auf das treu dastehende Tier hebt. In diesem Augenblick lastet das ganze Gewicht des Verletzten auf dem Oberkörper, ja auf dem Gesicht des Helfers.
Ich denke, dass dies vielleicht die größte Herausforderung ist für Ärzte, vielleicht noch mehr für Pflegende: einem Menschen sehr schnell am allernächsten zu kommen. Wir haben uns den Patienten nicht ausgewählt, sind nicht mit diesem Körper vertraut geworden, wie es in einer intimen Beziehung geschieht, wo die gewachsene Beziehung und Vertrautheit hilft, dem Körper des anderen mit liebevoller Nachsicht zu begegnen.
Das kann auch für den, der gepflegt wird, keine Kleinigkeit sein, jemanden so nahe an sich heranzulassen, und so steht der Pflegende vor der doppelten Aufgabe, weil er solche Nähe herstellen muss und gleichzeitig taktvoll den anderen in seiner Integrität zu schützen hat. Das erfordert emotionale Kompetenz in hohem Ausmaß.
Echte Nähe. Nicht nur für den, der Hilfe leistet. Auch der, der Hilfe empfängt, muss damit umgehen, dass er zum Zwecke des Hilfeempfangens Nähe zulässt.
Das ist nicht so selbstverständlich. Wir leben in einer Kultur des Hilfegebens nicht des Hilfeempfangens und so ist ja auch die Diskussion um Sterbehilfe nicht ganz loszulösen von der Tatsache und dem Problem, dass viele alte Menschen nicht zur Last fallen wollen.
Van Gogh selbst hat sich wohl weniger mit dem Samariter identifiziert als mit dem Verletzten. Er malt dieses Bild in seinem Todesjahr 1890, aber sein ganzes Leben war von Leiden und Scheitern gezeichnet. Im Kunsthandel hatte er keinen Erfolg, das Theologiestudium überfordert ihn, er wirkt eine zeitlang als Hilfslehrer und Laienprediger.
Erst 1880 entschließt er sich, Künstler zu werden und sein ganz unglaublich umfangreiches Werk entsteht so in den 10 Jahren bis zu seinem Tod 1890. Und diese ganze Zeit ist er auf die Unterstützung seines jüngeren Bruders angewiesen, finanziell (obwohl es diesem auch nicht immer gut ging) und seelisch. Immer ging es van Gogh um die Wahrhaftigkeit in der Erfassung menschlichen Lebens.
Eine anklagende, kritische oder karikierende Note fehlt in seinem Werk völlig. Die Distanz hatte er nicht.
Und auch wenn er psychisch erkrankt, phasenweise unter Halluzinationen leidend, sich zuerst ein Ohr abschneidet, und schließlich eine Kugel in die Brust schießt, so kann man doch nicht sagen, dass sein Leben Verzweiflung ohne Trost, Einsamkeit ohne Nähe gewesen sei; er stirbt in den Armen seines Bruders.
Die Geschichte vom Barmherzigen Samariter ist in der Welt.
Sie tut ihre Wirkung. Wer ist mein Nächster? Bin ich nur mir selbst der Nächste? Selbst wenn manches dann leichter wäre, so wäre es doch ein ärmeres Leben.
Auch der, der diese Geschichte erzählt hat, ließ sich anrühren von Menschen, die ihm zufällig begegneten. Diese Geschichte konnte nur so wirksam werden weil der, der sie erzählte auch so lebte und auch dafür starb, dass wir einander Nächste werden und uns zu vergewissern, dass wir Nächste Gottes sind, so dass jeder, wenn er doch einmal allein wäre, sprechen könnte: Du bist der Nächste meiner Nächte.