Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 2020 war ein Paukenschlag.
Kurz nach dem Urteil schrieb Matthias Dobrinski in der Süddeutschen Zeitung (3.3.2020):
„Die Zeit dürfte vorbei sein, in der sich die Urteile des Bundesverfassungsgerichts selbstverständlich in der Nähe der kirchlichen und christlichen Normvorstellungen bewegten. Den Christen weht da der raue Wind der beginnenden Minderheitensituation entgegen.“
Sicher, die Kirchen waren für ein Verbot der Suizidhilfe so wie es der Bundestag 2015 mit dem §217 StGB mit großer Mehrheit beschlossen hat.
Dabei war das Verbot schon 2015 aus der Zeit gefallen. Gegen den weltweiten Trend zur Liberalisierung von diversen Formen von Sterbehilfe, führte dieser Paragraph erstmalig seit der Einführung eines einheitlichen Rechtes in Deutschland, also seit 1871, einen Straftatbestand für die Suizidhilfe ein, jedenfalls für eine „geschäftsmäßige“ Form, wovon sich alle Ärzte erfasst sehen mussten. Der Strafrahmen: bis zu 3 Jahre Gefängnis oder Geldstrafe.
Im Ergebnis (der Paragraph 217 ist verfassungswidrig) hat mich das Urteil nicht überrascht. Aber ich wurde immer befremdeter, je mehr ich mich in die Begründung des Urteils vertiefte.
Und zwar aus drei Gründen:
- Das Gericht sieht in der Autonomie einen Ausdruck der Menschenwürde. Dabei sind es ja nicht nur die Kirchen, die die Menschenwürde mit dem Menschsein an sich verbunden sehen und nicht mit besonderen Befähigungen. Das schien common sense zu sein und geeignet, jedes menschliche Leben umfassend zu schützen.
- Das Gericht erkennt nicht nur ein Grundrecht zum Suizid (und damit ein Recht, Hilfe dazu zu leisten) in der Situation unerträglichen Leidens oder unheilbarer Krankheit, sondern generell, wenn er denn frei verantwortlich gewählt wird.
- Das Gericht legt dem Urteil und seiner Begründung eine naive Konzeption von Autonomie und freiem Willen zugrunde.
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1. Autonomie und Menschenwürde
Lassen wir einmal folgenden Satz bei der Randnummer (Rn.) 211 auf uns wirken:
Die selbstbestimmte Verfügung über das eigene Leben ist vielmehr unmittelbarer Ausdruck der der Menschenwürde innewohnenden Idee autonomer Persönlichkeitsentfaltung; sie ist, wenngleich letzter, Ausdruck von Würde. …
Es ist aus meiner Sicht absolut stimmig, dass sich das Gericht auf Art. 2 Abs. 1 GG beruft. Dieser lautet:
Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.
Man kann zwar polemisch fragen, ob man mit der freien Entfaltung der Persönlichkeit das Recht auf den Suizid begründen kann, also das (in einer säkularen Betrachtungsweise) definitive Ende von Freiheit, Entfaltung und Persönlichkeit. Aber die Argumentation erscheint mir trotzdem akzeptabel, weil es der Intention des Artikels 2 GG entspricht, keine Beschränkung des Selbstbestimmungsrechtes zuzulassen außer unter den genannten drei Bedingungen, die die Rechte anderer, die verfassungsmäßige Ordnung, oder das Sittengesetz (und mit diesem will das Gericht u.a. wegen seiner Vagheit wohl eher nicht mehr argumentieren) betreffen.
Problematisch finde ich hingegen, dass die Autonomie so eng mit der Menschenwürde gekoppelt wird. Zitat Rn. 207:
„Dieser in der Würde des Menschen wurzelnde Gedanke autonomer Selbstbestimmung …“.
Deshalb fügt das Gericht bei der Berufung auf den Artikel 2 GG immer an: „in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes“ (Die Würde des Menschen ist unantastbar)
Muss man aber gleich behaupten, der Entschluss zum Suizid sei „Ausdruck der Würde“? Warum reicht es nicht zu sagen, er sei Ausdruck der Selbstbestimmung (im Sinne des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit)?
Autonomie ist „Ausdruck der Menschenwürde“? Ist es das Menschsein selbst nicht mehr?
Noch im August 2015 waren nach einer Umfrage von infratest dimap im Auftrag der Deutschen Palliativstiftung unglaubliche 87% der Befragten der (irrtümlichen!) Ansicht, die Beihilfe zur Selbsttötung sei verboten. Jetzt muss man sagen, die Beihilfe ist nicht nur nicht verboten, sondern sie ist ein Recht, unmittelbar abgeleitet aus dem „Grundrecht“, um Suizidhilfe zu bitten.
Ist die Wahrnehmung eines Grundrechts von der Einbeziehung dritter Personen abhängig…, schützt das Grundrecht auch davor“, dass die freie Unterstützung anderer beschränkt wird. (Rn. 213)
2. Generelles Recht auf Beihilfe zum Suizid?
Eine Überraschung besonderer Art lieferte das Gericht, indem es Deutschland von einer sehr restriktiven Gesetzeslage an die Spitze der Liberalität katapultierte. Ist in den bisher liberalsten Ländern wie der Schweiz, den Niederlande, Belgien, dem US-Bundesstaat Oregon (und in den andern Bundesstaaten, die ihm folgten), minutiös geregelt, unter welchen Bedingungen eine Beihilfe zur Selbsttötung in Anspruch genommen werden kann, so sind für das Bundesverfassungsgericht alle diese Beschränkungen mit der Verfassung unvereinbar. Auch wer unter keinerlei Beschwerden leidet, kann bei Informiertheit und freier Willensbildung um Suizidhilfe nachsuchen und der, der sie leistet, bleibt straffrei.
Das Gericht weiß natürlich, dass ein solcher Fall eher, um nicht zu sagen extrem selten ist. Es meint aber angesichts seines Respektes vor der Suizidentscheidung, dies betonen zu müssen. Damit wird der Gesetzgeber genötigt, diesbezüglich reguläre Verfahrensweisen zu definieren, auch wenn es womöglich nie dazu kommt, dass sie zum Tragen kommen. Es kann natürlich im Interesse der Suizidprophylaxe hilfreich sein, wenn Suizidwillige ausdrücklich mit diesem Anliegen zu den künftigen Ansprechpersonen bzw. Institutionen kommen. Denn dann können sie im guten Falle ein hilfreiches Beratungsangebot vermittelt bekommen.
Betont werden muss, dass das Gericht ausdrücklich eine differenzierte Regelung für schwer Kranke und alle anderen ermöglicht:
„Dies hindert [den Gesetzgeber] nicht, dass je nach Lebenssituation unterschiedliche Anforderungen an den Nachweis der Ernsthaftigkeit und Dauerhaftigkeit eines Selbsttötungswillens gestellt werden können.“ (Rn. 340)
Dieser Differenzierung sollten künftige Gesetzentwürfe unbedingt Rechnung tragen.
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3. Autonomie versus Selbstbestimmungsrecht
Das Gericht stellt Bedingungen für eine Beihilfe zum Suizid: Im Absatz mit der Rn. 232 heißt es:
Angesichts der Unumkehrbarkeit des Vollzugs einer Suizidentscheidung gebietet die Bedeutung des Lebens als ein Höchstwert innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung …, Selbsttötungen entgegenzuwirken, die nicht von freier Selbstbestimmung und Eigenverantwortung getragen sind. Der Staat hat dafür Sorge zu tragen, dass der Entschluss, begleiteten Suizid zu begehen, tatsächlich auf einem freien Willen beruht.
Wann aber kann ein freier Wille attestiert werden?
Ein Suizidentschluss geht auf einen autonom gebildeten, freien Willen zurück, wenn der Einzelne seine Entscheidung auf der Grundlage einer realitätsbezogenen, am eigenen Selbstbild ausgerichteten Abwägung des Für und Wider trifft. (Rn. 240)
Eine freie Suizidentscheidung setzt hiernach zunächst die Fähigkeit voraus, seinen Willen frei und unbeeinflusst von einer akuten psychischen Störung bilden und nach dieser Einsicht handeln zu können. (Rn. 241)
Des Weiteren müssen dem Betroffenen alle entscheidungserheblichen Gesichtspunkte tatsächlich bekannt sein, einschließlich bestehender Alternativen dieselben Grundsätze wie bei einer Einwilligung in eine Heilbehandlung. (Rn. 242)
Es ist schon richtig, dass das Sterben etwas höchst Persönliches ist. Aber ist es ein guter Anlass, um Autonomie und freien Willen zu beschwören?
Denn das Framing, das damit gesetzt wird, unterscheidet sich sehr von dem, das mit dem im Grundgesetz genannten Selbstbestimmungsrecht verbunden ist.
Bei Selbstbestimmungsrecht kann ich ohne weiteres das Gewordensein, die Prägungen, auch die Beeinflussung durch andere mitdenken. Bei Autonomie denke ich an das einzelne Individuum, das singularisierte Individuum sozusagen. Jedenfalls ist das Bundesverfassungsgericht weit davon entfernt, den heute allerdings tatsächlich kaum mehr wirksamen Autonomiebegriff Kants zu meinen (und erwähnt Kant auch nicht), der Autonomie streng an die Vernunft koppelte und auf Grund seines kategorischen Imperativs strikt gegen den Suizid argumentierte.
Das Urteil und seine Begründung enthält 57 mal den Begriff Autonomie oder autonom (auch in Wortverbindungen) – das Grundgesetz spricht nicht ein einziges Mal von Autonomie.
Heute wird der Begriff der Autonomie ganz überwiegend im Kontext der Hochschätzung des Individuums gebraucht. Man kann aber diese Autonomie mit guten Gründen für eine Fiktion halten und dennoch für das Selbstbestimmungsrecht eintreten, weil keine andere Option (Fremdbestimmung) besser ist.
Menschen unterliegen immer Einflüssen, so dass es nicht leicht ist, das Maß festzulegen, das noch erlaubt, von autonomer Entscheidung zu reden. Das BVG spricht in einer Weise vom Selbstbild als sei darin nicht auch meine Sozialität eingeschlossen.
Ist es adäquat von autonomer Entscheidung zu sprechen, wenn ich nicht möchte, dass mein Partner/meine Partnerin mich pflegt, pflegen „muss“?
Wie steht es um Einsamkeit? Ist sie eine Hilfe für den Menschen, sich wirklich „frei“ zu entscheiden, oder ist sie ein Defizit, das für eine freie Entscheidung erst mal überwunden werden müsste?
Und wie steht es mit der Leiblichkeit: Kann ich mit Schmerzen eine „Abwägung des Für und Wider“ treffen? Müsste ich nicht zunächst palliativ gut versorgt sein, um eine derartige Entscheidung treffen zu können, nämlich Beihilfe zum Suizid in Anspruch nehmen zu wollen?
Ich kann auch dann „selbstbestimmt“ entscheiden, wenn ich starke Handlungsmotive und bedeutungsvolle Beziehungen habe und moralische Verpflichtungen empfinde.
Damit ist aber klar, wie problematisch die Rede von Autonomie und freiem Willen ist.
Die umsichtige Stellungnahme des Deutschen Ethikrates von 2022 „verzichtet … auf diese zwar wichtige, aber mehrdeutige Kategorie“, nämlich der Autonomie (S.68), und setzt ihn bei seiner Nennung in Anführungszeichen (S.67).
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4. Stellungnahme des Deutschen Ethikrates
Der Deutsche Ethikrat hat am 22. September 2022 eine Stellungnahme veröffentlicht:
Suizid – Verantwortung, Prävention und Freiverantwortlichkeit
Die „Stellungnahme“ ist eine ausgezeichnete Einführung in das Thema Suizid und Suizidhilfe.
Statt „Autonomie“ verwendet der Ethikrat konsequent die Begriffe der Selbstbestimmung und Freiverantwortlichkeit, die natürlich ebenfalls der Erläuterung bedürfen (S. 67f in der verlinkten Stellungnahme, seitengleich mit der gedruckten Ausgabe).
Vor allem wird hier thematisiert, wie schwer es im Einzelfall ist, die Freiverantwortlichkeit festzustellen oder allererst zu ermöglichen. Das zeigt etwa das Beispiel eines Ehepaares, in dem der Mann einen Doppelsuizid wünscht und seine Frau, die an einer beginnenden Demenzerkrankung leidet, zuzustimmen scheint bis sie in Beratungsgesprächen doch ihren Wunsch zu leben zum Ausdruck bringt. (Fallvignette 12, S. 63f).
Generell betont der Ethikrat zurecht:
„Entscheidungen eines Menschen [sind] in unterschiedlichem Maße selbstbestimmt.“ (S.74) „Selbstbestimmung [ist] immer graduiert“.
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