Mora­li­sche Ambition

Schon der Titel hat es in sich. Mit Moral ver­bin­den wir eher Gewohn­heit, Behar­rung und, ja, etwas Lang­wei­li­ges. Und tat­säch­lich hat Breg­man in sei­nem Buch „Im Grun­de gut“ dem Men­schen  sei­ne natür­li­che und habi­tu­el­le Gut­heit attes­tiert, – die aller­dings mit Grau­sam­kei­ten ganz gut koexis­tie­ren kann. Nun for­dert Breg­man die­se sat­te Gut­heit her­aus und for­dert, dass sie sich ernst nimmt, ja ambi­tio­niert sich ent­fal­tet und durch­setzt, immer mit dem Gelin­gen als Maß­stab und Ziel.

Was ist moralische Ambition?

Moral und Ambi­ti­on kom­men nicht mehr oft zusammen.

Men­schen geben sich meist mit recht ein­fa­chen mora­li­schen Zie­len zufrie­den: Müll tren­nen, etwas weni­ger Fleisch essen etc. Sie sind idea­lis­tisch, aber ohne Ambi­ti­on. Auf der ande­ren Sei­te gibt es ambi­tio­nier­te Men­schen, die aller­dings aktu­ell durch Geld und Repu­ta­ti­on ange­zo­gen und ange­wor­ben wer­den von der Finanz­in­dus­trie, der Unter­neh­mens­be­ra­tung oder der IT-Bran­che. Fast immer geht das auf Kos­ten ihrer Idea­le. Breg­man ist fas­zi­niert von Men­schen, die bei­des ver­ei­nen: Ambi­ti­on und Idea­lis­mus. Und er will ins­be­son­de­re bei jun­gen Men­schen die laten­te Begeis­te­rung dafür wecken.

Beispiele für moralische Ambition

Es gibt auf­schluss­rei­che Bei­spie­le. Breg­man nennt z.B. Tho­mas Clark­son, der 1785 im Alter von 25 Jah­ren begann, gegen die Skla­ve­rei zu kämp­fen, Olau­dah Equia­no, der den größ­ten Best­sel­ler der Anti-Skla­ve­rei-Bewe­gung schrieb und geschickt und wirk­sam sei­ne (teils aller­dings fik­ti­ve) Lebens­ge­schich­te in Sze­ne setz­te, Rosa Parks, die mit ande­ren Frau­en einen klug vor­be­rei­te­ten Bus­boy­kott gegen die Ras­sen­tren­nung initi­ier­te, Rob Mather, der den Kampf gegen Mala­ria auf­nahm und mit der Against Mala­ria Foun­da­ti­on bis heu­te schät­zungs­wei­se 100.000 Men­schen das Leben rettete.

Die Bedeutung der Impfforschung

Unter Gesund­heits­wis­sen­schaft­lern ist unbe­strit­ten, dass Imp­fun­gen ent­schei­dend die Zahl der vor­zei­ti­gen Todes­fäl­le ver­rin­gern. Breg­man ver­weist auf die ergrei­fen­den Sze­nen, die sich 1955 abspiel­ten, als bekannt gege­ben wur­de, dass nun ein siche­rer und wirk­sa­mer Impf­stoff gegen die Kin­der­läh­mung, gegen Polio, zur Ver­fü­gung stand. Der Ent­wick­ler Jonas Salk ließ den Impf­stoff nicht paten­tie­ren: „Wür­den Sie die Son­ne paten­tie­ren las­sen?“ (S. 157) Nur die Angst vor der Atom­bom­be über­traf den Schre­cken, der von Polio aus­ging. „Im Saal, in dem die Pres­se­kon­fe­renz statt­fand, fie­len sich die Men­schen wei­nend in die Arme.“ (S. 156) Der ukrai­ni­sche Viro­lo­ge Wik­tor Schd­anow warb 1958 erfolg­reich für ein Pro­jekt der WHO, die Pocken welt­weit aus­zu­rot­ten, was dann im Okto­ber 1977 (nahe­zu) erfolg­reich gelun­gen war. Und Bill Gates ist es zu ver­dan­ken, dass ein eini­ger­ma­ßen wirk­sa­mer Impf­stoff gegen Mala­ria ent­wi­ckelt wur­de. Mala­ria zählt trotz der enor­men Zahl von Opfern zu den (von den rei­chen Län­dern und ihrer Phar­ma­in­dus­trie) ver­nach­läs­sig­ten Krankheiten.

Hindernisse

Selbst wenn Moral und Ambi­ti­on tat­säch­lich zusam­men kom­men, ist der Erfolg nicht garan­tiert. Denn die Not­wen­dig­keit, sich mit­ein­an­der zu ver­net­zen, geht damit ein­her, dass nicht weni­ge mit dem Anspruch auf „Rein­heit“ auf­tre­ten. Die bri­ti­schen Aboli­tio­nis­ten strit­ten sich z.B. um die Fra­ge, ob es ver­tret­bar sei, „nur“ den Skla­ven­han­del, also die Ver­schif­fung ver­sklav­ter Men­schen zu ver­bie­ten, nicht aber die Skla­ve­rei selbst. Tho­mas Clark­son konn­te sich durch­set­zen. Er hoff­te zwar, dass auch das Ziel der völ­li­gen Abschaf­fung der Skla­ve­rei näher rücken wür­de, the­ma­ti­sier­te dies aber nicht öffent­lich, son­dern kon­zen­trier­te sich auf das erreich­ba­re Ziel.

Breg­man ist hier ganz auf der prag­ma­ti­schen Sei­te im Inter­es­se eines rea­len mora­li­schen Erfolgs. Man sol­le – um nur eines sei­ner Bei­spie­le zu nen­nen – nicht von Bünd­nis­part­ne­rin­nen erwar­ten, dass sie im Sin­ne der Inter­sek­tio­na­li­tät mit der Bekämp­fung des Kli­ma­wan­dels gleich auch Wie­der­gut­ma­chung für den ras­sis­ti­schen Kapi­ta­lis­mus for­dern müss­ten. Vie­le pro­gres­si­ven Inter­es­sen­grup­pen in den USA wür­den – so die lin­ke Platt­form The Inter­cept – durch inter­ne Strei­tig­kei­ten lahmgelegt.

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Bregman: Moralische Ambition

Rut­ger Breg­man: Mora­li­sche Ambi­ti­on, Rowohlt 2024.

Auf welche Probleme sollte sich moralische Ambition konzentrieren?

Aber wel­che Pro­ble­me gibt es welt­weit und auf wel­che soll­te sich das Enga­ge­ment kon­zen­trie­ren? Nach Breg­man soll­ten die­se weit­rei­chend, zu wenig beach­tet und lös­bar sein.

In einem Inter­view mit der Süd­deut­schen Zei­tung vom 4.9.2025 nennt Bregman

  • die Lebens­mit­tel­wen­de als zu wenig beach­te­ten Aspekt des Klimawandels,
  • den Kampf gegen die Tabak­in­dus­trie, weil Rau­chen „die mit Abstand größ­te ver­meid­ba­re Krank­heits­ur­sa­che der Welt“ sei, sowie
  • den Ein­satz für mehr Steuergerechtigkeit.

In sei­nem Buch geht er nicht zuletzt auf Gesund­heits­the­men ein:

Joey Savoie, des­sen unge­wöhn­li­chen Cha­rak­ter und Lebens­lauf Breg­man skiz­ziert, ent­schied sich mit sei­nem Team in Indi­en dafür, in Koope­ra­ti­on mit Kli­ni­ken SMS-Nach­rich­ten an Eltern zu schi­cken, die sie an die anste­hen­de Imp­fung ihres Kin­des erin­nern. Dann begann er ande­re Initia­ti­ven zu coa­chen und finan­zi­ell zu unter­stütz­ten, etwa eine Grup­pe, die in Koope­ra­ti­on mit ört­li­chen Mül­lern Wei­zen­mehl mit Eisen, Fol­säu­re und Vit­amin B12 anrei­chern konnte.

Unter der Über­schrift „Sei­en Sie ein guter Vor­fah­re“ rich­tet Breg­man den Blick auf die größ­ten Gefah­ren für die künf­ti­ge Mensch­heit. Da sind nach Breg­man neben dem Kli­ma­wan­del zu nen­nen: die andau­ern­de Gefahr durch Atom­bom­ben, Künst­li­che Intel­li­genz, che­mi­sche oder bio­lo­gi­sche Waf­fen in der Hand von Ter­ro­ris­ten, das Ent­wei­chen gen­ver­än­der­ter Kei­me aus dem Labor und das Auf­tre­ten neu­er oder bekann­ter Infek­ti­ons­er­re­ger, denn eine „kom­men­de Pan­de­mie könn­te noch viel, viel schlim­mer wüten“ als Coro­na (S. 254).

Der Auf­ruf, ein guter Vor­fah­re zu sein, erin­nert an die For­de­rung, die Zukunft „enkel­taug­lich“ zu gestal­ten, eine Wort­neu­prä­gung wahr­schein­lich von 2001 durch das Netz­werk Kin­der­ge­sund­heit und Umwelt[1].

[1] Netz­werk Kin­der­ge­sund­heit und Umwelt (Hrsg.): Kind – Umwelt – Gesund­heit. Akti­vi­tä­ten von Nicht­re­gie­rungs­or­ga­ni­sa­tio­nen mit Kin­der­agen­da für Gesund­heit und Umwelt 2001. Vor­schlä­ge für eine enkel­taug­li­che Poli­tik. Bre­men [2001], S. 45.

Unterschiede zum Effektiven Altruismus

Unver­meid­lich kommt Breg­man auf die Initia­ti­ven des Effek­ti­ven Altru­is­mus zu spre­chen. Denn die Über­schei­dun­gen sind offen­kun­dig. Auch in die­sem Ansatz wird ver­sucht, die größ­te Not effek­tiv zu adres­sie­ren, und zudem ist in bei­den Ansät­zen auch das Leid der Tie­re rele­vant, ein The­ma, das Breg­man für den blin­den Fleck der Gegen­wart hält. Wäh­rend jedoch der Effek­ti­ve Altru­is­mus dar­auf bedacht ist, ins­be­son­de­re finan­zi­el­le Mit­tel nach uti­li­ta­ris­ti­schen Prin­zi­pi­en ein­zu­set­zen, so dass sie den größ­ten Nut­zen gene­rie­ren, geht es Breg­man um poli­ti­sche und wis­sen­schaft­li­che Hebel, um Leid zu redu­zie­ren. Unter Umstän­den kann Lob­by­ar­beit in Brüs­sel mehr bewir­ken als jede Geld­über­wei­sung, Steu­er­ge­rech­tig­keit mehr als eine mora­li­sche Argumentation.

Zudem möch­te sich Breg­man an kei­ner Form der schuld­ori­en­tier­ten „Auf­rech­nung“ betei­li­gen, son­dern auf Enthu­si­as­mus: „Wir wol­len ein reich­hal­ti­ges und abwechs­lungs­rei­ches Leben füh­ren, nicht allein, um unse­re Ambi­ti­on auf­recht­zu­er­hal­ten, son­dern auch als Ziel an sich.“ (S. 277)

Bregmans Projekt

Beim Lesen des Buches stellt sich unver­meid­lich die Fra­ge, wor­in sich denn Breg­mans per­sön­li­che mora­li­sche Ambi­ti­on kon­kre­ti­siert. Gut, das Schrei­ben die­ses Buches ver­dient ohne Aner­ken­nung. Aber tat­säch­lich: Breg­man hat ein eige­nes Pro­jekt ins Leben geru­fen, die „School for Moral Ambi­ti­on“ mit Sitz in Ams­ter­dam. Die nicht unbe­trächt­li­chen Ein­nah­men durch sein Buch flie­ßen voll­stän­dig in die­se Initia­ti­ve. Sie ver­gibt Sti­pen­di­en an klu­ge ambi­tio­nier­te jun­ge Leu­te, die sich mit mora­li­scher Ambi­ti­on den Pro­ble­men die­ser Welt­zeit wid­men wollen.

Stil und Lesbarkeit

Das Buch – ange­rei­chert durch Gra­fi­ken und Fotos – ist leicht und gut zu lesen, bei Bedarf führt der Anmer­kungs­teil tie­fer in die zitier­te Literatur.

Kritik

Eine kri­ti­sche Fra­ge könn­te sich auf den Leser*innenkreis, für den Breg­man geschrie­ben hat, bezie­hen. Ist jemand, der nicht jung und bril­lant ist, über­haupt ange­spro­chen? Ander­seits: Ist die Grund­aus­sa­ge Der Ein­zel­ne kann einen Unter­schied machen! nicht für jede und jeden rele­vant und inter­es­sant? Sie basiert auf der Annah­me der tran­szen­den­ta­len Obdach­lo­sig­keit (Georg Lukács: Theo­rie des Romans) des Men­schen. Es kommt auf ihn an. Zum Glück ist er im Grun­de gut, aber garan­tiert das schon sein Über­le­ben? Ver­mut­lich wol­len wir uns nicht in jedem Augen­blick mit die­sen Fra­gen kon­fron­tie­ren und viel­leicht beglei­tet vie­le Leser*innen des­halb auch ein Unbe­ha­gen bei der Lek­tü­re des Buches von Breg­man, aber wenn wir die Kon­tin­genz unse­rer Exis­tenz ver­drän­gen, erlie­gen wir womög­lich gefähr­li­chen Illusionen.

Die Home­page der moralischeambition.org

Ein (schrift­li­ches) Inter­view mit dem Sen­der CNN, das Breg­man als sein „favo­ri­te inter­view so far“ bezeich­net, nicht zuletzt weil er ein biss­chen von sei­ner wun­der­ba­ren Eltern erzäh­len konnte.

Rut­ger Breg­man in „The Dai­ly Show“ (eng­lisch)

Rut­ger Breg­man in „The Four­cast“ (eng­lisch)

Bregman: Moralische Ambition

Rut­ger Breg­man: Mora­li­sche Ambi­ti­on, Rowohlt 2024.