Dr. Günter Renz

Impul­se Abitur: (Medizin-)Ethik trifft Coro­na. Vor­trag von Gün­ter Renz am 8.3.2021 im Hos­pi­tal­hof Stutt­gart (Online-Über­tra­gung)
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Mit Verstand und Moral aus der Krise

In der Ver­un­si­che­rung, die die Coro­na-Pan­de­mie bewirkt, ist zwei­er­lei gefragt: 1. das aktu­ell ver­füg­ba­re Wis­sen (Infek­ti­ons­ri­si­ko, Krank­heits­ver­läu­fe usw.) und 2. die mora­lisch-ethi­sche Bewer­tung, aus der per­sön­li­che und poli­ti­sche Ent­schei­dun­gen her­vor­ge­hen. Das Ers­te­re bil­det dabei die Grund­la­ge, so begrenzt das Wis­sen um die Fak­ten auch ist. Denn oft ist klar, was zu tun ist, wenn klar ist, was der Fall ist.[1] Dazu ver­hel­fen mora­li­schen Intui­tio­nen. Der Sozi­al­psy­cho­lo­ge Jona­than Haidt[2] hat Emp­fangs­ka­nä­le aus­ge­macht, auf denen prak­tisch alle Men­schen mora­lisch ansprech­bar sind. Ähn­lich wie beim Geschmacks­sinn ver­fü­gen wir über mora­li­sche „Rezep­to­ren“:

  • Wir kön­nen Mit­ge­fühl empfinden.
  • Wir haben ein Emp­fin­den für „Hei­li­ges“.
  • Wir weh­ren uns gegen Unter­drü­ckung und stre­ben nach Freiheit.
  • Wir haben ein intui­ti­ves Ver­ständ­nis für Gerech­tig­keit und Fairness.
  • Wir sind bereit zur Kooperation.

Der Titel die­ses Vor­tra­ges könn­te also auch sehr tref­fend lau­ten: Coro­na trifft Ethik. Noch adäqua­ter kön­nen wir sagen: Die Coro­na-Pan­de­mie trifft auf einen Men­schen, der über mora­li­sche Intui­tio­nen ver­fügt, die sei­ne Reak­ti­on maß­geb­lich lei­ten. Mög­li­cher­wei­se kommt es in einem zwei­ten Schritt dann zur ethi­schen Reflexion.

Wir kön­nen nun fest­stel­len: Die Unter­schie­de in unse­rer mora­li­schen Bewer­tung lie­gen oft dar­an, dass wir die genann­ten fünf Aspek­te unter­schied­lich gewich­ten. Und das tun auch Ethiken:

So kann für die einen Mit­ge­fühl zen­tral sein und die Bil­der aus Ita­li­en rei­chen dann völ­lig aus, um die Ein­schrän­kung der eige­nen Frei­heit zu tolerieren.
Mit­ge­fühl wird dann auch emp­fun­den und ein­ge­for­dert wer­den für die iso­lier­ten vul­ner­ablen Per­so­nen. Alte Men­schen in den diver­sen Ein­rich­tun­gen sol­len nicht von allem Kon­takt abge­schnit­ten wer­den. Ver­mut­lich wer­den Men­schen, für die Empa­thie und Mit­ge­fühl einen hohen Wert dar­stel­len, sich auf eine Care-Ethik im Sin­ne Carol Gil­ligans[3] berufen.

Für ande­re steht im Mit­tel­punkt, dass sie Leben an sich als hei­lig betrach­ten und sie folg­lich Maß­nah­men zum Lebens­er­halt unbe­dingt befür­wor­ten. Jür­gen Haber­mas ver­steht das Grund­ge­setz bzw. die Aus­le­gung des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­rich­tes so, dass der (von der Men­schen­wür­de untrenn­ba­re) Lebens­schutz zen­tral ist, weil Leben die Vor­aus­set­zung aller ande­ren Grund­rech­te (z.B. Ver­samm­lungs- und Reli­gi­ons­frei­heit) ist.[4]

Wie­der ande­re kön­nen die Ein­schrän­kung der per­sön­li­chen Frei­heit als mora­lisch inak­zep­ta­bel emp­fin­den. Juli­an Nida-Rüme­lin sagt: „Auto­no­mie, Auto­no­mie, Auto­no­mie – und zwar aller, auch der Älte­ren und der Vor­er­krank­ten!“[5]

Und natür­lich stel­len wir alle Gerech­tig­keits­über­le­gun­gen an und for­dern z.B. Kom­pen­sa­tio­nen und Für­sor­ge für die, die beson­de­re Belas­tun­gen tra­gen, etwa Allein­er­zie­hen­de, durch häus­li­che Gewalt Bedroh­te und Kin­der, die nicht über die nöti­gen Lern­mit­tel ver­fü­gen. Und in der glo­ba­len Per­spek­ti­ve wird sich die Fra­ge der Ver­tei­lung des Impf­stof­fes stel­len – und sei­nes Preises.

Eine gro­ße Rol­le spielt schließ­lich der Wert der Soli­da­ri­tät. Und es zeigt sich in beein­dru­cken­der Wei­se, dass Men­schen dazu auch in einer sehr indi­vi­dua­lis­tisch gepräg­ten Gesell­schaft Rück­sicht neh­men und eine gemein­sa­me Anstren­gung soli­da­risch auf sich neh­men. Ja, oft rückt in der Kri­sen­si­tua­ti­on erst der Nach­bar ins Bewusst­sein und ruft die Hilfs­be­reit­schaft her­vor. Und die Ein­satz­be­reit­schaft etwa der Pfle­ge­kräf­te wird dank­bar anerkannt.

Aller­dings deckt gera­de die­ser zuletzt genann­te Wert der Soli­da­ri­tät eine Schwä­che unse­rer mensch­li­chen mora­li­schen Aus­stat­tung auf. Denn unse­re Bereit­schaft zur Koope­ra­ti­on und Soli­da­ri­tät hat die Schat­ten­sei­te, dass wir geneigt sind, Ande­re aus­zu­schlie­ßen[6]. Erst unser Ver­stand sagt uns, dass die­se Begren­zung irra­tio­nal ist. Des­halb kenn­zeich­net auch die aller­meis­ten Ethi­ken (sei es Kants Ethik oder den Uti­li­ta­ris­mus) die For­de­rung nach Ver­all­ge­mei­ner­bar­keit. Sie gehen damit über unse­re mora­li­schen Intui­tio­nen hin­aus. Welt­wei­te Gerech­tig­keit, ein Han­deln, als hät­te man Mit­ge­fühl mit allen, auch den Flüch­ten­den oder Coro­na-Infi­zier­ten in Indi­en, zu so radi­ka­len Schlüs­sen kommt unser Ver­stand, wenn wir ihn ergän­zend zu unse­ren mora­li­schen Intui­tio­nen, zu Wor­te kom­men lassen.

Der Radi­ka­li­tät, die in der ange­deu­te­ten Uni­ver­sa­li­sie­rung steckt und die sowohl aus dem Kate­go­ri­schen Impe­ra­tiv Kants spricht wie aus der For­mel des Uti­li­ta­ris­mus – das größ­te Glück der größt­mög­li­chen Zahl sei das höchs­te Ziel – ent­geht ein kon­se­quent Den­ken­der nicht. Aber war­um soll­te er alles auf eine For­mel redu­zie­ren, wenn wir doch unhin­ter­geh­bar in Mit­ge­fühl, Gerech­tig­keit, Soli­da­ri­tät, Frei­heit und wohl ver­stan­de­ner Hei­lig­keit Wer­te erle­ben und erken­nen, die sich nicht auf­ein­an­der redu­zie­ren las­sen – deren Span­nung unter­ein­an­der wir aber mit­un­ter aus­hal­ten müssen.

Anmer­kun­gen

[1] In Anleh­nung an eine For­mu­lie­rung von Her­mann Lüb­be, der von der sehr all­ge­mei­nen Norm eines Medi­zi­ners spricht, die dar­über mit bestimmt, „was fäl­lig ist, wenn der Fall ist, was für wahr zu hal­ten die Wis­sen­schaft gute Grün­de lie­fert“, Lüb­be 1990, S.47.
[2] Haidt 2012. Haidt nennt sechs Intui­tio­nen für fol­gen­de Gegen­satz­paa­re: care/harm, liberty/oppression, fairness/cheating, loyalty/betrayal, authority/subversion, sanctity/degradation. Authority/subversion wur­de von mir nicht auf­ge­führt. Haidts Aus­füh­run­gen über­zeu­gen hier nur mit Modi­fi­ka­tio­nen: Wie Joseph Hen­rich (Hen­rich 2015) über­zeu­gend dar­ge­legt hat, gibt es eine in der Human­evo­lu­ti­on ent­wi­ckel­te Nei­gung, Respekt vor kul­tu­rel­lem Wis­sen zu haben. Die­se sechs­te (und tat­säch­lich gera­de­zu mora­lisch gefärb­te) Intui­ti­on, soll­te sich in unse­rer wis­sen­schaft­lich gepräg­ten Kul­tur im Respekt vor wis­sen­schaft­li­cher Erkennt­nis wie­der­fin­den lassen.
[3] Gil­ligan 1998.
[4] Haber­mas und Gün­ther 2020.
[5] Nida-Rüme­lin und Schloe­mann 2020.
[6] Wohl die größ­te mora­li­sche Schwä­che unse­rer mora­li­schen Aus­stat­tung: Die Frem­den kön­nen inter­es­san­te Han­dels- (und auch Sexu­al­part­ner) sein, aber das Miss­trau­en und die Aggres­si­ons­be­reit­schaft sind nicht leicht zu sub­li­mie­ren und zu über­win­den. Vgl. z.B. das aus­ge­zeich­ne­te Buch von Ber­re­by: Us and them, Ber­re­by 2008.

Lite­ra­tur­ver­zeich­nis

Ber­re­by, David (2008): Us and them. The sci­ence of iden­ti­ty. Chi­ca­go: Uni­ver­si­ty of Chi­ca­go Press.

Dil­lon, Andrew (2015): Car­ry­ing NICE over the thres­hold. Hg. v. NICE. Online ver­füg­bar unter https://www.nice.org.uk/news/blog/carrying-nice-over-the-threshold, zuletzt geprüft am 23.06.2020.

Gil­ligan, Carol (1998): Die ande­re Stim­me. Lebens­kon­flik­te und Moral der Frau. Unter Mit­ar­beit von (Übers.) Bri­git­te Stein. 6. Aufl., 30. – 35. Tsd, Neu­ausg. Mün­chen: Piper (Serie Piper, 838).

Haber­mas, Jür­gen; Gün­ther, Klaus (2020): Frei­heit! Lebens­schutz! – Ein Gedan­ken­aus­tausch. In: DIE ZEIT 2020, 06.05.2020 (20). Online ver­füg­bar unter https://www.zeit.de/2020/20/grundrechte-lebensschutz-freiheit-juergen-habermas-klaus-guenther (letz­ter Auf­ruf am 13.08.2025).

Haidt, Jona­than (2012): The righ­teous mind. Why good peo­p­le are divi­ded by poli­tics and reli­gi­on. Lon­don: Allen Lane.

Hen­rich, Joseph (2015): The secret of our suc­cess. How cul­tu­re is dri­ving human evo­lu­ti­on, dome­sti­ca­ting our spe­ci­es, and making us smar­ter. Prince­ton, Oxford: Prince­ton Uni­ver­si­ty Press.

Jung, Frank (2020): „Coro­na-Lock­down ist öko­no­mi­scher Irr­sinn“. Kie­ler Insti­tut für Welt­wirt­schaft legt Kos­ten-Nut­zen-Ana­ly­se vor – und wirft dabei mora­li­sche Fra­gen auf. In: shz 2020, 29.04.2020. Online ver­füg­bar unter https://www.shz.de/regionales/schleswig-holstein/wirtschaft/kieler-institut-fuer-weltwirtschaft-corona-lockdown-ist-oekonomischer-irrsinn-id28183722.html, jetzt unter: https://www.shz.de/deutschland-welt/wirtschaft/regionale-wirtschaft/artikel/kieler-institut-fuer-weltwirtschaft-corona-lockdown-ist-oekonomischer-irrsinn-41817119 (letz­ter Auf­ruf 13.8.2025).

Lüb­be, Her­mann (1990): Reli­gi­on nach der Auf­klä­rung. 2. Aufl. Graz: Verl. Styria.

Mill, John Stuart (2010): Uti­li­ta­ria­nism. Der Uti­li­ta­ris­mus. Eng­lisch /Deutsch. Unter Mit­ar­beit von über­setzt und hg.v. Die­ter Birn­ba­cher. [Nach­dr.]. Stutt­gart: Reclam (Reclams Uni­ver­sal-Biblio­thek, 18461).

Nida-Rüme­lin, Juli­an; Schloe­mann, Johan (2020): „Wir müs­sen Licht am Ende des Tun­nels sehen“. Auto­no­mie! In: Süd­deut­sche Zei­tung 2020, 23.05.2020. Online ver­füg­bar unter https://www.sueddeutsche.de/kultur/coronavirus-lockerungen-risikogruppen-julian-nida-ruemelin-interview-philosophie‑1.4914827 (letz­ter Auf­ruf am 13.08.2025).