Lithographie in vier Farben. Maternité/Mutterschaft von 1963.
Picasso widmete dieses Motiv im Jahre 1963 der Movement de la Paix du Monde, der internationalen Friedensbewegung. Man kann sich vorstellen, dass die Zeichnung in wenigen Sekunden entstanden ist und doch: was entstanden ist, ist das Bild einer großen Innigkeit. Überall Rundungen, die Wärme und Geborgenheit vermitteln. Die Hände sind auf ganz kindliche Weise gezeichnet.
Als mir dieses Bild zum ersten Mal begegnete, las ich zufällig gerade ein Buch von Tilmann Moser, in dem er eine Verbindung von Andacht und Stillen herstellt. Moser hat bekanntlich mit der Gottesvergiftung ein Buch geschrieben, das auf bedrückende und faszinierende Weise abrechnet mit dem allwissenden, verfolgenden, beängstigenden Gott seiner Pfarrerssohnkindheit. Im Lauf der Jahre hat er Zug um Zug erkannt, inwiefern es auch ein erträgliches, ja ein hilfreiches Gottesbild gibt – und darüber ein Buch geschrieben: Von der Gottesvergiftung zu einem erträglichen Gott, Stuttgart 2003. Zunächst aber thematisiert er darin das Erleben von Andacht – und nimmt Bezug auf das Stillen:
„Mütter, die stillen, sprechen […] von ihrer Andacht bei diesem Vorgang, und sie wissen […], dass der Säugling, wenn Gier und Hunger beseitigt sind, in diese Andacht einbezogen ist.“ (S. 29).
Es handelt sich gleichsam um ein „Sich-Sonnenbaden im Miteinander sein“. Der Säugling, den Picasso hier zeichnet, ist noch nicht andächtig, er hat die Augen geöffnet, auf 20 cm sieht er bereits scharf, wie Säuglingsforscher uns versichern, also eben das Gesicht der Mutter. Wir können uns sein Saugen teils gierig, teils lustvoll spielerisch vorstellen, aber die Mutter scheint in die Gemeinsamkeit versenkt zu sein. Vielleicht schaut auch sie ihn an, aber ich habe eher das Gefühl, sie schaut in ihr inneres „Mit-dem-Kind-Sein“.
Moser erzählt von sich selbst, die besondere Qualität einer Stimmung der Andacht sei ihm bewusst geworden als Stimmung, „die zwischen mir und einem Patienten entstanden ist.“ In der Situation der Therapie eine andächtige Stimmung? Ein Berührtsein, miteinander Angerührtsein, miteinander Innehalten angesichts von etwas, was nicht weiter analysiert werden kann und nicht analysiert zu werden braucht?
„Erst allmählich wurde deutlich, dass Kinder in einem bestimmten Alter, vielleicht auch zu verschiedenen Zeitpunkten in der Entwicklung, neben vielen anderen Möglichkeiten, die Fähigkeit zur Andacht entwickeln, der eine wichtige Bedeutung für den Aufbau ihrer seelischen Welt zukommt.“ (S. 24)
Fähigkeit zur Andacht entwickeln – fallen uns Situationen aus unserer Kindheit ein? Moser meint, die Fähigkeit zur Andacht sei ein kostbares Gefäß und es sei entscheidend, welche Inhalte die Erwachsenen in dieses kostbare Gefäß hineingießen. Er hat in seiner Kindheit einen Missbrauch seiner Bereitschaft und Fähigkeit zur Andacht durchgemacht. Die Fähigkeit zur Andacht kann aber, so Moser jetzt: „eine gewaltige Quelle von Kraft und seelischem Reichtum“ sein (S. 27).
Bei der Andacht handelt es sich „um Zustände, bei denen seelisches und leibliches Erleben eng verschlungen sind“, meint Moser. „Eine entfaltete Andacht ohne körperliche Signale scheint mir undenkbar.“ Nun, in manchen Meditationsformen versuchen Menschen alle räumlichen Signale herunterzudimmen, bis sich gar ein Gefühl mystischer Einheit und Auflösung der Körpergrenzen einstellt, der obere Scheitellappen ist nahezu ausgeschaltet wie Neurowissenschaftler feststellen.
Andacht im Sinne Mosers wäre etwas anderes: Sich gerade wahrnehmen neben anderen, die gerade ebenso friedlich gesinnt sind wie ich, mit denen mich dies verbindet, vielleicht auch anderes. Sich gerade wahrnehmen in einem Raum, in dem klar ist, dass wir hier Suchende sein können. In einem Raum, in dem es kein Besser oder Schlechter, Höher oder Tiefer gibt. Wir sind alle Menschen und atmen dieselbe Luft, sie strömt in unsere Lungen ohne unser bewusstes Zutun, wir brauchen keine Anstrengung, es genügt unser Ich auftauchen zu lassen und ihm die Hand zu reichen, als wäre es ein anderer, ernsthaft und freundschaftlich.
Augenblicke der Andacht genießen geht fast überall und immer.