Ein paar Lebensdaten und Überblick über sein Werk

2025 ist ein dop­pel­tes Jubi­lä­ums­jahr für Albert Schweit­zer: Vor 150 Jah­ren wur­de er gebo­ren, am 14. Janu­ar 1875 und vor 60 Jah­ren ist er gestor­ben am 4. Sep­tem­ber 1965 – mit 90 Jah­ren. Er starb in Lam­ba­re­ne, wo er auch bestat­tet ist und wo er seit 1913 immer wie­der jah­re­lang für sei­ne gro­ße Auf­ga­be als Arzt leb­te und arbeitete.

Jeder weiß, dass Albert Schweit­zer eine ganz außer­or­dent­li­che Per­sön­lich­keit gewe­sen ist.

Vie­le waren – und auch mir ging es so – beson­ders beein­druckt von sei­nen lako­ni­schen auto­bio­gra­fi­schen Schrif­ten: „Aus mei­ner Kind­heit und Jugend­zeit“ (1924) und „Aus mei­nem Leben und Den­ken“ (1931).

Wir wis­sen, dass er nach sei­nem Theo­lo­gie­stu­di­um noch Medi­zin stu­dier­te, um in Afri­ka tätig zu sein. Wir wis­sen, dass er her­vor­ra­gend die Orgel spiel­te. Theo­lo­ge und Arzt und Orga­nist. Aber ist uns klar, dass er auch Orgel­sach­ver­stän­di­ger war und zig Orgeln begut­ach­tet hat, sich für den Erhalt alter Orgeln ein­setz­te? Ist uns bewusst, dass er neben Theo­lo­gie auch Phi­lo­so­phie stu­dier­te, u.a. an der Pari­ser Sor­bon­ne, und in Phi­lo­so­phie mit 24 Jah­ren pro­mo­vier­te? Mit 26 pro­mo­vier­te er in Theo­lo­gie, in der er sich mit 27 Jah­ren auch habi­li­tier­te. Er war dann Vikar, Dozent für Theo­lo­gie, ver­öf­fent­lich­te gleich­wohl mit 30 Jah­ren in fran­zö­si­scher Spra­che auf Anre­gung sei­nes Pari­ser Orgel­leh­rers, des bekann­ten Charles-Marie Widor, ein Buch über Johann Sebas­ti­an Bach, das die­sen in Frank­reich bekann­ter machen soll­te und auf Grund des Erfol­ges dann ins Deut­sche über­setzt wer­den soll­te. Schweit­zer woll­te es aber für die infor­mier­te­re deut­sche Leser­schaft über­ar­bei­ten und erwei­tern – auf einen Umfang von 850 Sei­ten. Gleich­wohl wur­de es bereits 3 Jah­re spä­ter ver­öf­fent­licht. In die­sen drei Jah­ren stu­dier­te er aber auch bereits Medi­zin. Nach dem Medi­zin­stu­di­um (inklu­si­ve Tro­pen­me­di­zin in Paris) pro­mo­vier­te er mit 38 Jah­ren das drit­te mal.

Im Juni 1912 hei­ra­te­te er Hele­ne Breß­lau (18.6.), eine ganz außer­or­dent­li­che Frau. Es gibt über sie ähn­lich vie­le Bio­gra­fien wie über ihren Mann.

Wir wol­len nicht über­trei­ben: Schweit­zer berich­tet, dass er als Kind das Gefühl hat­te, Schwie­rig­kei­ten mit dem Schrei­ben und Rech­nen zu haben. Er wirk­te auch etwas ver­träumt, so dass der Schul­di­rek­tor schon vor­schlug, ihn vom Gym­na­si­um zu neh­men. Und er berich­tet von pein­li­chen Situa­tio­nen spä­ter bei Prü­fun­gen im Stu­di­um, weil ihm dann doch Zeit zum Ler­nen gefehlt hat­te. Aber auch so war die­se unfass­ba­re Leis­tung nur mit einer äußerst robus­ten Gesund­heit mög­lich und Schweit­zer schreibt selbst, dass er nur wenig Schlaf benötigte.

In mei­nem Stu­di­um wur­de ich gleich zu Beginn mit Schweit­zers Geschich­te der Leben-Jesu-For­schung kon­fron­tiert, ein Jahr nach sei­nem fran­zö­si­schen Bach-Buch erschie­nen, über 600 Sei­ten. Er legt dar, wie jede

„Epo­che der Theo­lo­gie [er bezieht sich auf das 18. und 19. Jhdt.] ihre Gedan­ken in Jesus [fand], und anders konn­te sie ihn nicht bele­ben. Und nicht nur die Epo­chen fan­den sich in ihm wie­der: jeder ein­zel­ne schuf ihn nach sei­ner eige­nen Per­sön­lich­keit. Es gibt kein per­sön­li­che­res his­to­ri­sches Unter­neh­men, als ein Leben-Jesu zu schrei­ben. …“[1]

Schweit­zer nahm trotz­dem nicht Abstand davon, selbst den his­to­ri­schen Jesus her­aus­zu­ar­bei­ten. Das Cha­rak­te­ris­ti­sche an Jesus sei,

„daß er über die Voll­endung und Selig­keit des Ein­zel­nen hin­aus auf eine Voll­endung und Selig­keit der Welt und einer erwähl­ten Mensch­heit aus­schaut. Er ist von dem Wol­len und Hof­fen auf das Reich Got­tes hin erfüllt und bestimmt.“[2] Jesus habe unter der Nah­erwar­tung gelebt. „Im letz­ten Grun­de ist unser Ver­hält­nis zu Jesus mys­ti­scher Art. … Sofern wir unter­ein­an­der und mit ihm eines Wil­lens sind, das Reich Got­tes über alles zu stel­len, um die­sem Glau­ben und Hof­fen zu die­nen, ist Gemein­schaft zwi­schen ihm und uns und den Men­schen aller Geschlech­ter, die in dem­sel­ben Gedan­ken leb­ten und leben.“[3]

Eine zwei­te Über­ra­schung bescher­te mir Schweit­zer, als ich eine Semi­nar­ar­beit schrei­ben woll­te zur Ein­schät­zung Jesu aus cha­rak­t­er­psy­cho­lo­gi­scher Sicht. Damals hat­te ja die Psy­cho­ana­ly­ti­ke­rin Han­nah Wolf das Buch „Jesus der Mann“ ver­öf­fent­licht, in dem sie an C. G. Jung anknüp­fend Jesus als inte­grier­ten Mann cha­rak­te­ri­sier­te, der auch die weib­li­che Ani­ma nicht ver­dräng­te, son­dern inte­grier­te. Und ich hat­te die Idee Jesus aus der Per­spek­ti­ve des Psy­cho­ana­ly­ti­kers Fritz Rie­mann zu betrach­ten, der mit sei­nen 4 Grund­for­men der Angst ja eine inter­es­san­te Cha­rak­ter­ty­po­lo­gie geschrie­ben hat mit unzäh­li­gen Auflagen.

Auf jeden Fall stieß ich zu mei­ner Über­ra­schung auf die medi­zi­ni­sche Dok­tor­ar­beit von Schweit­zer mit den Titel: Die psych­ia­tri­sche Beur­tei­lung Jesu.

Schweit­zer schreibt, dass er sich qua­si ver­pflich­tet sah, sich die­ser Fra­ge zuzu­wen­den, weil er selbst ja einen – uns  nicht mehr so leicht zugäng­li­chen – Aspekt in der Ver­kün­di­gung Jesu betont hat­te, dass Jesus näm­lich in der Erwar­tung des Rei­ches Got­tes stand. Es müs­se „ange­nom­men wer­den, daß Jesus sich für den Mes­si­as gehal­ten und sei­ne glanz­vol­le Wie­der­kunft auf den Wol­ken des Him­mels erwar­tet hat“[4], und das in Kür­ze, so dass wir sagen müs­sen, dass Jesus sich hier geirrt hat.

Jesus sag­te ja so selt­sa­me Sachen wie: „Ich sah den Satan als Blitz vom Him­mel fal­len“ (Luk. 10,18) – und Sie ver­ste­hen, dass man Schweit­zer vor­wer­fen konn­te, Jesus mit sei­ner apo­ka­lyp­ti­schen Nah­erwar­tung so zu dar­zu­stel­len, dass sich sei­ne Anschau­ungs­welt wie ein „Wahn­sys­tem“ ausnehme.

Schweit­zer meint aber, dies wider­le­gen zu kön­nen: Jesus han­delt durch­gän­gig über­legt und ziel­ge­rich­tet; er sucht „durch Hand­lun­gen, denen ein pro­vo­ka­to­ri­scher Cha­rak­ter anhaf­tet – Ver­trei­bung der Händ­ler und Wechs­ler aus dem Tem­pel­vor­hof, Reden gegen die Pha­ri­sä­er (Mat­th 23) – einen Kon­flikt mit der Obrig­keit her­bei­zu­füh­ren und ein Ein­schrei­ten gegen ihn zu erzwin­gen, bis er zuletzt den Hohen Rat zum Ent­schluß bringt, sich sei­ner noch vor dem Fes­te zu entledigen.“

Dass er ein Ein­schrei­ten der Obrig­keit gegen ihn bewusst erzwingt, kön­ne „man kei­nes­wegs […] als krank­haf­te Selbst­auf­op­fe­rung bezeich­nen“[5].

Aber ehr­lich gesagt: das wür­de heu­te defi­ni­tiv nicht als medi­zi­ni­sche Dok­tor­ar­beit durch­ge­hen, und gehört zu den Prü­fungs­her­aus­for­de­run­gen, für die Schweit­zer dann doch die Zeit etwas knapp wur­de. Denn die Pro­mo­ti­on war im Febru­ar 1913 und im März star­te­te er nach Lam­ba­re­ne und da waren eine Men­ge Vor­be­rei­tun­gen zu leisten.

Die drit­te Über­ra­schung hat mir Schweit­zer erst vor zwei Jah­ren berei­tet, als ich fest­stell­te, dass er eigent­lich die meis­te Zeit sei­nes schrei­ben­den und stu­die­ren­den Lebens an einer Geschich­te der Ethik gear­bei­tet hat, natür­lich nicht zuletzt, um sei­ne eige­ne Ethik zu erläu­tern und zu plausibilisieren.

Er erklärt ein­mal, er hät­te sich nie mit einem The­ma beschäf­ti­gen kön­nen, ohne die For­schungs­ge­schich­te zu betrach­ten, so ging es ihm beim Leben Jesu, bei der Abend­mahls­the­ma­tik und so erst recht beim The­ma Ethik. Denn: die­se Geschich­te hat ihn nicht mehr los­ge­las­sen. 1923 ver­öf­fent­lich­te Schweit­zer das Buch Kul­tur­phi­lo­so­phie, das auf Vor­ar­bei­ten in der Zeit des 1. Welt­krie­ges zurück­geht (mit den bei­den Tei­len: „Ver­fall und Wie­der­auf­bau der Kul­tur“ und „Kul­tur und Ethik“), aber im Jahr 2000 wur­den wei­te­re Tei­le, die auf Ent­wür­fen Schweit­zers beru­hen, ver­öf­fent­licht mit ca. 480 Seiten.

Und so kann man sagen, dass das Haupt­in­ter­es­se Schweit­zers auf der Ent­wick­lung der mensch­li­chen Kul­tur und ins­be­son­de­re der Ethik lag.

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[1] Schweit­zer: Geschich­te der Leben-Jesu-For­schung (Güters­lo­her Taschen­bü­cher / Sie­ben­stern 77), o.O. 31977, S. 48 (Ori­gi­nal­aus­ga­be 1906). Noch zur 6. Auf­la­ge im Jahr 1950 schreibt Schweit­zer eine aus­führ­li­che Vor­re­de, in der er bemerkt: „Die Leben-Jesu-For­schung ist eine Wahr­haf­tig­keits­tat des pro­tes­tan­ti­schen Chris­ten­tums.“ (Ebd. S. 42)
[2] Ebd., S. 623.
[3] Ebd., S. 629.
[4] Schweit­zer: Die psych­ia­tri­sche Beur­tei­lung Jesu. Dar­stel­lung und Kri­tik, Tübin­gen 1913 1913, S. 5.
[5] Ebd., S. 36.

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Entwicklung

Schweit­zer muss eine recht unbe­schwer­te Kind­heit in Güns­bach ver­bracht haben, wo sein Vater Pfar­rer war, und er ihn spä­ter oft ver­tre­ten hat.

Er war sich sei­ner pri­vi­le­gier­ten Fami­lie sehr bewusst und hat als Kind dar­auf bestan­den, auch in den Holz­schu­hen zur Schu­le zu gehen wie die Kin­der der Bau­ern­fa­mi­li­en. Und so ist es nur fol­ge­rich­tig, wenn er spä­ter schreibt:

„Der Plan, den ich nun zu ver­wirk­li­chen unter­nahm, trug ich schon län­ger mit mir her­um. Sein Ursprung reicht in mei­ne Stu­den­ten­zeit zurück. Es kam mir unfass­lich vor, dass ich, wo ich so vie­le Men­schen um mich her­um mit Leid und Sor­ge rin­gen sah, ein glück­li­ches Leben füh­ren durf­te. Schon auf der Schu­le hat­te es mich bewegt, wenn ich Ein­blick in trau­ri­ge Fami­li­en­ver­hält­nis­se von Klas­sen­ka­me­ra­den gewon­nen und die gera­de­zu idea­len, in denen wir Kin­der des Pfarr­hau­ses zu Güns­bach leb­ten, damit ver­glich.“[1]

„An einem strah­len­den Som­mer­mor­gen, als ich – es war im Jah­re 1896 – in Pfingst­fe­ri­en zu Güns­bach erwach­te, über­fiel mich der Gedan­ke, dass ich die­ses Glück nicht als etwas Selbst­ver­ständ­li­ches hin­neh­men dür­fe, son­dern etwas dafür geben müs­se.“[2]

So „wur­de ich, bevor ich auf­stand, in ruhi­gem Über­le­gen, wäh­rend drau­ßen die Vögel san­gen, mit mir sel­ber dahin eins, dass ich mich bis zu mei­nem drei­ßigs­ten Lebens­jahr für berech­tigt hal­ten wür­de, der Wis­sen­schaft und der Kunst zu leben, um mich von da an einem unmit­tel­ba­ren mensch­li­chen Die­nen zu wei­hen. Gar viel hat­te mich beschäf­tigt, wel­che Bedeu­tung dem Wort Jesu, »Wer sein Leben will behal­ten, der wird es ver­lie­ren, und wer sein Leben ver­liert um mei­net– und des Evan­ge­li­ums wil­len, der wird es behal­ten«, für mich zukom­me. Jetzt war sie gefun­den. Zu dem äuße­ren Glü­cke besaß ich nun das inner­li­che.“[3]

Ich habe vor kur­zem das neue Buch von Rut­ger Breg­man gele­sen und da the­ma­ti­siert er die – man kann sagen – fata­le Tat­sa­che, dass es irgend­wann Mode gewor­den ist, dass die klügs­ten und bes­ten Stu­die­ren­den ent­we­der in der Finanz­bran­che oder in der Unter­neh­mens­be­ra­tung enden. Das gilt für nicht weni­ger als 45% der Har­vard Absol­ven­ten[4] Mora­li­sche Ambi­ti­on? Lei­der Fehl­an­zei­ge, obwohl doch in der Ver­gan­gen­heit die klügs­ten oft dem Woh­le der Mensch­heit die­nen woll­ten. Der Unter­ti­tel des Breg­man-Buches lau­tet dem­entspre­chend: Wie man auf­hört, sein Talent zu ver­geu­den, und etwas schafft, was wirk­lich zählt.

War­um wird Albert Schweit­zer als guter Mensch betrach­tet? Ein Grund dafür ist, dass er – wie alle Men­schen – einen Sinn für Gerech­tig­keit hat­te und der besag­te: mir ist so viel geschenkt und zuge­fal­len, da ist es nur recht und bil­lig, dass ich ande­ren etwas wei­ter­ge­be. Man muss sich zunächst von ande­ren iso­liert haben, um die­se selbst­ver­ständ­li­che Ver­pflich­tung nicht mehr zu emp­fin­den, bzw. nur ande­re Rei­che kennen.

Schweit­zer emp­fin­det die all­ge­mein­mensch­li­che Ver­pflich­tung zur Rezi­pro­zi­tät, hier nicht einer ande­ren Per­son gegen­über, son­dern dem Schick­sal oder wem immer er sei­ne Pri­vi­le­gie­rung zuschreibt.

Rezi­pro­zi­tät im Geben und Neh­men ist in den nahen zwi­schen­mensch­li­chen Bezie­hun­gen so fest in uns ver­an­kert, dass wir (oder die Men­schen frü­her) sie auch gegen­über Göt­tern (Opfer) oder gegen­über dem Schick­sal (ich bin so pri­vi­le­giert) emp­fin­den kön­nen. Und noch eine ande­re Rezi­pro­zi­tät emp­fin­det Schweit­zer: Er wird Urwald­arzt, um etwas von der „Schul­den­last, die der wei­ße Mann in Afri­ka durch Skla­ven­han­del und Aus­beu­tung auf sich gela­den hat“, auszugleichen.

Zum andern ist bemer­kens­wert, dass er mit 21 Jah­ren einen Ent­schluss fasst, den er dann über Jahr­zehn­te hin­weg umsetzt. Er schreibt dies sei­nem Nach­den­ken zu, vom Den­ken hält er bemer­kens­wert viel. Und so meint er auch:

„Das Den­ken der Mensch­heit ist das ergrei­fend zu lesen­de gro­ße Buch, in das wir uns nie genug ver­tie­fen kön­nen.“[5]

Den­ken hat Kon­se­quen­zen, und Vor­sät­ze setzt Schweit­zer kon­se­quent um:

„Auch [neben dem Kar­ten-Spie­len] auf das Rau­chen ver­zich­te­te ich als Stu­dent, am 1. Janu­ar 1899, für immer, weil es mir zur Lei­den­schaft gewor­den war.“[6]

Im Herbst 1904 las er zufäl­lig in einem Heft der Pari­ser Mis­si­ons­ge­sell­schaft, dass die­se Mis­sio­na­re sucht und beson­ders einen Arzt in Lam­ba­re­ne im heu­ti­gen Gabun, damals franz. Äqua­to­ri­al­afri­ka. Ursprüng­lich war die Mis­si­ons­sta­ti­on von ame­ri­ka­ni­schen Mis­sio­na­ren gegrün­det wor­den (einem ame­rik. Arzt Dr. Nas­sau), als Gabun fran­zö­si­scher Besitz wur­de, konn­ten die ame­ri­ka­ni­schen Mis­sio­na­re nicht, wie gefor­dert, in der Schu­le die fran­zö­si­sche Spra­che unter­rich­ten, und so über­nahm die Pari­ser Mis­si­ons­ge­sell­schaft. Schweit­zer nimmt Kon­takt auf mit dem Direk­tor, der froh ist, dass Schweit­zer nicht als Mis­sio­nar, son­dern als Arzt tätig wer­den will, weil er theo­lo­gisch ein­fach als zu libe­ral galt. Irgend­wie kuri­os, denn er muss dem Direk­tor ja gesagt haben: Ich stu­die­re jetzt mal 7 Jah­re lang Medi­zin und dann möch­te ich bei euch tätig wer­den. Aber genau­so kam es. Die Stel­le war immer noch nicht oder nicht mehr besetzt. Irgend­wo habe ich gele­sen, dass 8 der 10 Vor­gän­ger an einer Tro­pen­krank­heit ver­stor­ben sind. Also 7 oder 8 Jah­re spä­ter, 1912, macht Schweit­zer der Pari­ser Mis­si­ons­ge­sell­schaft „das defi­ni­ti­ve Ange­bot, auf mei­ne eige­nen Kos­ten ihr Mis­si­ons­ge­biet am Ogow­efluß von der zen­tral gele­ge­nen Sta­ti­on Lam­ba­re­ne aus als Mis­si­ons­arzt zu bedie­nen.“[7] Er hat­te näm­lich durch vie­le Bitt­gän­ge, Gemein­de­un­ter­stüt­zung und sei­ne Orgel­kon­zer­te selbst die Mit­tel für alles zusam­men­ge­bracht. Im März erscheint sei­ne Dok­tor­ar­beit über die psych­ia­tri­sche Beur­tei­lung Jesu und im sel­ben Monat des Jah­res 1913 ver­lie­ßen Schweit­zer und sei­ne Frau Güns­bach in Rich­tung Bordeaux.

[1] Schweit­zer: Aus mei­nem Leben und Den­ken (Kap. IX: Der Ent­schluss, Urwald­arzt zu wer­den), zitiert nach Aus­ge­wähl­te Wer­ke in fünf Bän­den, Uni­on Ver­lag Ber­lin 1971, Bd. 1 S. 98.
[2] Schweit­zer, ebd. S. 98f.
[3] Schweit­zer, ebd. S. 99.
[4] Rut­ger Breg­man: Mora­li­sche Ambi­ti­on, Ham­burg: Rowohlt, 2024 S. 25.
[5] Schweit­zer: Die Welt­an­schau­ung der Ehr­furcht vor dem Leben. Kul­tur­phi­lo­so­phie III, Wer­ke aus dem Nach­laß,  hg. v. Claus Günz­ler und Johann Zür­cher, C.H.Beck, Mün­chen 2000, S. 56.
[6] Schweit­zer: Aus mei­ner Kind­heit und Jugend­zeit, 1971, zitiert nach Aus­ge­wähl­te Wer­ke in fünf Bän­den, 1971, Bd. 1 S. 272.
[7] Schweit­zer: Aus mei­nem Leben und Den­ken (Kap. XI: Vor der Aus­rei­se nach Afri­ka), a. O., S. 128.
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Albert Schweitzer: Radierung von Arthur William Heintz

A. Schweit­zer, Radie­rung von A.W.Heintz

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Wie Albert Schweitzer zum Gedanken der Ehrfurcht vor dem Leben kam

Schweit­zer beschreibt selbst ein paar Schlüs­sel­mo­men­te in sei­nem Leben, die ihn geprägt haben.

In sei­ner Jugend sag­te ein­mal ein Freund zu ihm:

„Komm, jetzt gehen wir in den Reb­berg und schie­ßen Vögel.“ „Die­ser Vor­schlag war mir schreck­lich, aber ich wag­te nicht zu wider­spre­chen, aus Angst er könn­te mich aus­la­chen.“[1] Als Albert dane­ben­schie­ßen will, fin­gen in „dem­sel­ben Augen­bli­cke … die Kir­chen­glo­cken an, in den Son­nen­schein und in den Gesang der Vögel hin­ein­zu­läu­ten. … Für mich war es eine Stim­me aus dem Him­mel. Ich tat die Schleu­der weg, scheuch­te die Vögel auf … und floh nach Hause. …
Von jenem Tage an habe ich gewagt, mich von der Men­schen­furcht zu befrei­en.“[2]

„Solan­ge ich zurück­bli­cken kann, habe ich unter dem vie­len Elend, das ich in der Welt sah, gelitten. …

Der Anblick eines alten hin­ken­den Pfer­des, das ein Mann hin­ter sich her­zerr­te, wäh­rend ein ande­rer mit einem Ste­cken auf es ein­schlug – es wur­de nach Kol­mar ins Schlacht­haus getrie­ben – hat mich wochen­lang ver­folgt.“[3]

Nach­dem er zwei Mal beim Angeln mit dabei war, ver­bot „ihm das Grau­en vor der Miß­hand­lung der auf­ge­spieß­ten Wür­mer und vor dem Zer­rei­ßen der Mäu­ler der gefan­ge­nen Fische, wei­ter mit­zu­ma­chen. Ja, ich fand sogar den Mut, ande­re vom Fischen abzu­hal­ten.“[4]

So „ent­stand in mir lang­sam die uner­schüt­ter­li­che Über­zeu­gung, daß wir Tod und Leid über ein ande­res Wesen nur brin­gen dür­fen, wenn eine unent­rinn­ba­re Not­wen­dig­keit dafür vor­liegt … . Ich aber gelob­te mir, mich nie­mals abstump­fen zu las­sen und den Vor­wurf der Sen­ti­men­ta­li­tät nie­mals zu fürch­ten.“[5]

Beim Abend­ge­bet fehlt ihm der Ein­be­zug der Tie­re, so betet er:

„Lie­ber Gott. Schüt­ze und seg­ne alles, was Odem hat, bewah­re es vor allem Übel und laß es ruhig schlafen!“

So etwas wie ein Schlüs­sel­er­leb­nis ereig­net sich für Schweit­zer, als er bereits 2 Jah­re in Afri­ka ist, im Sep­tem­ber 1915 wäh­rend einer mehr­tä­gi­gen Schiff­fahrt auf einem klei­nen Damp­fer, die er zu einer kran­ken Mis­si­ons­da­me unternimmt:

„Am Abend des drit­ten Tages, als wir bei Son­nen­un­ter­gang gera­de durch eine Her­de Nil­pfer­de hin­durch­fuh­ren, stand urplötz­lich, von mir nicht geahnt und nicht gesucht, das Wort «Ehr­furcht vor dem Leben» vor mir. Das eiser­ne Tor hat­te nach­ge­ge­ben; der Pfad im Dickicht war sicht­bar gewor­den. Nun war ich zu der Idee vor­ge­drun­gen, in der Welt- und Lebens­be­ja­hung und Ethik mit­ein­an­der ent­hal­ten sind! … [Das ist] die ers­te, unmit­tel­bars­te und ste­tig gege­be­ne Tat­sa­che sei­nes Bewußt­seins besin­nen. Nur von die­ser aus kann er zu den­ken­der Welt­an­schau­ung gelan­gen.“[6] Und: „Die unmit­tel­bars­te Tat­sa­che des Bewußt­seins des Men­schen lau­tet: „Ich bin Leben, das leben will, inmit­ten von Leben, das leben will.“[7]

[1] Schweit­zer: Aus mei­ner Kind­heit und Jugend­zeit, 1971, zitiert nach Aus­ge­wähl­te Wer­ke in fünf Bän­den, 1971, Bd. 1, S. 275.
[2] Ebd., S. 276.
[3] Ebd., S. 275.
[4] Ebd., 277f.
[5] Ebd., S. 278.
[6] Schweit­zer: Aus mei­nem Leben und Den­ken (Kap. XIII: Das ers­te Wir­ken in Afri­ka 1913–1917), zitiert nach Aus­ge­wähl­te Wer­ke in fünf Bän­den, Bd. 1, S. 169.
[7] Ebd. S. 169f.

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Nilpferde in der Serengeti

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Zur Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben

Albert Schweit­zer war fas­zi­niert und durch­drun­gen von dem Phä­no­men des Lebens. Was ist Leben?

Leben ist in der Lage und bestrebt sich zu erhal­ten, nicht unbe­dingt als Indi­vi­du­um, aber indem es sich fort­pflanzt, ver­viel­fäl­tigt. Alles Leben, das wir sehen, befin­det sich am bis­he­ri­gen Ende einer Ahnen­ket­te, die bis zum Beginn und Ursprung des Lebens zurück­reicht. Das fin­de ich übri­gens einen Gedan­ken, der einen erschau­ern las­sen kann. Schweit­zer fin­det ein kri­ti­sches Mini­mum als Kern aller wei­ter­füh­ren­den Erkennt­nis­se in dem Satz:

„Ich lebe und ich will leben und es ist unzwei­fel­haft, dass neben mir auch Leben ist, das Leben will.[1]

Schweit­zer präg­te die For­mel Ehr­furcht vor dem Leben. Er sagt ein­mal: „Selbst wenn ich einen Krank­heits­er­re­ger unter dem Mikro­skop sehe, emp­fin­de ich die­sen Respekt. Auch ihm gön­ne ich pri­ma facie das Leben. Aber ich töte ihn, um ande­res Leben zu schüt­zen.“ Für Schweit­zer schließt das immer auch die Ehrfurcht/Achtung vor mei­nem eige­nen Leben ein. Der „den­kend gewor­de­ne Mensch [erlebt] die Nöti­gung, allem Wil­len zum Leben die glei­che Ehr­furcht vor dem Leben ent­ge­gen­zu­brin­gen wie dem eige­nen.“[2] Und des­halb ist es kein Wider­spruch, dass er das Töten von Lebe­we­sen als Not­maß­nah­me akzep­tiert. Wenn ich einem Rei­her, der sich einen Flü­gel gebro­chen hat, ret­ten will, muss ich ihn mit Fisch ernähren.

„Die Ethik der Ehr­furcht vor dem Leben begreift also alles in sich, was als Lie­be, Hin­ga­be, Mit­lei­den, Mit­freu­de und Mit­stre­ben bezeich­net wer­den kann.“[3]

Wir kön­nen mit allem Leben­di­gen mehr oder weni­ger mitfühlen.

Sehr wich­tig ist mir, dass es Schweit­zer nicht nur um das Töten oder Ver­let­zen von Leben geht, sondern

„Als gut gilt ihm: Leben erhal­ten, Leben för­dern, ent­wi­ckel­ba­res Leben auf sei­nen höchs­ten Wert brin­gen; als böse: Leben ver­nich­ten, Leben schä­di­gen, ent­wi­ckel­ba­res Leben nie­der­hal­ten. Dies ist das den­knot­wen­di­ge, abso­lu­te Grund­prin­zip des Sitt­li­chen.“[4] Das ist eine schö­ne Über­ein­stim­mung mit Mar­tha Nuss­baum, die mit ihrem capa­bi­li­ty approach betont, dass Leben kei­ne Ent­wick­lungs­mög­lich­kei­ten genom­men wer­den sol­len, und beim Men­schen gibt es nun ein­mal sehr weit­rei­chen­de Ent­wick­lungs­mög­lich­kei­ten. Nicht nur das momen­ta­ne Glück von Men­schen ist ethisch rele­vant, son­dern auch, dass sie ihr Ent­wick­lungs­po­ten­zi­al eini­ger­ma­ßen erken­nen und aus­schöp­fen kön­nen – eine wich­ti­ge ethi­sche Einsicht.

Aber für Schweit­zer ist das Mit­füh­len und der för­dern­de Umgang mit allem Leben, die­se ethi­sche Hal­tung „nur“ der eine Aspekt. Er gebraucht ab und zu das Bild der Ellip­se mit ihren zwei Brenn­punk­ten. Der zwei­te Brenn­punkt ist das Motiv „des Voll­kom­me­ner­wer­dens“[5], die „geis­ti­ge Hin­ge­bung an den geheim­nis­vol­len unend­li­chen Wil­len …, der im Uni­ver­sum in die Erschei­nung tritt.“[6] „Ich lebe mein Leben in Gott, in der geheim­nis­vol­len ethi­schen Got­tes­per­sön­lich­keit, die ich so in der Welt nicht erken­ne, son­dern nur als geheim­nis­vol­len Wil­len in mir erle­be.“[7]

Schweitzer: Die Ellipse mit den Brennpunkten Mystik und Ethik

Bei­de Moti­ve, das der Hin­ge­bung und das des inner­li­chen Voll­kom­me­ner­wer­dens ste­hen mit­ein­an­der in Bezie­hung. Zusam­men machen |sie die Nöti­gung zum ethi­schen Ver­hal­ten aus. In einer uns nicht immer deut­lich bewußt wer­den­den Wei­se ver­stär­ken und ergän­zen sie sich. Die Ethik ist wie ein Strom­netz, das von zwei Elek­tri­zi­täts­zen­tra­len aus ver­sorgt wird. Bei­de kön­nen, je nach Umstän­den und Erfor­der­nis­sen, Strom in es ein­flie­ßen las­sen. Es kann der Fall ein­tre­ten, daß der Bei­trag der einen fast alles und der der ande­ren fast nichts aus­macht. Das, wor­auf es ankommt, ist, daß immer hin­rei­chend Strom in dem Netz ist, von wo aus er auch gelie­fert wird. Im Leben kom­men wir so oft in die Lage, ein ethi­sches Ver­hal­ten oder Tun bewäh­ren zu müs­sen, von dem Erfolg kaum oder über­haupt nicht zu erwar­ten ist. Die Kraft, die­ses Aus­sichts­lo­se den­noch zu wol­len und zu leis­ten, fin­den wir nur in der Nöti­gung zum inner­li­chen Voll­kom­me­ner­wer­den. Um unse­rer selbst wil­len ver­mö­gen wir es in sol­chen Fäl­len, Güte, Geduld, Fried­fer­tig­keit, Sanft­mü­tig­keit oder was sonst erfor­dert ist, auf­zu­brin­gen und es hin­zu­neh­men, daß es nicht nur erfolg­los bleibt, son­dern auch nicht ein­mal aner­kannt, wenn nicht gar miß­deu­tet wird. Zu die­sem Unschein­bars­ten und in sei­ner Art Schwers­ten kann uns nur die Idee des inner­li­chen Voll­kom­me­ner­wer­dens nöti­gen. Erst wenn die bei­den Moti­ve der Ethik mit­ein­an­der vor­han­den sind und inein­an­der­grei­fen, ist die Ethik leben­dig und tief zugleich. Nur wenn man sich über die jedem zufal­len­de Rol­le klar wird, ist eine rich­ti­ge Ein­sicht in die ver­schie­de­nen Arten von Ethik und deren sach­li­che Wür­di­gung mög­lich.[8]

Schweit­zer ist sich abso­lut im Kla­ren dar­über, dass sei­ne Ethik der Ehr­furcht vor dem Leben in vie­le Dilem­ma­ta hin­ein­ge­rät. Jeder, der sie leben möch­te, muss

 „sich ein­ge­ste­hen, daß er es mit einer unab­seh­ba­ren, ver­wir­ren­den Viel­heit von Ver­pflich­tun­gen und Ver­ant­wor­tun­gen zu tun hat, denen er, auch mit Selbst­auf­op­fe­rung, nur zu einem ganz gerin­gen Teil genü­gen kann. Die Ethik gebie­tet ohne Rück­sicht auf völ­li­ge Durch­führ­bar­keit.“ „Die Ethik gebie­tet ohne Rück­sicht auf völ­li­ge Durch­führ­bar­keit. Sie ist eine Hydra, der immer­fort neue Köp­fe nach­wach­sen.“[9] „Die Ethik ist nicht ein Park mit plan­voll ange­leg­ten und gut unter­hal­te­nen Wegen, son­dern eine Wild­nis, in der jeder, von sei­nem Pflicht- und Ver­ant­wor­tungs­ge­fühl ange­trie­ben und gelei­tet, sei­nen Pfad suchen und bah­nen muß.“[10] (2000/274)

So stellt sich auch die Fra­ge: „Wo hört in der abstei­gen­den Linie der Lebe­we­sen für uns die Mög­lich­keit und Ver­pflich­tung auf, an ihrem Schick­sal teil­zu­neh­men und in es ein­zu­grei­fen?“[11]

[1] Schweit­zer zieht selbst die Par­al­le­le zwi­schen Des­car­tes‘ Cogi­to ergo sum und sei­ner Grund­er­kennt­nis vom Leben. Schweit­zer: Aus mei­nem Leben und Den­ken (Kap. XIII: Das ers­te Wir­ken in Afri­ka 1913–1917), zitiert nach Aus­ge­wähl­te Wer­ke in fünf Bän­den, Bd. 1  S. 169f.
[2] Ebd. S. 171.
[3] Ebd.
[4] Ebd.
[5] Die Welt­an­schau­ung der Ehr­furcht vor dem Leben, Kul­tur­phi­lo­so­phie III, Wer­ke aus dem Nach­laß,  hg. v. Claus Günz­ler und Johann Zür­cher, C.H.Beck, Mün­chen 2000, S. 131.
[6] Schweit­zer, 2016 (Erst­aus­ga­be 1923), S. 83.
[7] Ebd.
[8] Die Welt­an­schau­ung der Ehr­furcht vor dem Leben, Kul­tur­phi­lo­so­phie III, Wer­ke aus dem Nach­laß,  hg. v. Claus Günz­ler und Johann Zür­cher, C.H.Beck, Mün­chen 2000, S. 266–267.
[9] Ebd. S. 273.
[10] Ebd. S. 274.
[11] Ebd. S. 276.
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Geschichte der Ethik

Schweit­zer hat in mehr­fa­chen Anläu­fen Skiz­zen einer Ethik­ge­schich­te geschrie­ben. Das ist des­halb nicht lang­wei­lig, weil er an die Geschich­te mit klar umris­se­nen Fra­ge­stel­lun­gen her­an­geht. Er unter­schei­det grund­sätz­lich zwi­schen Welt- und Lebens­be­ja­hung und Welt- und Lebens­ver­nei­nung. Da, wo, wie etwa im Bud­dhis­mus, das Leben als Lei­den betrach­tet wird, das man durch Medi­ta­ti­on und das Auf­ge­ben von Anhaf­tung auf­he­ben kann, kann man sich zwar im Wohl­wol­len gegen­über allen Wesen üben, aber es gibt kei­nen Impuls zur Welt­ge­stal­tung. Selbst die Bod­hi­s­att­vas, die nicht zur Erlö­sung gelan­gen wol­len, bevor sie auch ande­ren den Weg ins Nir­va­na gewie­sen haben, rich­ten ihr Mit­leid allein auf die­ses Ziel, nicht auf die Bekämp­fung von psy­chi­schem oder phy­si­schem Lei­den oder gar eine Ver­bes­se­rung der gesell­schaft­li­chen Zustände.

„Aber das (indi­sche) Mit­leid mit der Krea­tur ist unvoll­stän­dig. Es gebie­tet nur, daß man das Töten und Schä­di­gen von Lebe­we­sen unter­las­sen sol­le, nicht aber auch, daß man ihnen in täti­ger Wei­se bei­ste­hen sol­le.“[1]

Es gibt eine inter­es­san­te Pas­sa­ge, in der er reflek­tiert, inwie­weit in Indi­en das Gebot der Gewalt­lo­sig­keit Ahim­sa im Rein­heits­ge­dan­ken (Töten oder Schlach­ten ver­un­rei­nigt) bzw. im Mit­ge­fühl wur­zelt.[2] (II, 426) Schweit­zer hat näm­lich 1935 ein Buch ver­öf­fent­licht mit dem Titel: Die Welt­an­schau­ung der indi­schen Den­ker. Die­ses Buch besprach Her­mann Hes­se zwei­mal in der Neu­en Rund­schau 1935 und im Janu­ar 1936 in einer Stock­hol­mer Zei­tung. Schon Schweit­zers Buch von 1932 „Aus mei­nem Leben und Den­ken“ hat­te Hes­se emp­foh­len.[3]
Im welt­ver­nei­nen­den Bud­dhis­mus wird die durch­aus rei­che Ethik sozu­sa­gen in der Medi­ta­ti­on gepflegt: ins­be­son­de­re Güte, Mit­ge­fühl, Mitfreude.

Das Chris­ten­tum hat dage­gen eine akti­ve Indi­vi­du­al­ethik in der Nach­fol­ge Jesu ange­strebt. Aller­dings war die Welt­be­ja­hung (zunächst) sehr gebro­chen durch die Erwar­tung des Rei­ches Got­tes. Erst in der Renais­sance und dann beson­ders in der Auf­klä­rung domi­nier­te der Opti­mis­mus, die Welt durch Ethik ver­än­dern und ver­bes­sern zu können.

„Die Auf­klä­rungs­zeit und der Ratio­na­lis­mus hat­ten ethi­sche Ver­nunft­idea­le über die Ent­wick­lung des Ein­zel­nen zum wah­ren Men­schen­tum, über sei­ne Stel­lung in der Gesell­schaft, über deren mate­ri­el­le und geis­ti­ge Auf­ga­ben, über das Ver­hal­ten der Völ­ker zuein­an­der und ihr Auf­ge­hen in einer durch die höchs­ten, geis­ti­gen Zie­le geein­ten Mensch­heit auf­ge­stellt. Die­se ethi­schen Ver­nunft­idea­le hat­ten ange­fan­gen, sich in der Phi­lo­so­phie und in der öffent­li­chen Mei­nung mit der Wirk­lich­keit aus­ein­an­der­zu­set­zen und die Ver­hält­nis­se umzu­ge­stal­ten. Im Lau­fe von drei oder vier Gene­ra­tio­nen waren [enor­me] Fort­schrit­te sowohl an Kul­tur­ge­sin­nung wie an Kul­tur­zu­stän­den in einem [hohen] Maße ver­wirk­licht wor­den, daß die Zeit der Kul­tur defi­ni­tiv ange­bro­chen und in unauf­halt­ba­rem Wei­ter­ge­hen begrif­fen schien.
Aber um die Mit­te des neun­zehn­ten Jahr­hun­derts fing die­se Aus­ein­an­der­set­zung ethi­scher Ver­nunft­idea­le mit der Wirk­lich­keit an abzu­neh­men. Im Lau­fe der fol­gen­den Jahr­zehn­te kam sie mehr und mehr zum Still­stand. Kampf­los und laut­los voll­zog sich die Abdan­kung der Kul­tur. Ihre Gedan­ken blie­ben hin­ter der Zeit zurück, als wären sie zu erschöpft, mit ihr Schritt zu hal­ten. Wie ging dies zu?
Das Ent­schei­den­de war das Ver­sa­gen der Philosophie.
Im acht­zehn­ten und im begin­nen­den neun­zehn­ten Jahr­hun­dert war die Phi­lo­so­phie die Anfüh­re­rin der öffent­li­chen Mei­nung gewe­sen.“[4]

„Fich­te, Hegel und ande­re Phi­lo­so­phen … ver­such­ten eine [den ethi­schen Ver­nunft­idea­len] ent­spre­chen­de opti­mis­tisch-ethi­sche Total­welt­an­schau­ung auf spe­ku­la­ti­vem Wege, d.h. durch logi­sche und erkennt­nis­theo­re­ti­sche Erwä­gun­gen über das Sein und sei­ne Ent­fal­tung zur Welt zu begrün­den. Drei oder vier Jahr­zehn­te lang gelang es ihnen, für sich und die ande­ren die kraft­spen­den­de Illu­si­on auf­recht­zu­er­hal­ten und die Wirk­lich­keit im Sin­ne ihrer Welt­an­schau­ung zu ver­ge­wal­ti­gen. Zuletzt aber empör­ten sich die unter­des erstark­ten Natur­wis­sen­schaf­ten und schlu­gen mit ple­be­ji­scher Begeis­te­rung für die Wahr­heit der Wirk­lich­keit die von der Phan­ta­sie geschaf­fe­nen Pracht­bau­ten in Trümmer.
Obdach­los und arm irren die ethi­schen Ver­nunft­ideen, auf denen die Kul­tur beruht, in der Welt umher.“[5]

Wäh­rend in der Auf­klä­rungs­zeit Fort­schritt immer auch oder sogar beson­ders in ethi­scher Hin­sicht gedacht wur­de, wird nun der Fort­schritt wis­sen­schaft­lich und tech­nisch gedacht und allen­falls noch gesell­schaft­lich. Die phi­lo­so­phi­sche Ethik verkümmert.

„Aus einem Arbei­ter am Wer­den einer all­ge­mei­nen Kul­tur­ge­sin­nung war die Phi­lo­so­phie nach dem Zusam­men­bruch in der Mit­te des neun­zehn­ten Jahr­hun­derts ein Rent­ner gewor­den, der sich fern von der Welt mit dem, was er sich geret­tet hat­te, beschäf­tig­te.“[6]

„Schon seit mei­nen ers­ten Uni­ver­si­täts­jah­ren … hat­te [ich] den Ein­druck, daß das Feu­er der Idea­le her­un­ter­brann­te, ohne daß man es bemerk­te oder sich Sor­gen dar­über mach­te. Bei sound­so viel Gele­gen­hei­ten muß­te ich fest­stel­len, daß die öffent­li­che Mei­nung öffent­lich kund­ge­ge­be­ne Inhu­ma­ni­täts­ge­dan­ken nicht mit Ent­rüs­tung ablehn­te, son­dern hin­nahm und inhu­ma­nes Vor­ge­hen der Staa­ten und Völ­ker als oppor­tun gut­hieß. Auch für das Gerech­te und Zweck­mä­ßi­ge schien mir nur noch ein lau­er Eifer vor­han­den zu sein. Aus sound­so viel Anzei­chen muß­te ich auf eine eigen­tüm­li­che geis­ti­ge und see­li­sche Müdig­keit des arbeits­stol­zen Geschlechts schlie­ßen. Es kam mir vor, als hör­te ich, wie es sich ein­re­de­te, daß die bis­he­ri­gen Hoff­nun­gen für die Zukunft der Mensch­heit zu hoch ein­ge­stellt sei­en und man dazu kom­men müs­se, sich auf das Erstre­ben des Erreich­ba­ren zu beschrän­ken.“[7]

Für mich war das eine inter­es­san­te Ein­sicht, dass im 19. Jahr­hun­dert die bis dahin kon­sti­tu­ti­ve Ein­heit von Kul­tur und Ethik sich auf Kos­ten der Ethik lös­te und die ethi­sche Per­spek­ti­ve ver­küm­mer­te. Erst erst recht konn­te sich eine Tier­ethik nicht recht ent­fal­ten. Scho­pen­hau­er ist hier eine Aus­nah­me, aber er war ja auch vom Bud­dhis­mus inspi­riert. Tat tvam asi – dies bist du, „wel­ches alle­zeit über jedes Tier aus­zu­spre­chen ist, um uns die Iden­ti­tät des innern Wesens in ihm und uns gegen­wär­tig zu erhal­ten, zur Richt­schnur unse­res Tuns.“[8]

Aber natür­lich muss ich hier als ehe­ma­li­ger Pfar­rer an der Leon­hards­kir­che an den evan­ge­li­schen Pfar­rer Chris­ti­an Adam Dann erin­nern, der 1822 die m.W. ers­te Schrift gegen Tier­quä­le­rei ver­öf­fent­lich­te: „Bit­te der armen Thie­re, der unver­nünf­ti­gen Geschöp­fe, an ihre ver­nünf­ti­gen Mit­ge­schöp­fe und Herrn, die Men­schen.“ 1837 grün­de­te dann sein Freund und Nach­fol­ger an der Leon­hards­kir­che Albert Knapp, als Lie­der­dich­ter bekannt, den ers­ten Tier­schutz­ver­ein in Deutschland.

[1] Phi­lo­so­phie und Tier­schutz­be­we­gung, zit. nach Aus­ge­wähl­te Wer­ke in 5 Bän­den, Bd. 5, S. 137.
[2] „Aber auch an mei­ner Mei­nung, daß die Welt- und Lebens­ver­nei­nung an sich ohne Ethik ist, daß das Ahiṃsā-Gebot nicht aus einem Gefühl des Mit­leids erwächst, son­dern aus dem Gedan­ken, sich von der Welt rein zu hal­ten, und daß das Motiv des Mit­leids in der Ahiṃsā erst spä­ter Platz fand, könn­ten indi­sche Leser Anstoß neh­men.“ Schweit­zer: Die Welt­an­schau­ung der indi­schen Den­ker: Mys­tik und Ethik (Beck’sche Rei­he 332), S. 22.
[3] Vgl. Vol­ker Michels: Hand anle­gen, statt pre­di­gen!. Her­mann Hes­se und Albert Schweit­zer, in: Albert Schweit­zer, Hun­dert Jah­re Mensch­lich­keit, Fest­schrift des Deut­schen Hilfs­ver­eins für das Albert-Schweit­zer-Spi­tal in Lam­ba­re­ne, hg.v. EIn­hard Weber, 2013, S. 78–83.
[4] Schweit­zer: Kul­tur­phi­lo­so­phie. Ver­fall und Wie­der­auf­bau der Kul­tur. Kul­tur und Ethik (Beck’sche Rei­he 1150), Mün­chen 22016 (Erst­aus­ga­be 1923) S. 16.
[5] Ebd., S. 17.
[6] Ebd., S. 19.
[7] Schweit­zer: Aus mei­nem Leben und Den­ken (Kap. XIII: Das ers­te Wir­ken in Afri­ka 1913–1917), zitiert nach Aus­ge­wähl­te Wer­ke in fünf Bän­den, Bd. 1, S. 158f.
[8] Parer­ga und Para­li­po­me­na II, Sämtl. Wer­ke, hg.v. W.v.Löhneysen, Bd. V S. 441, 1851.
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Kritik

Posi­tiv über­rascht war ich, bei Schweit­zer fol­gen­den Gedan­ken zu fin­den: „Etwas, das in einem Instinkt vor­ge­bil­det ist, greift es [das Den­ken] auf, um es aus­zu­deh­nen und zur Voll­kom­men­heit zu brin­gen. Es erfaßt den Inhalt eines Instink­tes und sucht ihn in neu­en und kon­se­quen­ten Ver­fah­ren zu ver­wirk­li­chen.“[1]

Hier fin­de ich bei Schweit­zer eine Her­an­ge­hens­wei­se wie­der, die mich selbst moti­viert: näm­lich mora­li­sche Intui­tio­nen zu beschrei­ben und die­se ethisch zu reflek­tie­ren und zu modifizieren.

Die sechs mora­li­schen Intui­tio­nen, die ich nach Jona­than Haidt für abso­lut plau­si­ble Uni­ver­sa­li­en des Men­schen hal­te, kön­nen als heu­ris­ti­sches Mit­tel die­nen mit der Fra­ge: Wel­che Rol­le spie­len sie bei Albert Schweitzer:

Gleich die ers­te Intui­ti­on, Mit­ge­fühl, spielt die über­ra­gen­de Rol­le. Aber die anderen?

Gerech­tig­keits­ge­fühl. Die­ses spielt in Schweit­zers ethi­schen Refle­xio­nen prak­tisch kei­ne Rol­le. Ich hat­te aber schon dar­auf hin­ge­wie­sen, dass ihn der Kern des uni­ver­sa­len Gerech­tig­keits­ge­fühls, näm­lich das Gleich­ge­wicht von Geben und Neh­men, ja zu sei­nem altru­is­ti­schen Leben moti­viert hat: Ihn „über­fiel“ ja regel­recht der Gedan­ke, dass er sein Lebens­glück „nicht als etwas Selbst­ver­ständ­li­ches hin­neh­men dür­fe, son­dern etwas dafür geben müs­se.“ Ver­ein­zelt the­ma­ti­siert er die Rezi­pro­zi­tät zwi­schen Mensch und Tier: „Gera­de dadurch, daß das Tier als Ver­suchs­tier in sei­nem Schmerz so Wert­vol­les für den lei­den­den Men­schen erwor­ben hat, ist ein neu­es, ein­zig­ar­ti­ges Soli­da­ri­täts­ver­hält­nis zwi­schen ihm und uns geschaf­fen wor­den. … Indem ich einem Insekt aus sei­ner Not hel­fe, tue ich nichts ande­res, als daß ich ver­su­che, etwas von der immer neu­en Schuld der Men­schen an die­ser Krea­tur abzu­tra­gen.“ (Kul­tur­phi­lo­so­phie, Beck’sche Rei­he 1150, 1996, 1. Auf­la­ge 1923, S. 317.)

Das The­ma Koope­ra­ti­on hat Schweit­zer in sei­nen Haupt­schrif­ten eben­falls nicht aus­führ­lich the­ma­ti­siert. Aber er weiß natür­lich um das Pro­blem der Ver­wandt­schafts­ban­de, die in den meis­ten Kul­tu­ren domi­nie­ren. „Für den Pri­mi­ti­ven hat die Soli­da­ri­tät eng­ge­zo­ge­ne Gren­zen. Sie beschränkt sich auf sei­ne Bluts­ver­wand­ten im wei­te­ren Sin­ne, das heißt auf die Mit­glie­der sei­nes Stam­mes, die für ihn die Fami­lie im Gro­ßen reprä­sen­tie­ren.“ (V, 143) Im Hos­pi­tal wird Für­sor­ge unter­ein­an­der nur für Stam­mes­an­ge­hö­ri­ge geleis­tet und dar­auf stellt sich Schweit­zer ein. Schweit­zer sieht die Aus­wei­tung des Krei­ses der Für­sor­ge begrün­det in einer „Höher­ent­wick­lung des mensch­li­chen Den­kens.“ Es fin­den sich in sei­nen Schrif­ten aus dem Nach­lass inter­es­san­te Pas­sa­gen, die an die exten­ding cir­cles von Peter Sin­ger erinnern:

„Die Anre­gung, den Kreis der Zusam­men­ge­hö­rig­keit mit ande­ren Men­schen wei­ter zu zie­hen, emp­fängt er nicht nur durch die Ver­ge­gen­wär­ti­gung der zwi­schen ihm und ihnen bestehen­den Wesens­ver­wandt­schaft, son­dern auch aus der für ihn gege­be­nen Mög­lich­keit einer umfas­sen­den Betä­ti­gung für ande­re. Durch sei­ne sich stets ent­wi­ckeln­den Fähig­kei­ten wird er dazu geführt, sich mit sei­ner Ver­bun­den­heit auch mit dem ihm fer­ner ste­hen­den Leben zu beschäf­ti­gen. Die Bedeu­tung die­ser mate­ri­el­len Vor­aus­set­zung für die ethi­sche Ent­wick­lung des Men­schen ist in den bis­he­ri­gen Unter­su­chun­gen viel zu wenig beach­tet und gewür­digt wor­den.“ (2000, S.265.)

Und natür­lich bezieht er die Tie­re in gewis­ser Wei­se in ein Wir ein: Wir Lebe­we­sen wol­len leben.

Das The­ma Frei­heit spielt – so weit ich sehe – in Schweit­zers Ethik kei­ne Rolle.

Der Aspek­te der Hei­lig­keit ist bei Schweit­zer natür­lich gut auf­ge­ho­ben in der Ehr­furcht vor dem Leben. Übri­gens geht es nicht nur um Ehr­furcht vor allem Leben­di­gen, son­dern Ehr­furcht vor dem Leben in allem Lebendigen.

Und der Aspekt der intui­ti­ven Wert­schät­zung des kul­tu­rel­len Wis­sens spielt eben­falls eine zen­tra­le Rol­le. Er ringt ja um die Bewah­rung und Wie­der­her­stel­lung einer Kul­tur, weil er weiß, dass wir Men­schen uns nach dem, was en vogue ist, ausrichten.

Dass ins­be­son­de­re die Aspek­te Gerech­tig­keit und Frei­heit in sei­ner expli­zi­ten Ethik nahe­zu feh­len, ist ein ech­ter Man­gel. Sie las­sen sich auch nicht ohne Wei­te­res im Mit­ge­fühl unter­brin­gen. Alle den­ke­ri­schen Bemü­hun­gen um Ethik schei­tern, wenn sie nicht eine Plu­ra­li­tät von ethisch-mora­li­schen Grund­prin­zi­pi­en anerkennen.

Dage­gen stim­me ich mit Schweit­zer dar­in über­ein, dass wir kei­ne phi­lo­so­phi­sche For­mel haben wie den kate­go­ri­schen Impe­ra­tiv, die uns eine ethi­sche Refle­xi­on abneh­men oder erleich­tern könn­te. Und auch darin:

„Es gibt nur eine ein­zi­ge Ethik, kei­ne phi­lo­so­phi­sche, kei­ne wis­sen­schaft­li­che, kei­ne theo­lo­gi­sche —son­dern nur eine Ethik.“[2]

Ich den­ke, wir brau­chen eine Plu­ra­le Ethik. Denn: „Wel­che Stand­punk­te wir, wenn alle Argu­men­te aus­ge­tauscht wer­den, am Ende ein­neh­men, hängt vom Ins­ge­samt unse­rer gefühl­ten Über­zeu­gun­gen ab.“ (Wey­ma Lüb­be, Zschr.f.Ev.Ethik 53 S.23) In unse­re ethisch-mora­li­schen Über­zeu­gun­gen geht alles ein, was wir erlebt und erfah­ren haben, was wir wis­sen, was wir glau­ben, wie wir neu­ro­lo­gisch prä­dis­po­niert sind, wie unse­re Stim­mung ist usw.

Aber wenn es um kon­kre­te ethi­sche Dilem­ma­ta geht, kön­nen wir uns oft, ich wür­de sogar sagen, meist gut mit­ein­an­der ver­stän­di­gen. Letzt­lich ver­schmel­zen sich ja in einem inten­si­ven Aus­tausch die Hori­zon­te, zum Teil jedenfalls.

Schweit­zers The­ma ist das Leben in allem Leben­di­gen. Aber ist es nicht das Kenn­zei­chen des Leben­di­gen, dass es sich ent­wi­ckelt, kor­rek­ter: dass es einen evo­lu­ti­ven Pro­zess durch­läuft? Schweit­zer spricht unbe­fan­gen von höhe­ren Lebens­for­men. Und ten­den­zi­ell erkennt er den Unter­schied an, den es für mein Mit­füh­len macht, ob ein Lebe­we­sen Schmerz emp­fin­den kann oder nicht, für mein Mit­freu­en, ob es (offen­kun­dig) Lebens­freu­de emp­fin­det oder nicht. Klar, die Kraft des Lebens wirkt auch in einer Pflan­ze und in einem Bak­te­ri­um. Aber kann nicht auch ein Öko­sys­tem mein ehr­fürch­ti­ges Stau­nen erre­gen? Oder sogar der gan­ze Baum oder Strauch der Evo­lu­ti­on alles Leben­di­gen – wie ja in den ers­ten Ver­sen der Bibel „Gott erschafft ein jedes nach sei­ner Art“ das Augen­merk auf die Viel­falt gerich­tet wird, und auf die wach­sen­de Kom­ple­xi­tät des Lebens. Ich höre den Wider­spruch: es gibt kei­ne Höher­ent­wick­lung: Jedes, auch das ein­fachs­te Lebe­we­sen, das an sei­ne aktu­el­le Umwelt ange­passt ist, ist per­fekt ent­wi­ckelt, jeden­falls bis auf wei­te­res. Was soll Kom­ple­xi­tät über­haupt sein? Die Fra­ge lässt sich jedoch beant­wor­ten: Inte­gra­ti­on von Vielfalt.

Müss­ten wir nicht das, was für die bun­te Viel­falt des Lebens des Lebens sorgt, die­sem evo­lu­ti­ven Pro­zess mit der Ehr­furcht begeg­nen, die Schweit­zer für das Leben erfah­ren und pro­kla­miert hat?

Hier ste­hen wir mit­ten in einem teil­wei­se erbit­tert geführ­ten Streit zwi­schen Tier- und Arten­schüt­zern. Soll man, darf man ein­ge­führ­te Zie­gen schie­ßen, weil sie das Öko­sys­tem auf Inseln zer­stö­ren? Rat­ten ver­gif­ten, weil sie die Vogel­ge­le­ge plün­dern? Darf man Tie­re töten, um die Viel­falt des Lebens zu schützen?

In der Regel muss es sich natür­lich nicht aus­schlie­ßen, dass wir für das Tier­wohl und für Bio­di­ver­si­tät ein­tre­ten. Ange­sichts der Mons­tro­si­tät, dass eine bio­lo­gi­sche Art namens Homo sapi­ens, ein 6. glo­ba­les Arten­ster­ben ver­ur­sacht und auch sei­ne Lebens­grund­la­gen beschä­digt und gefähr­det, wäre nötig, was Schweit­zer uns ein­schär­fen woll­te: Denkt mal nach und in die Tie­fe und fangt an danach zu leben. „Nach­denk­lich machen ist die tiefs­te Art zu begeis­tern.“[3]

[1] Schweit­zer: Kul­tur­phi­lo­so­phie. Ver­fall und Wie­der­auf­bau der Kul­tur. Kul­tur und Ethik (Beck’sche Rei­he 1150), Mün­chen 22016 (Erst­aus­ga­be 1923) S. 290.
[2] Schweit­zer: Die Welt­an­schau­ung der Ehr­furcht vor dem Leben, Kul­tur­phi­lo­so­phie III, S. 387.
[3] Ebd., S. 379.