Ein paar Lebensdaten und Überblick über sein Werk
2025 ist ein doppeltes Jubiläumsjahr für Albert Schweitzer: Vor 150 Jahren wurde er geboren, am 14. Januar 1875 und vor 60 Jahren ist er gestorben am 4. September 1965 – mit 90 Jahren. Er starb in Lambarene, wo er auch bestattet ist und wo er seit 1913 immer wieder jahrelang für seine große Aufgabe als Arzt lebte und arbeitete.
Jeder weiß, dass Albert Schweitzer eine ganz außerordentliche Persönlichkeit gewesen ist.
Viele waren – und auch mir ging es so – besonders beeindruckt von seinen lakonischen autobiografischen Schriften: „Aus meiner Kindheit und Jugendzeit“ (1924) und „Aus meinem Leben und Denken“ (1931).
Wir wissen, dass er nach seinem Theologiestudium noch Medizin studierte, um in Afrika tätig zu sein. Wir wissen, dass er hervorragend die Orgel spielte. Theologe und Arzt und Organist. Aber ist uns klar, dass er auch Orgelsachverständiger war und zig Orgeln begutachtet hat, sich für den Erhalt alter Orgeln einsetzte? Ist uns bewusst, dass er neben Theologie auch Philosophie studierte, u.a. an der Pariser Sorbonne, und in Philosophie mit 24 Jahren promovierte? Mit 26 promovierte er in Theologie, in der er sich mit 27 Jahren auch habilitierte. Er war dann Vikar, Dozent für Theologie, veröffentlichte gleichwohl mit 30 Jahren in französischer Sprache auf Anregung seines Pariser Orgellehrers, des bekannten Charles-Marie Widor, ein Buch über Johann Sebastian Bach, das diesen in Frankreich bekannter machen sollte und auf Grund des Erfolges dann ins Deutsche übersetzt werden sollte. Schweitzer wollte es aber für die informiertere deutsche Leserschaft überarbeiten und erweitern – auf einen Umfang von 850 Seiten. Gleichwohl wurde es bereits 3 Jahre später veröffentlicht. In diesen drei Jahren studierte er aber auch bereits Medizin. Nach dem Medizinstudium (inklusive Tropenmedizin in Paris) promovierte er mit 38 Jahren das dritte mal.
Im Juni 1912 heiratete er Helene Breßlau (18.6.), eine ganz außerordentliche Frau. Es gibt über sie ähnlich viele Biografien wie über ihren Mann.
Wir wollen nicht übertreiben: Schweitzer berichtet, dass er als Kind das Gefühl hatte, Schwierigkeiten mit dem Schreiben und Rechnen zu haben. Er wirkte auch etwas verträumt, so dass der Schuldirektor schon vorschlug, ihn vom Gymnasium zu nehmen. Und er berichtet von peinlichen Situationen später bei Prüfungen im Studium, weil ihm dann doch Zeit zum Lernen gefehlt hatte. Aber auch so war diese unfassbare Leistung nur mit einer äußerst robusten Gesundheit möglich und Schweitzer schreibt selbst, dass er nur wenig Schlaf benötigte.
In meinem Studium wurde ich gleich zu Beginn mit Schweitzers Geschichte der Leben-Jesu-Forschung konfrontiert, ein Jahr nach seinem französischen Bach-Buch erschienen, über 600 Seiten. Er legt dar, wie jede
„Epoche der Theologie [er bezieht sich auf das 18. und 19. Jhdt.] ihre Gedanken in Jesus [fand], und anders konnte sie ihn nicht beleben. Und nicht nur die Epochen fanden sich in ihm wieder: jeder einzelne schuf ihn nach seiner eigenen Persönlichkeit. Es gibt kein persönlicheres historisches Unternehmen, als ein Leben-Jesu zu schreiben. …“[1]
Schweitzer nahm trotzdem nicht Abstand davon, selbst den historischen Jesus herauszuarbeiten. Das Charakteristische an Jesus sei,
„daß er über die Vollendung und Seligkeit des Einzelnen hinaus auf eine Vollendung und Seligkeit der Welt und einer erwählten Menschheit ausschaut. Er ist von dem Wollen und Hoffen auf das Reich Gottes hin erfüllt und bestimmt.“[2] Jesus habe unter der Naherwartung gelebt. „Im letzten Grunde ist unser Verhältnis zu Jesus mystischer Art. … Sofern wir untereinander und mit ihm eines Willens sind, das Reich Gottes über alles zu stellen, um diesem Glauben und Hoffen zu dienen, ist Gemeinschaft zwischen ihm und uns und den Menschen aller Geschlechter, die in demselben Gedanken lebten und leben.“[3]
Eine zweite Überraschung bescherte mir Schweitzer, als ich eine Seminararbeit schreiben wollte zur Einschätzung Jesu aus charakterpsychologischer Sicht. Damals hatte ja die Psychoanalytikerin Hannah Wolf das Buch „Jesus der Mann“ veröffentlicht, in dem sie an C. G. Jung anknüpfend Jesus als integrierten Mann charakterisierte, der auch die weibliche Anima nicht verdrängte, sondern integrierte. Und ich hatte die Idee Jesus aus der Perspektive des Psychoanalytikers Fritz Riemann zu betrachten, der mit seinen 4 Grundformen der Angst ja eine interessante Charaktertypologie geschrieben hat mit unzähligen Auflagen.
Auf jeden Fall stieß ich zu meiner Überraschung auf die medizinische Doktorarbeit von Schweitzer mit den Titel: Die psychiatrische Beurteilung Jesu.
Schweitzer schreibt, dass er sich quasi verpflichtet sah, sich dieser Frage zuzuwenden, weil er selbst ja einen – uns nicht mehr so leicht zugänglichen – Aspekt in der Verkündigung Jesu betont hatte, dass Jesus nämlich in der Erwartung des Reiches Gottes stand. Es müsse „angenommen werden, daß Jesus sich für den Messias gehalten und seine glanzvolle Wiederkunft auf den Wolken des Himmels erwartet hat“[4], und das in Kürze, so dass wir sagen müssen, dass Jesus sich hier geirrt hat.
Jesus sagte ja so seltsame Sachen wie: „Ich sah den Satan als Blitz vom Himmel fallen“ (Luk. 10,18) – und Sie verstehen, dass man Schweitzer vorwerfen konnte, Jesus mit seiner apokalyptischen Naherwartung so zu darzustellen, dass sich seine Anschauungswelt wie ein „Wahnsystem“ ausnehme.
Schweitzer meint aber, dies widerlegen zu können: Jesus handelt durchgängig überlegt und zielgerichtet; er sucht „durch Handlungen, denen ein provokatorischer Charakter anhaftet – Vertreibung der Händler und Wechsler aus dem Tempelvorhof, Reden gegen die Pharisäer (Matth 23) – einen Konflikt mit der Obrigkeit herbeizuführen und ein Einschreiten gegen ihn zu erzwingen, bis er zuletzt den Hohen Rat zum Entschluß bringt, sich seiner noch vor dem Feste zu entledigen.“
Dass er ein Einschreiten der Obrigkeit gegen ihn bewusst erzwingt, könne „man keineswegs […] als krankhafte Selbstaufopferung bezeichnen“[5].
Aber ehrlich gesagt: das würde heute definitiv nicht als medizinische Doktorarbeit durchgehen, und gehört zu den Prüfungsherausforderungen, für die Schweitzer dann doch die Zeit etwas knapp wurde. Denn die Promotion war im Februar 1913 und im März startete er nach Lambarene und da waren eine Menge Vorbereitungen zu leisten.
Die dritte Überraschung hat mir Schweitzer erst vor zwei Jahren bereitet, als ich feststellte, dass er eigentlich die meiste Zeit seines schreibenden und studierenden Lebens an einer Geschichte der Ethik gearbeitet hat, natürlich nicht zuletzt, um seine eigene Ethik zu erläutern und zu plausibilisieren.
Er erklärt einmal, er hätte sich nie mit einem Thema beschäftigen können, ohne die Forschungsgeschichte zu betrachten, so ging es ihm beim Leben Jesu, bei der Abendmahlsthematik und so erst recht beim Thema Ethik. Denn: diese Geschichte hat ihn nicht mehr losgelassen. 1923 veröffentlichte Schweitzer das Buch Kulturphilosophie, das auf Vorarbeiten in der Zeit des 1. Weltkrieges zurückgeht (mit den beiden Teilen: „Verfall und Wiederaufbau der Kultur“ und „Kultur und Ethik“), aber im Jahr 2000 wurden weitere Teile, die auf Entwürfen Schweitzers beruhen, veröffentlicht mit ca. 480 Seiten.
Und so kann man sagen, dass das Hauptinteresse Schweitzers auf der Entwicklung der menschlichen Kultur und insbesondere der Ethik lag.
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[1] Schweitzer: Geschichte der Leben-Jesu-Forschung (Gütersloher Taschenbücher / Siebenstern 77), o.O. 31977, S. 48 (Originalausgabe 1906). Noch zur 6. Auflage im Jahr 1950 schreibt Schweitzer eine ausführliche Vorrede, in der er bemerkt: „Die Leben-Jesu-Forschung ist eine Wahrhaftigkeitstat des protestantischen Christentums.“ (Ebd. S. 42)
[2] Ebd., S. 623.
[3] Ebd., S. 629.
[4] Schweitzer: Die psychiatrische Beurteilung Jesu. Darstellung und Kritik, Tübingen 1913 1913, S. 5.
[5] Ebd., S. 36.
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Entwicklung
Schweitzer muss eine recht unbeschwerte Kindheit in Günsbach verbracht haben, wo sein Vater Pfarrer war, und er ihn später oft vertreten hat.
Er war sich seiner privilegierten Familie sehr bewusst und hat als Kind darauf bestanden, auch in den Holzschuhen zur Schule zu gehen wie die Kinder der Bauernfamilien. Und so ist es nur folgerichtig, wenn er später schreibt:
„Der Plan, den ich nun zu verwirklichen unternahm, trug ich schon länger mit mir herum. Sein Ursprung reicht in meine Studentenzeit zurück. Es kam mir unfasslich vor, dass ich, wo ich so viele Menschen um mich herum mit Leid und Sorge ringen sah, ein glückliches Leben führen durfte. Schon auf der Schule hatte es mich bewegt, wenn ich Einblick in traurige Familienverhältnisse von Klassenkameraden gewonnen und die geradezu idealen, in denen wir Kinder des Pfarrhauses zu Günsbach lebten, damit verglich.“[1]
„An einem strahlenden Sommermorgen, als ich – es war im Jahre 1896 – in Pfingstferien zu Günsbach erwachte, überfiel mich der Gedanke, dass ich dieses Glück nicht als etwas Selbstverständliches hinnehmen dürfe, sondern etwas dafür geben müsse.“[2]
So „wurde ich, bevor ich aufstand, in ruhigem Überlegen, während draußen die Vögel sangen, mit mir selber dahin eins, dass ich mich bis zu meinem dreißigsten Lebensjahr für berechtigt halten würde, der Wissenschaft und der Kunst zu leben, um mich von da an einem unmittelbaren menschlichen Dienen zu weihen. Gar viel hatte mich beschäftigt, welche Bedeutung dem Wort Jesu, »Wer sein Leben will behalten, der wird es verlieren, und wer sein Leben verliert um meinet– und des Evangeliums willen, der wird es behalten«, für mich zukomme. Jetzt war sie gefunden. Zu dem äußeren Glücke besaß ich nun das innerliche.“[3]
Ich habe vor kurzem das neue Buch von Rutger Bregman gelesen und da thematisiert er die – man kann sagen – fatale Tatsache, dass es irgendwann Mode geworden ist, dass die klügsten und besten Studierenden entweder in der Finanzbranche oder in der Unternehmensberatung enden. Das gilt für nicht weniger als 45% der Harvard Absolventen[4] Moralische Ambition? Leider Fehlanzeige, obwohl doch in der Vergangenheit die klügsten oft dem Wohle der Menschheit dienen wollten. Der Untertitel des Bregman-Buches lautet dementsprechend: Wie man aufhört, sein Talent zu vergeuden, und etwas schafft, was wirklich zählt.
Warum wird Albert Schweitzer als guter Mensch betrachtet? Ein Grund dafür ist, dass er – wie alle Menschen – einen Sinn für Gerechtigkeit hatte und der besagte: mir ist so viel geschenkt und zugefallen, da ist es nur recht und billig, dass ich anderen etwas weitergebe. Man muss sich zunächst von anderen isoliert haben, um diese selbstverständliche Verpflichtung nicht mehr zu empfinden, bzw. nur andere Reiche kennen.
Schweitzer empfindet die allgemeinmenschliche Verpflichtung zur Reziprozität, hier nicht einer anderen Person gegenüber, sondern dem Schicksal oder wem immer er seine Privilegierung zuschreibt.
Reziprozität im Geben und Nehmen ist in den nahen zwischenmenschlichen Beziehungen so fest in uns verankert, dass wir (oder die Menschen früher) sie auch gegenüber Göttern (Opfer) oder gegenüber dem Schicksal (ich bin so privilegiert) empfinden können. Und noch eine andere Reziprozität empfindet Schweitzer: Er wird Urwaldarzt, um etwas von der „Schuldenlast, die der weiße Mann in Afrika durch Sklavenhandel und Ausbeutung auf sich geladen hat“, auszugleichen.
Zum andern ist bemerkenswert, dass er mit 21 Jahren einen Entschluss fasst, den er dann über Jahrzehnte hinweg umsetzt. Er schreibt dies seinem Nachdenken zu, vom Denken hält er bemerkenswert viel. Und so meint er auch:
„Das Denken der Menschheit ist das ergreifend zu lesende große Buch, in das wir uns nie genug vertiefen können.“[5]
Denken hat Konsequenzen, und Vorsätze setzt Schweitzer konsequent um:
„Auch [neben dem Karten-Spielen] auf das Rauchen verzichtete ich als Student, am 1. Januar 1899, für immer, weil es mir zur Leidenschaft geworden war.“[6]
Im Herbst 1904 las er zufällig in einem Heft der Pariser Missionsgesellschaft, dass diese Missionare sucht und besonders einen Arzt in Lambarene im heutigen Gabun, damals franz. Äquatorialafrika. Ursprünglich war die Missionsstation von amerikanischen Missionaren gegründet worden (einem amerik. Arzt Dr. Nassau), als Gabun französischer Besitz wurde, konnten die amerikanischen Missionare nicht, wie gefordert, in der Schule die französische Sprache unterrichten, und so übernahm die Pariser Missionsgesellschaft. Schweitzer nimmt Kontakt auf mit dem Direktor, der froh ist, dass Schweitzer nicht als Missionar, sondern als Arzt tätig werden will, weil er theologisch einfach als zu liberal galt. Irgendwie kurios, denn er muss dem Direktor ja gesagt haben: Ich studiere jetzt mal 7 Jahre lang Medizin und dann möchte ich bei euch tätig werden. Aber genauso kam es. Die Stelle war immer noch nicht oder nicht mehr besetzt. Irgendwo habe ich gelesen, dass 8 der 10 Vorgänger an einer Tropenkrankheit verstorben sind. Also 7 oder 8 Jahre später, 1912, macht Schweitzer der Pariser Missionsgesellschaft „das definitive Angebot, auf meine eigenen Kosten ihr Missionsgebiet am Ogowefluß von der zentral gelegenen Station Lambarene aus als Missionsarzt zu bedienen.“[7] Er hatte nämlich durch viele Bittgänge, Gemeindeunterstützung und seine Orgelkonzerte selbst die Mittel für alles zusammengebracht. Im März erscheint seine Doktorarbeit über die psychiatrische Beurteilung Jesu und im selben Monat des Jahres 1913 verließen Schweitzer und seine Frau Günsbach in Richtung Bordeaux.
[1] Schweitzer: Aus meinem Leben und Denken (Kap. IX: Der Entschluss, Urwaldarzt zu werden), zitiert nach Ausgewählte Werke in fünf Bänden, Union Verlag Berlin 1971, Bd. 1 S. 98.
[2] Schweitzer, ebd. S. 98f.
[3] Schweitzer, ebd. S. 99.
[4] Rutger Bregman: Moralische Ambition, Hamburg: Rowohlt, 2024 S. 25.
[5] Schweitzer: Die Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Leben. Kulturphilosophie III, Werke aus dem Nachlaß, hg. v. Claus Günzler und Johann Zürcher, C.H.Beck, München 2000, S. 56.
[6] Schweitzer: Aus meiner Kindheit und Jugendzeit, 1971, zitiert nach Ausgewählte Werke in fünf Bänden, 1971, Bd. 1 S. 272.
[7] Schweitzer: Aus meinem Leben und Denken (Kap. XI: Vor der Ausreise nach Afrika), a. O., S. 128.
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A. Schweitzer, Radierung von A.W.Heintz
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Wie Albert Schweitzer zum Gedanken der Ehrfurcht vor dem Leben kam
Schweitzer beschreibt selbst ein paar Schlüsselmomente in seinem Leben, die ihn geprägt haben.
In seiner Jugend sagte einmal ein Freund zu ihm:
„Komm, jetzt gehen wir in den Rebberg und schießen Vögel.“ „Dieser Vorschlag war mir schrecklich, aber ich wagte nicht zu widersprechen, aus Angst er könnte mich auslachen.“[1] Als Albert danebenschießen will, fingen in „demselben Augenblicke … die Kirchenglocken an, in den Sonnenschein und in den Gesang der Vögel hineinzuläuten. … Für mich war es eine Stimme aus dem Himmel. Ich tat die Schleuder weg, scheuchte die Vögel auf … und floh nach Hause. …
Von jenem Tage an habe ich gewagt, mich von der Menschenfurcht zu befreien.“[2]
„Solange ich zurückblicken kann, habe ich unter dem vielen Elend, das ich in der Welt sah, gelitten. …
Der Anblick eines alten hinkenden Pferdes, das ein Mann hinter sich herzerrte, während ein anderer mit einem Stecken auf es einschlug – es wurde nach Kolmar ins Schlachthaus getrieben – hat mich wochenlang verfolgt.“[3]
Nachdem er zwei Mal beim Angeln mit dabei war, verbot „ihm das Grauen vor der Mißhandlung der aufgespießten Würmer und vor dem Zerreißen der Mäuler der gefangenen Fische, weiter mitzumachen. Ja, ich fand sogar den Mut, andere vom Fischen abzuhalten.“[4]
So „entstand in mir langsam die unerschütterliche Überzeugung, daß wir Tod und Leid über ein anderes Wesen nur bringen dürfen, wenn eine unentrinnbare Notwendigkeit dafür vorliegt … . Ich aber gelobte mir, mich niemals abstumpfen zu lassen und den Vorwurf der Sentimentalität niemals zu fürchten.“[5]
Beim Abendgebet fehlt ihm der Einbezug der Tiere, so betet er:
„Lieber Gott. Schütze und segne alles, was Odem hat, bewahre es vor allem Übel und laß es ruhig schlafen!“
So etwas wie ein Schlüsselerlebnis ereignet sich für Schweitzer, als er bereits 2 Jahre in Afrika ist, im September 1915 während einer mehrtägigen Schifffahrt auf einem kleinen Dampfer, die er zu einer kranken Missionsdame unternimmt:
„Am Abend des dritten Tages, als wir bei Sonnenuntergang gerade durch eine Herde Nilpferde hindurchfuhren, stand urplötzlich, von mir nicht geahnt und nicht gesucht, das Wort «Ehrfurcht vor dem Leben» vor mir. Das eiserne Tor hatte nachgegeben; der Pfad im Dickicht war sichtbar geworden. Nun war ich zu der Idee vorgedrungen, in der Welt- und Lebensbejahung und Ethik miteinander enthalten sind! … [Das ist] die erste, unmittelbarste und stetig gegebene Tatsache seines Bewußtseins besinnen. Nur von dieser aus kann er zu denkender Weltanschauung gelangen.“[6] Und: „Die unmittelbarste Tatsache des Bewußtseins des Menschen lautet: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“[7]
[1] Schweitzer: Aus meiner Kindheit und Jugendzeit, 1971, zitiert nach Ausgewählte Werke in fünf Bänden, 1971, Bd. 1, S. 275.
[2] Ebd., S. 276.
[3] Ebd., S. 275.
[4] Ebd., 277f.
[5] Ebd., S. 278.
[6] Schweitzer: Aus meinem Leben und Denken (Kap. XIII: Das erste Wirken in Afrika 1913–1917), zitiert nach Ausgewählte Werke in fünf Bänden, Bd. 1, S. 169.
[7] Ebd. S. 169f.
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Zur Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben
Albert Schweitzer war fasziniert und durchdrungen von dem Phänomen des Lebens. Was ist Leben?
Leben ist in der Lage und bestrebt sich zu erhalten, nicht unbedingt als Individuum, aber indem es sich fortpflanzt, vervielfältigt. Alles Leben, das wir sehen, befindet sich am bisherigen Ende einer Ahnenkette, die bis zum Beginn und Ursprung des Lebens zurückreicht. Das finde ich übrigens einen Gedanken, der einen erschauern lassen kann. Schweitzer findet ein kritisches Minimum als Kern aller weiterführenden Erkenntnisse in dem Satz:
„Ich lebe und ich will leben und es ist unzweifelhaft, dass neben mir auch Leben ist, das Leben will.[1]
Schweitzer prägte die Formel Ehrfurcht vor dem Leben. Er sagt einmal: „Selbst wenn ich einen Krankheitserreger unter dem Mikroskop sehe, empfinde ich diesen Respekt. Auch ihm gönne ich prima facie das Leben. Aber ich töte ihn, um anderes Leben zu schützen.“ Für Schweitzer schließt das immer auch die Ehrfurcht/Achtung vor meinem eigenen Leben ein. Der „denkend gewordene Mensch [erlebt] die Nötigung, allem Willen zum Leben die gleiche Ehrfurcht vor dem Leben entgegenzubringen wie dem eigenen.“[2] Und deshalb ist es kein Widerspruch, dass er das Töten von Lebewesen als Notmaßnahme akzeptiert. Wenn ich einem Reiher, der sich einen Flügel gebrochen hat, retten will, muss ich ihn mit Fisch ernähren.
„Die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben begreift also alles in sich, was als Liebe, Hingabe, Mitleiden, Mitfreude und Mitstreben bezeichnet werden kann.“[3]
Wir können mit allem Lebendigen mehr oder weniger mitfühlen.
Sehr wichtig ist mir, dass es Schweitzer nicht nur um das Töten oder Verletzen von Leben geht, sondern
„Als gut gilt ihm: Leben erhalten, Leben fördern, entwickelbares Leben auf seinen höchsten Wert bringen; als böse: Leben vernichten, Leben schädigen, entwickelbares Leben niederhalten. Dies ist das denknotwendige, absolute Grundprinzip des Sittlichen.“[4] Das ist eine schöne Übereinstimmung mit Martha Nussbaum, die mit ihrem capability approach betont, dass Leben keine Entwicklungsmöglichkeiten genommen werden sollen, und beim Menschen gibt es nun einmal sehr weitreichende Entwicklungsmöglichkeiten. Nicht nur das momentane Glück von Menschen ist ethisch relevant, sondern auch, dass sie ihr Entwicklungspotenzial einigermaßen erkennen und ausschöpfen können – eine wichtige ethische Einsicht.
Aber für Schweitzer ist das Mitfühlen und der fördernde Umgang mit allem Leben, diese ethische Haltung „nur“ der eine Aspekt. Er gebraucht ab und zu das Bild der Ellipse mit ihren zwei Brennpunkten. Der zweite Brennpunkt ist das Motiv „des Vollkommenerwerdens“[5], die „geistige Hingebung an den geheimnisvollen unendlichen Willen …, der im Universum in die Erscheinung tritt.“[6] „Ich lebe mein Leben in Gott, in der geheimnisvollen ethischen Gottespersönlichkeit, die ich so in der Welt nicht erkenne, sondern nur als geheimnisvollen Willen in mir erlebe.“[7]
Beide Motive, das der Hingebung und das des innerlichen Vollkommenerwerdens stehen miteinander in Beziehung. Zusammen machen |sie die Nötigung zum ethischen Verhalten aus. In einer uns nicht immer deutlich bewußt werdenden Weise verstärken und ergänzen sie sich. Die Ethik ist wie ein Stromnetz, das von zwei Elektrizitätszentralen aus versorgt wird. Beide können, je nach Umständen und Erfordernissen, Strom in es einfließen lassen. Es kann der Fall eintreten, daß der Beitrag der einen fast alles und der der anderen fast nichts ausmacht. Das, worauf es ankommt, ist, daß immer hinreichend Strom in dem Netz ist, von wo aus er auch geliefert wird. Im Leben kommen wir so oft in die Lage, ein ethisches Verhalten oder Tun bewähren zu müssen, von dem Erfolg kaum oder überhaupt nicht zu erwarten ist. Die Kraft, dieses Aussichtslose dennoch zu wollen und zu leisten, finden wir nur in der Nötigung zum innerlichen Vollkommenerwerden. Um unserer selbst willen vermögen wir es in solchen Fällen, Güte, Geduld, Friedfertigkeit, Sanftmütigkeit oder was sonst erfordert ist, aufzubringen und es hinzunehmen, daß es nicht nur erfolglos bleibt, sondern auch nicht einmal anerkannt, wenn nicht gar mißdeutet wird. Zu diesem Unscheinbarsten und in seiner Art Schwersten kann uns nur die Idee des innerlichen Vollkommenerwerdens nötigen. Erst wenn die beiden Motive der Ethik miteinander vorhanden sind und ineinandergreifen, ist die Ethik lebendig und tief zugleich. Nur wenn man sich über die jedem zufallende Rolle klar wird, ist eine richtige Einsicht in die verschiedenen Arten von Ethik und deren sachliche Würdigung möglich.[8]
Schweitzer ist sich absolut im Klaren darüber, dass seine Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben in viele Dilemmata hineingerät. Jeder, der sie leben möchte, muss
„sich eingestehen, daß er es mit einer unabsehbaren, verwirrenden Vielheit von Verpflichtungen und Verantwortungen zu tun hat, denen er, auch mit Selbstaufopferung, nur zu einem ganz geringen Teil genügen kann. Die Ethik gebietet ohne Rücksicht auf völlige Durchführbarkeit.“ „Die Ethik gebietet ohne Rücksicht auf völlige Durchführbarkeit. Sie ist eine Hydra, der immerfort neue Köpfe nachwachsen.“[9] „Die Ethik ist nicht ein Park mit planvoll angelegten und gut unterhaltenen Wegen, sondern eine Wildnis, in der jeder, von seinem Pflicht- und Verantwortungsgefühl angetrieben und geleitet, seinen Pfad suchen und bahnen muß.“[10] (2000/274)
So stellt sich auch die Frage: „Wo hört in der absteigenden Linie der Lebewesen für uns die Möglichkeit und Verpflichtung auf, an ihrem Schicksal teilzunehmen und in es einzugreifen?“[11]
[1] Schweitzer zieht selbst die Parallele zwischen Descartes‘ Cogito ergo sum und seiner Grunderkenntnis vom Leben. Schweitzer: Aus meinem Leben und Denken (Kap. XIII: Das erste Wirken in Afrika 1913–1917), zitiert nach Ausgewählte Werke in fünf Bänden, Bd. 1 S. 169f.
[2] Ebd. S. 171.
[3] Ebd.
[4] Ebd.
[5] Die Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Leben, Kulturphilosophie III, Werke aus dem Nachlaß, hg. v. Claus Günzler und Johann Zürcher, C.H.Beck, München 2000, S. 131.
[6] Schweitzer, 2016 (Erstausgabe 1923), S. 83.
[7] Ebd.
[8] Die Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Leben, Kulturphilosophie III, Werke aus dem Nachlaß, hg. v. Claus Günzler und Johann Zürcher, C.H.Beck, München 2000, S. 266–267.
[9] Ebd. S. 273.
[10] Ebd. S. 274.
[11] Ebd. S. 276.
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Geschichte der Ethik
Schweitzer hat in mehrfachen Anläufen Skizzen einer Ethikgeschichte geschrieben. Das ist deshalb nicht langweilig, weil er an die Geschichte mit klar umrissenen Fragestellungen herangeht. Er unterscheidet grundsätzlich zwischen Welt- und Lebensbejahung und Welt- und Lebensverneinung. Da, wo, wie etwa im Buddhismus, das Leben als Leiden betrachtet wird, das man durch Meditation und das Aufgeben von Anhaftung aufheben kann, kann man sich zwar im Wohlwollen gegenüber allen Wesen üben, aber es gibt keinen Impuls zur Weltgestaltung. Selbst die Bodhisattvas, die nicht zur Erlösung gelangen wollen, bevor sie auch anderen den Weg ins Nirvana gewiesen haben, richten ihr Mitleid allein auf dieses Ziel, nicht auf die Bekämpfung von psychischem oder physischem Leiden oder gar eine Verbesserung der gesellschaftlichen Zustände.
„Aber das (indische) Mitleid mit der Kreatur ist unvollständig. Es gebietet nur, daß man das Töten und Schädigen von Lebewesen unterlassen solle, nicht aber auch, daß man ihnen in tätiger Weise beistehen solle.“[1]
Es gibt eine interessante Passage, in der er reflektiert, inwieweit in Indien das Gebot der Gewaltlosigkeit Ahimsa im Reinheitsgedanken (Töten oder Schlachten verunreinigt) bzw. im Mitgefühl wurzelt.[2] (II, 426) Schweitzer hat nämlich 1935 ein Buch veröffentlicht mit dem Titel: Die Weltanschauung der indischen Denker. Dieses Buch besprach Hermann Hesse zweimal in der Neuen Rundschau 1935 und im Januar 1936 in einer Stockholmer Zeitung. Schon Schweitzers Buch von 1932 „Aus meinem Leben und Denken“ hatte Hesse empfohlen.[3]
Im weltverneinenden Buddhismus wird die durchaus reiche Ethik sozusagen in der Meditation gepflegt: insbesondere Güte, Mitgefühl, Mitfreude.
Das Christentum hat dagegen eine aktive Individualethik in der Nachfolge Jesu angestrebt. Allerdings war die Weltbejahung (zunächst) sehr gebrochen durch die Erwartung des Reiches Gottes. Erst in der Renaissance und dann besonders in der Aufklärung dominierte der Optimismus, die Welt durch Ethik verändern und verbessern zu können.
„Die Aufklärungszeit und der Rationalismus hatten ethische Vernunftideale über die Entwicklung des Einzelnen zum wahren Menschentum, über seine Stellung in der Gesellschaft, über deren materielle und geistige Aufgaben, über das Verhalten der Völker zueinander und ihr Aufgehen in einer durch die höchsten, geistigen Ziele geeinten Menschheit aufgestellt. Diese ethischen Vernunftideale hatten angefangen, sich in der Philosophie und in der öffentlichen Meinung mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen und die Verhältnisse umzugestalten. Im Laufe von drei oder vier Generationen waren [enorme] Fortschritte sowohl an Kulturgesinnung wie an Kulturzuständen in einem [hohen] Maße verwirklicht worden, daß die Zeit der Kultur definitiv angebrochen und in unaufhaltbarem Weitergehen begriffen schien.
Aber um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts fing diese Auseinandersetzung ethischer Vernunftideale mit der Wirklichkeit an abzunehmen. Im Laufe der folgenden Jahrzehnte kam sie mehr und mehr zum Stillstand. Kampflos und lautlos vollzog sich die Abdankung der Kultur. Ihre Gedanken blieben hinter der Zeit zurück, als wären sie zu erschöpft, mit ihr Schritt zu halten. Wie ging dies zu?
Das Entscheidende war das Versagen der Philosophie.
Im achtzehnten und im beginnenden neunzehnten Jahrhundert war die Philosophie die Anführerin der öffentlichen Meinung gewesen.“[4]„Fichte, Hegel und andere Philosophen … versuchten eine [den ethischen Vernunftidealen] entsprechende optimistisch-ethische Totalweltanschauung auf spekulativem Wege, d.h. durch logische und erkenntnistheoretische Erwägungen über das Sein und seine Entfaltung zur Welt zu begründen. Drei oder vier Jahrzehnte lang gelang es ihnen, für sich und die anderen die kraftspendende Illusion aufrechtzuerhalten und die Wirklichkeit im Sinne ihrer Weltanschauung zu vergewaltigen. Zuletzt aber empörten sich die unterdes erstarkten Naturwissenschaften und schlugen mit plebejischer Begeisterung für die Wahrheit der Wirklichkeit die von der Phantasie geschaffenen Prachtbauten in Trümmer.
Obdachlos und arm irren die ethischen Vernunftideen, auf denen die Kultur beruht, in der Welt umher.“[5]
Während in der Aufklärungszeit Fortschritt immer auch oder sogar besonders in ethischer Hinsicht gedacht wurde, wird nun der Fortschritt wissenschaftlich und technisch gedacht und allenfalls noch gesellschaftlich. Die philosophische Ethik verkümmert.
„Aus einem Arbeiter am Werden einer allgemeinen Kulturgesinnung war die Philosophie nach dem Zusammenbruch in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ein Rentner geworden, der sich fern von der Welt mit dem, was er sich gerettet hatte, beschäftigte.“[6]
„Schon seit meinen ersten Universitätsjahren … hatte [ich] den Eindruck, daß das Feuer der Ideale herunterbrannte, ohne daß man es bemerkte oder sich Sorgen darüber machte. Bei soundso viel Gelegenheiten mußte ich feststellen, daß die öffentliche Meinung öffentlich kundgegebene Inhumanitätsgedanken nicht mit Entrüstung ablehnte, sondern hinnahm und inhumanes Vorgehen der Staaten und Völker als opportun guthieß. Auch für das Gerechte und Zweckmäßige schien mir nur noch ein lauer Eifer vorhanden zu sein. Aus soundso viel Anzeichen mußte ich auf eine eigentümliche geistige und seelische Müdigkeit des arbeitsstolzen Geschlechts schließen. Es kam mir vor, als hörte ich, wie es sich einredete, daß die bisherigen Hoffnungen für die Zukunft der Menschheit zu hoch eingestellt seien und man dazu kommen müsse, sich auf das Erstreben des Erreichbaren zu beschränken.“[7]
Für mich war das eine interessante Einsicht, dass im 19. Jahrhundert die bis dahin konstitutive Einheit von Kultur und Ethik sich auf Kosten der Ethik löste und die ethische Perspektive verkümmerte. Erst erst recht konnte sich eine Tierethik nicht recht entfalten. Schopenhauer ist hier eine Ausnahme, aber er war ja auch vom Buddhismus inspiriert. Tat tvam asi – dies bist du, „welches allezeit über jedes Tier auszusprechen ist, um uns die Identität des innern Wesens in ihm und uns gegenwärtig zu erhalten, zur Richtschnur unseres Tuns.“[8]
Aber natürlich muss ich hier als ehemaliger Pfarrer an der Leonhardskirche an den evangelischen Pfarrer Christian Adam Dann erinnern, der 1822 die m.W. erste Schrift gegen Tierquälerei veröffentlichte: „Bitte der armen Thiere, der unvernünftigen Geschöpfe, an ihre vernünftigen Mitgeschöpfe und Herrn, die Menschen.“ 1837 gründete dann sein Freund und Nachfolger an der Leonhardskirche Albert Knapp, als Liederdichter bekannt, den ersten Tierschutzverein in Deutschland.
[1] Philosophie und Tierschutzbewegung, zit. nach Ausgewählte Werke in 5 Bänden, Bd. 5, S. 137.
[2] „Aber auch an meiner Meinung, daß die Welt- und Lebensverneinung an sich ohne Ethik ist, daß das Ahiṃsā-Gebot nicht aus einem Gefühl des Mitleids erwächst, sondern aus dem Gedanken, sich von der Welt rein zu halten, und daß das Motiv des Mitleids in der Ahiṃsā erst später Platz fand, könnten indische Leser Anstoß nehmen.“ Schweitzer: Die Weltanschauung der indischen Denker: Mystik und Ethik (Beck’sche Reihe 332), S. 22.
[3] Vgl. Volker Michels: Hand anlegen, statt predigen!. Hermann Hesse und Albert Schweitzer, in: Albert Schweitzer, Hundert Jahre Menschlichkeit, Festschrift des Deutschen Hilfsvereins für das Albert-Schweitzer-Spital in Lambarene, hg.v. EInhard Weber, 2013, S. 78–83.
[4] Schweitzer: Kulturphilosophie. Verfall und Wiederaufbau der Kultur. Kultur und Ethik (Beck’sche Reihe 1150), München 22016 (Erstausgabe 1923) S. 16.
[5] Ebd., S. 17.
[6] Ebd., S. 19.
[7] Schweitzer: Aus meinem Leben und Denken (Kap. XIII: Das erste Wirken in Afrika 1913–1917), zitiert nach Ausgewählte Werke in fünf Bänden, Bd. 1, S. 158f.
[8] Parerga und Paralipomena II, Sämtl. Werke, hg.v. W.v.Löhneysen, Bd. V S. 441, 1851.
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Kritik
Positiv überrascht war ich, bei Schweitzer folgenden Gedanken zu finden: „Etwas, das in einem Instinkt vorgebildet ist, greift es [das Denken] auf, um es auszudehnen und zur Vollkommenheit zu bringen. Es erfaßt den Inhalt eines Instinktes und sucht ihn in neuen und konsequenten Verfahren zu verwirklichen.“[1]
Hier finde ich bei Schweitzer eine Herangehensweise wieder, die mich selbst motiviert: nämlich moralische Intuitionen zu beschreiben und diese ethisch zu reflektieren und zu modifizieren.
Die sechs moralischen Intuitionen, die ich nach Jonathan Haidt für absolut plausible Universalien des Menschen halte, können als heuristisches Mittel dienen mit der Frage: Welche Rolle spielen sie bei Albert Schweitzer:
Gleich die erste Intuition, Mitgefühl, spielt die überragende Rolle. Aber die anderen?
Gerechtigkeitsgefühl. Dieses spielt in Schweitzers ethischen Reflexionen praktisch keine Rolle. Ich hatte aber schon darauf hingewiesen, dass ihn der Kern des universalen Gerechtigkeitsgefühls, nämlich das Gleichgewicht von Geben und Nehmen, ja zu seinem altruistischen Leben motiviert hat: Ihn „überfiel“ ja regelrecht der Gedanke, dass er sein Lebensglück „nicht als etwas Selbstverständliches hinnehmen dürfe, sondern etwas dafür geben müsse.“ Vereinzelt thematisiert er die Reziprozität zwischen Mensch und Tier: „Gerade dadurch, daß das Tier als Versuchstier in seinem Schmerz so Wertvolles für den leidenden Menschen erworben hat, ist ein neues, einzigartiges Solidaritätsverhältnis zwischen ihm und uns geschaffen worden. … Indem ich einem Insekt aus seiner Not helfe, tue ich nichts anderes, als daß ich versuche, etwas von der immer neuen Schuld der Menschen an dieser Kreatur abzutragen.“ (Kulturphilosophie, Beck’sche Reihe 1150, 1996, 1. Auflage 1923, S. 317.)
Das Thema Kooperation hat Schweitzer in seinen Hauptschriften ebenfalls nicht ausführlich thematisiert. Aber er weiß natürlich um das Problem der Verwandtschaftsbande, die in den meisten Kulturen dominieren. „Für den Primitiven hat die Solidarität enggezogene Grenzen. Sie beschränkt sich auf seine Blutsverwandten im weiteren Sinne, das heißt auf die Mitglieder seines Stammes, die für ihn die Familie im Großen repräsentieren.“ (V, 143) Im Hospital wird Fürsorge untereinander nur für Stammesangehörige geleistet und darauf stellt sich Schweitzer ein. Schweitzer sieht die Ausweitung des Kreises der Fürsorge begründet in einer „Höherentwicklung des menschlichen Denkens.“ Es finden sich in seinen Schriften aus dem Nachlass interessante Passagen, die an die extending circles von Peter Singer erinnern:
„Die Anregung, den Kreis der Zusammengehörigkeit mit anderen Menschen weiter zu ziehen, empfängt er nicht nur durch die Vergegenwärtigung der zwischen ihm und ihnen bestehenden Wesensverwandtschaft, sondern auch aus der für ihn gegebenen Möglichkeit einer umfassenden Betätigung für andere. Durch seine sich stets entwickelnden Fähigkeiten wird er dazu geführt, sich mit seiner Verbundenheit auch mit dem ihm ferner stehenden Leben zu beschäftigen. Die Bedeutung dieser materiellen Voraussetzung für die ethische Entwicklung des Menschen ist in den bisherigen Untersuchungen viel zu wenig beachtet und gewürdigt worden.“ (2000, S.265.)
Und natürlich bezieht er die Tiere in gewisser Weise in ein Wir ein: Wir Lebewesen wollen leben.
Das Thema Freiheit spielt – so weit ich sehe – in Schweitzers Ethik keine Rolle.
Der Aspekte der Heiligkeit ist bei Schweitzer natürlich gut aufgehoben in der Ehrfurcht vor dem Leben. Übrigens geht es nicht nur um Ehrfurcht vor allem Lebendigen, sondern Ehrfurcht vor dem Leben in allem Lebendigen.
Und der Aspekt der intuitiven Wertschätzung des kulturellen Wissens spielt ebenfalls eine zentrale Rolle. Er ringt ja um die Bewahrung und Wiederherstellung einer Kultur, weil er weiß, dass wir Menschen uns nach dem, was en vogue ist, ausrichten.
Dass insbesondere die Aspekte Gerechtigkeit und Freiheit in seiner expliziten Ethik nahezu fehlen, ist ein echter Mangel. Sie lassen sich auch nicht ohne Weiteres im Mitgefühl unterbringen. Alle denkerischen Bemühungen um Ethik scheitern, wenn sie nicht eine Pluralität von ethisch-moralischen Grundprinzipien anerkennen.
Dagegen stimme ich mit Schweitzer darin überein, dass wir keine philosophische Formel haben wie den kategorischen Imperativ, die uns eine ethische Reflexion abnehmen oder erleichtern könnte. Und auch darin:
„Es gibt nur eine einzige Ethik, keine philosophische, keine wissenschaftliche, keine theologische —sondern nur eine Ethik.“[2]
Ich denke, wir brauchen eine Plurale Ethik. Denn: „Welche Standpunkte wir, wenn alle Argumente ausgetauscht werden, am Ende einnehmen, hängt vom Insgesamt unserer gefühlten Überzeugungen ab.“ (Weyma Lübbe, Zschr.f.Ev.Ethik 53 S.23) In unsere ethisch-moralischen Überzeugungen geht alles ein, was wir erlebt und erfahren haben, was wir wissen, was wir glauben, wie wir neurologisch prädisponiert sind, wie unsere Stimmung ist usw.
Aber wenn es um konkrete ethische Dilemmata geht, können wir uns oft, ich würde sogar sagen, meist gut miteinander verständigen. Letztlich verschmelzen sich ja in einem intensiven Austausch die Horizonte, zum Teil jedenfalls.
Schweitzers Thema ist das Leben in allem Lebendigen. Aber ist es nicht das Kennzeichen des Lebendigen, dass es sich entwickelt, korrekter: dass es einen evolutiven Prozess durchläuft? Schweitzer spricht unbefangen von höheren Lebensformen. Und tendenziell erkennt er den Unterschied an, den es für mein Mitfühlen macht, ob ein Lebewesen Schmerz empfinden kann oder nicht, für mein Mitfreuen, ob es (offenkundig) Lebensfreude empfindet oder nicht. Klar, die Kraft des Lebens wirkt auch in einer Pflanze und in einem Bakterium. Aber kann nicht auch ein Ökosystem mein ehrfürchtiges Staunen erregen? Oder sogar der ganze Baum oder Strauch der Evolution alles Lebendigen – wie ja in den ersten Versen der Bibel „Gott erschafft ein jedes nach seiner Art“ das Augenmerk auf die Vielfalt gerichtet wird, und auf die wachsende Komplexität des Lebens. Ich höre den Widerspruch: es gibt keine Höherentwicklung: Jedes, auch das einfachste Lebewesen, das an seine aktuelle Umwelt angepasst ist, ist perfekt entwickelt, jedenfalls bis auf weiteres. Was soll Komplexität überhaupt sein? Die Frage lässt sich jedoch beantworten: Integration von Vielfalt.
Müssten wir nicht das, was für die bunte Vielfalt des Lebens des Lebens sorgt, diesem evolutiven Prozess mit der Ehrfurcht begegnen, die Schweitzer für das Leben erfahren und proklamiert hat?
Hier stehen wir mitten in einem teilweise erbittert geführten Streit zwischen Tier- und Artenschützern. Soll man, darf man eingeführte Ziegen schießen, weil sie das Ökosystem auf Inseln zerstören? Ratten vergiften, weil sie die Vogelgelege plündern? Darf man Tiere töten, um die Vielfalt des Lebens zu schützen?
In der Regel muss es sich natürlich nicht ausschließen, dass wir für das Tierwohl und für Biodiversität eintreten. Angesichts der Monstrosität, dass eine biologische Art namens Homo sapiens, ein 6. globales Artensterben verursacht und auch seine Lebensgrundlagen beschädigt und gefährdet, wäre nötig, was Schweitzer uns einschärfen wollte: Denkt mal nach und in die Tiefe und fangt an danach zu leben. „Nachdenklich machen ist die tiefste Art zu begeistern.“[3]
[1] Schweitzer: Kulturphilosophie. Verfall und Wiederaufbau der Kultur. Kultur und Ethik (Beck’sche Reihe 1150), München 22016 (Erstausgabe 1923) S. 290.
[2] Schweitzer: Die Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Leben, Kulturphilosophie III, S. 387.
[3] Ebd., S. 379.
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