SAPIENS. Eine kurze Geschichte der Menschheit
Rezension von Wilfried Eißler
„Big History“ heißt eine neue Wissenschaftsrichtung, die sich den ganz großen Linien menschlicher Entwicklung verschrieben hat. Möglich wurde sie durch die enormen Fortschritte in Bezug auf die Urgeschichte, die Genetik, Evolutionsbiologie, Paläoanthropologie und Archäologie in den letzten Jahren gemacht haben. Vielleicht steckt hinter „Big History“ aber nicht nur die Möglichkeit, sie überhaupt zu schreiben, sondern auch ein zunehmendes Interesse vieler Menschen an unserer Vergangenheit und dem Wunsch nach Orientierung durch sie. Weltstar der neuen Forschungsrichtung ist der Jerusalemer Geschichtsprofessor Yuval Harari. Er hat mit „Homo Deus“ eine gleichfalls viel beachtete „kurze Geschichte der Zukunft“ geschrieben. Während er hier naturgemäß viel spekuliert, ist sein Geschichtsbuch von 2013 eine spannend geschriebene, leicht lesbare, mit z. T. drastischen Formulierungen gespickte, aber weithin unstrittige Zusammenfassung des aktuellen Forschungsstands, von unseren affenartigen Vorfahren bis zur Gegenwart.
Von den rund 6 Mio. Jahren seit der Trennung von den Menschenaffen verbrachten unsere Vorfahren mindestens 5 als „ziemlich unauffällige Tiere“ (S. 11ff, Zitate nach der Pantheon-Ausgabe 2015). Es war keineswegs ausgemacht, dass der Versuch der Evolution, Muskeln durch Gehirn (dreimal so viel wie andere Affen) zu ersetzen, erfolgreich sein würde: „Aus evolutionärer Sicht ist die Entwicklung des menschlichen Gehirns mindestens genauso paradox wie die Entwicklung von unhandlichen Pfauenfedern oder schweren Hirschgeweihen.“ (S. 18). Der aufrechte Gang hatte zwar die Hände für Werkzeuggebrauch frei gemacht, aber auch gravierende Nachteile. Den größten Preis dafür zahlten die Menschenweibchen mit viel schwereren Geburten: „Der aufrechte Gang verlangte schmalere Hüften und damit einen engeren Geburtskanal – und das obwohl gleichzeitig die Köpfe der Säuglinge immer größer wurden…Auf diese Weise sorgte ein Prozess der natürlichen Auslese dafür, dass die Kinder immer früher geboren wurden…Die meisten anderen Tiere kommen weitgehend fertig aus dem Mutterleib, wie gebrannte Töpfe aus einem Ofen. Jeder Versuch, sie zu verändern, würde sie zerbrechen. Menschliche Säuglinge kommen dagegen eher wie geschmolzenes Glas aus dem Ofen; sie lassen sich noch erstaunlich gut ziehen, drehen und formen. Deswegen können wir unsere Kinder heute zu Christen oder Buddhisten, Kapitalisten oder Sozialisten, Kriegern oder Pazifisten erziehen.“ (S. 19f).
Während diese Grundbiologie noch allen verschiedenen Menschenarten gemeinsam war, geschah vor 30 – 70.000 Jahren die erste der drei großen Umwälzungen, die nur homo sapiens durchmachte, die kognitive Revolution. Vermutlich rein zufällig verschalteten sich in den Gehirnen erst nur von einigen Frühmenschen die Nervenzellen neu und ermöglichten komplexeres Denken, Sprache und große Vergesellschaftungen, ein „Quantensprung“ unserer kognitiven Fähigkeiten (S. 33). Von da an war die Verdrängung und Ausrottung unserer nächsten Verwandten (u. a. Neandertaler, Denisova- und Flores-Menschen) nur noch eine Frage der Zeit. Und nicht nur das: In allen Erdteilen, in denen sich die Tierwelt nicht wie in Afrika und Eurasien langsam an diese unscheinbare, aber raffinierte Affenart hatte gewöhnen können, begann ein massenhaftes Artensterben, besonders der Großtiere.
Die landwirtschaftliche Revolution vor rund 10.000 Jahren verstärkte das Artensterben und brachte für einen Teil der Tierwelt, nämlich die zähmbaren Nutztiere, noch viel größeres, lebenslanges Leid – für den Vegetarier Harari eines der größten Verbrechen der Geschichte. Für homo sapiens selbst war die landwirtschaftliche Revolution der (bislang) größte Betrug der Geschichte: Die Jäger und Sammler lebten länger, „ernährten sich gesünder, arbeiteten weniger, gingen interessanteren Betätigungen nach und litten weniger unter Hunger und Krankheiten.“ (S. 104) Auch das Gehirn schrumpfte! Die Menschheit war in ihre eigene (Luxus-)Falle gelaufen, aus der es kein Entrinnen, nur weiteres Fortschreiten gab. Neu entstandene, verwöhnte Eliten griffen sich die Überschüsse ab, setzten durch „Gehirnwäsche“ Religionen und Ideologien durch und verstärkten die Kriegsneigung, die allein schon durch Sesshaftigkeit, Lagerhaltung und Besitz stark angestiegen war. Bestandteile des Fortschritts waren die Entstehung von Bürokratie, Schrift, Geld, Großreichen und der Weltreligionen.
Aktuell befinden wir uns mitten in der dritten, der wissenschaftlichen Revolution. Sie basiert auf dem Glauben an die Vorläufigkeit allen Wissens (gegenüber Allmachtsansprüchen der Religionen und Ideologien) und an den (technischen) Fortschritt sowie auf der Bereitschaft zu beobachten und zu forschen. Dass die Europäer etwas früher und (neu-)gieriger auf dieses Pferd gesetzt hatten, verschaffte ihnen ab dem 16. Jahrhundert Stück für Stück die Weltherrschaft. Die wechselseitige Förderung und Durchdringung von staatlichen Machtinteressen, privatem Eigennutz und wissenschaftlicher Forschung ließ das immer gigantischer werdende Räderwerk des modernen Kapitalismus mit vielen Licht- und Schattenseiten entstehen.
Harari ist ein begnadeter Erzähler, der über haftenbleibende Bilder und kühne Vergleiche immer neue Spannungsbögen aufbaut. Er kann komplexe Zusammenhänge auf ihren Kern reduzieren und damit leicht verstehbar machen. Es macht Spaß, ihn zu lesen, auch wenn er über Privatleben, Mann und Frau, Glück und Gerechtigkeit als historische Größen und die Zukunft von homo sapiens schreibt. Er hilft sehr zur historischen Standortbestimmung.
Mir ist bei der Lektüre klar geworden, wie sehr menschliche Geschichte (und Alltag) von der Funktionsweise unseres wichtigsten Organs, des Gehirns, seinen Leistungen und Fehlleistungen abhängen.
Yuval Noah Harari: Sapiens. Eine kurze Geschichte der Menschheit
Erweiterte Taschenbuchausgabe von 2024
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