Das große Staunen – Wissenschaft und Spiritualität
Staunen zwischen Affekt und Kognition
Staunen kann sich auf einem Kontinuum bewegen zwischen den Polen Affekt und Kognition. Bleiben wir am affektiven Pol, dann gibt es hier ein Spektrum von Staunen, Ergriffenheit, Schauder, Gänsehautgefühl, Andacht, Rührung, Ehrfurcht. Es gibt Filmaufnahmen von Schimpansen, die im Dschungel an einen 20m hohen Wasserfall gelangen. Ihr Fell sträubt sich, sie werfen aufgeregt Steine in das Wasser, stapfen mit den Füßen im Wasser. Dann beruhigen sie sich und sitzen ruhig da und schauen; sie wirken in sich gekehrt, sinnierend. Die berühmte Schimpansenforscherin Jane Goodall meint dazu: „Ich kann nicht anders als zu glauben, dass solches Verhalten durch ein Gefühl des Staunens ausgelöst wird.“
Auf der anderen Seite, dem Pol der Kognition, haben wir die Feststellung von Platon: „Das Staunen ist der Anfang der Philosophie“ und Aristoteles bekräftigt: „Denn aus dem Staunen haben die Menschen ursprünglich angefangen zu philosophieren.“ Das Ziel des Philosophen und angehenden Wissenschaftlers Aristoteles ist, aus dem Staunen in Wissen und Verstehen überzugehen.
Dabei betont Hanna Arendt, dass
Plato und Aristoteles „auch darin übereinstimmten, daß das Ende und Ziel alles Philosophierens wiederum in einem Zustand der Sprachlosigkeit, einer Anschauung, die sich in Worten nicht mitteilen läßt, bestehen soll. In dieser Philosophie ist θεωρία eigentlich nur ein anderes … Wort für θαυμαζειν die Anschauung des Wahren, zu der das Philosophieren gelangt, ist das begrifflich und philosophisch geklärte Staunen, mit dem es begann.“[1]
Und genau das lässt sich heute viel mehr für das Staunen zeigen, durch das naturwissenschaftliches Forschen angeregt wird, dass es nämlich auch wieder im Staunen endet. Und ziemlich sicher ist es heute so, dass die Naturwissenschaften mehr zum Staunen bringen als die heutige Philosophie.
[1] Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, 3. Aufl., München 1983, 295.
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Erschauern über die wissenschaftliche Erkenntnis: Darwins Evolutionstheorie
Staunen, auch ehrfürchtiges Staunen setzt eine gewisse Distanz zum Naturerleben voraus. Das ist wohl in einer animistischen Sicht auf die Natur, noch nicht gegeben. In dieser werden in vielen Phänomenen lebendige Wesen erkannt. Ein Baum, ein Wasserlauf kann als Person wahrgenommen werden. Die animistische Aufladung der Natur führen Religionspsychologen unter anderem darauf zurück, dass es vorteilhaft ist, bei einem Knacken im Wald spontan eher ein Lebewesen als Ursache anzunehmen als einen morschen Ast. Wir projizieren tendenziell bewusstes Wollen in Vorgänge, die es nicht enthalten.
Nebenbemerkung: Deshalb werden Menschen auch kein Problem haben, in der KI ein Gegenüber zu sehen und viele sind ja schon in festen Austauschbeziehungen, aber wir werden ein Problem damit bekommen, dass wir kein Problem damit haben, dass wir KI so sehr in unser soziales Miteinander aufnehmen werden.
Unser Erkennungssystem für Intentionen anderer Lebewesen – gerade auch bedrohliche -, ist ziemlich empfindlich eingestellt, was wohl eine Ursache für die menschliche Neigung zu Verschwörungserzählungen ist, wenn die Ursache eigentlich ein natürlicher Vorgang oder schlicht Zufall ist.
Insofern tragen naturwissenschaftliche Betrachtungen seit ihren Anfängen eher zu einem Abbau der Angst und auch der Ehrfurcht und des Staunens bei. Und teilweise wollen sie auch genau das.
Epikur und 200 Jahre nach ihm sein Schüler Lukrez (1. Jh. V. Chr.) haben sich in dieser Hinsicht besonders verdient gemacht. Das Lehrgedicht mit dem kühnen Titel „De Rerum Natura“ – „Über die Natur der Dinge“ von Lukrez ist heute noch wunderbar zu lesen. Die Götter wollen uns weder Gutes noch Böses. Vieles lässt sich als natürlicher Vorgang verstehen. Da sind keine Geister zu fürchten.
Was ist die stärkste und mächtigste natürliche Erklärung, die Menschen für irgendetwas gefunden haben? Was meinen Sie? Die Erklärung für Blitz und Donner?
Ich denke an die Erklärung der Entstehung der Arten durch Charles Darwin. Es geht immerhin um 5–100 Millionen Arten von Lebewesen (so groß ist die Spanne der Schätzungen). Und so ist es vielleicht kein Zufall, dass sich unter Biologen weniger religiös musikalische Menschen finden. Sie sind sozusagen begeistert vom Verstehen dessen, was bis dahin nur als Ausdruck der überreichen Schöpferkraft Gottes verstanden werden konnte. Wie sehr konnten Menschen nicht staunen über die Natur in ihrem Formenreichtum und die Finesse ihrer Erscheinungen. Ich erinnere nur z.B. an den Naturlyriker Barthold Heinrich Brockes in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts und seine Dichtungen zu „Irdisches Vergnügen in Gott“. Natürlich können wir nach wie vor staunen über die Phänomene des Lebendigen.
Doch die Evolutionstheorie Darwins hatte und hat eine hohe Erklärungskraft für den Formenreichtum mit Hilfe weniger Faktoren: Leben, Verdoppeln bzw. Vermehren, inklusive Fehlern, also Variabilität und dann eine Umwelt, belebte und unbelebte, die Leben und Vermehrung begünstigt oder erschwert und noch viel Zeit – und das wars. Eine der ganz großen genialen Vereinheitlichungen, die den Naturwissenschaften gelang. Heureka, ich hab‘s gefunden, hätte Darwin vielleicht rufen können, aber er schreibt – übrigens 15 Jahre vor der Veröffentlichung der „Entstehung der Arten“ -: „es ist wie einen Mord zu gestehen“.
In einem Brief am 11. Januar 1844 gab Darwin Joseph Dalton Hooker erste Hinweise auf seine Evolutionstheorie und schrieb ihm, dass er „entgegen seiner ursprünglichen Auffassung nun beinahe überzeugt [sei], dass die Arten (es ist wie einen Mord zu gestehen) nicht unveränderlich“ seien.
At last gleams of light have come, & I am almost convinced (quite contrary to opinion I started with) that species are not (it is like confessing a murder) immutable. (Darwin an Joseph Dalton Hooker am 11. Januar 1844)
Eine Kränkung der Menschheit wird es Freud nennen, eine gnadenlose Desillusionierung, ein Anschlag auf das Staunen.
Neben Spott, Ablehnung, Verleugnung gab es viele, die sich überzeugen ließen von Darwins akribisch gesammelten und in Jahrzehnten erarbeiteten Indizien und Argumenten. So etwa der spätere Erzbischof von Canterbury Frederick Temple:
„Es scheint in sich selbst etwas Majestätischeres zu sein, etwas, das Ihm, für den tausend Jahre wie ein Tag und ein Tag wie tausend Jahre sind, eher angemessen ist, so Seinen Willen ein für alle Mal auf Seine Schöpfung zu prägen und für all ihre unzähligen Variationen durch diesen einen ursprünglichen Eindruck zu sorgen, als durch spezielle Akte der Schöpfung ständig zu verändern, was Er zuvor gemacht hatte.“ Gott „hat die Dinge nicht gemacht, könnten wir sagen; nein, aber Er machte, dass sie sich selbst machten.“[1]
Temple wollte mit dieser Argumentation sicher auch die christliche Sicht verteidigen, hatte also wahrscheinlich apologetische Intentionen, das ändert aber nichts daran, dass er recht hat darin, dass das, was die Biologen nun erklären, das Mysterium der Lebensentstehung größer macht; und wenn und soweit die Lebensentstehung Erklärungen findet, wandert das Rätsel an die Chemie und dann weiter an die Physik und die Kosmologie. Für die Lebensentstehung gibt es bisher diverse eher vage Hypothesen und Theorien, wobei sich die Naturwissenschaftler darin einig sind, dass es schon mit natürlichen Dingen zugegangen sein wird. Und weil es ja bereits nach ein paar hundert Millionen Jahren seit der Entstehung der Erde dazu gekommen ist, war es vielleicht nicht so unwahrscheinlich wie die Entstehung von Reflexion, Intelligenz und Kultur, wozu es über 4 Milliarden Jahre Zeit brauchte.
Aber noch einmal: es ist schon richtig, dass sich das Wunder an den Anfang verlagert.
Wo und wie soll in dem heißen Gasgemisch kurz nach dem Urknall drinstecken, was es an bunter und raffinierter Lebensvielfalt einmal geben wird?
Tatsächlich sind es die Physiker, die religiös divers sind, während sich etwa 78% von 149 befragten renommierten Evolutionsbiologen zu einem konsequenten Naturalismus bekennen. Es ist ihnen zu gönnen, dass sie staunen und fasziniert sind, wieviel sich mit Mutation und Selektion und noch ein paar anderen Zutaten, inzwischen auch Epigenetik, erklären lässt oder sagen wir besser: verstehend nachvollziehen lässt.
Natürlich bleiben Lebensphänomene auch für Biologen staunenerregend und sie haben ihre eigenen neuen Gesetze, die sich nicht vollständig auf chemischen und physikalischen Gesetzen zurückführen lassen. Jeder, der eine Natur- oder Tiersendung anschaut, wird nach wie vor staunen.
Ein etwas spezielles Beispiel: Ich finde erstaunenswert und auch erschreckend, dass es offenbar für viele Tiere ein Selektionsvorteil war, insbesondere vor der Menschengestalt Angst zu haben. Über zigtausende von Jahren haben die Arten, die in der Nachbarschaft von Menschen ihre Evolution durchlaufen haben, den Instinkt der Menschenfurcht erworben. Auf den Galapagosinseln und vielen anderen Inseln lebten keine Menschen und es ist eine frappierende wunderbare Erfahrung sich einmal Wildtieren wie den Meerechsen oder den Blaufußtölpeln auf Galapagos nähern zu können, ohne dass diese Angst- oder Fluchtreflexe zeigen. Auf diese Tatsache haben verschiedene Forscher und Beobachtungen auch in letzter Zeit hingewiesen.
Tatsächlich findet sich schon bei Darwin in seinem Reisebericht mit der Beagle eine Passage, in der er genau das auch schon mit Staunen bemerkt[2], obwohl er ja genau dafür eine Erklärung hat: die Selektionstheorie: Die Tiere haben jeweils eher überlebt, die ein bisschen mehr Angst vor den gefährlichen Zweifüßlern hatten.
[1] Frederick Temple, The relations between religion and science. Eight lectures preached before the University of Oxford in the year 1884 (Bampton Lectures 1884), London 1884, 115.a
[2] Charles Darwin, Die Fahrt der Beagle. Tagebuch mit Erforschungen der Naturgeschichte und Geologie der Länder, die auf der Fahrt von HMS Beagle unter dem Kommando von Kapitän Fitz Roy, RN, besucht wurden (marebuch 17589), 4. Aufl., Frankfurt am Main 2010, 527.
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Das Mysterium naturwissenschaftlicher Erkenntnis:
Die Welt im Kopf
Nach Aristoteles strebt alles nach seinem natürlichen Ort. Etwas abstrakter wird die Naturbetrachtung, wenn sie die euklidische Geometrie auf die Welt anwendet. Aristarch von Samos (310–230 BCE) berechnete im 3 Jahrhundert schon, wieviel weiter die Sonne von der Erde entfernt sein muss wie der Mond.
Hier handelt es sich also um einen Versuch, die Verhältnisse am Himmel abzubilden in einem geometrischen Konzept. Oder soll ich sagen: ich lege mein geometrisches Konzept auf die Wirklichkeit? Nun ja, das Licht breitet sich geradlinig aus und nicht zuletzt auf geraden Linien basiert die euklidische Geometrie. Auf jeden Fall gibt es eine Entsprechung der Welt da draußen und meinem Denken und Auffassen, – das ist faszinierend. Es passt etwas zusammen. Wir begreifen Zusammenhänge. Heureka soll ja Archimedes von Syrakus (287–212) gerufen haben, ein jüngerer Zeitgenosse von Aristarch, als ihm die Zusammenhänge des Auftriebs von Körpern in Flüssigkeiten klar wurden.
Dieses menschliche Verstehen von natürlichen Gegebenheiten wird deutlich mysteriöser, wenn mehr Mathematik ins Spiel kommt.
Die moderne Naturwissenschaft hat natürlich viele Ursprünge und Protagonisten. Es geht es mir nur darum, wie sie überhaupt vorgehen. Galilei ist hier zu nennen mit seinem Fallgesetz. Es ist zwar ein schönes Bild: Galilei auf dem schiefen Turm zu Pisa, wie er Steine herunterfallen lässt, aber das ging für die damalige Zeitmessung viel zu schnell. Er ließ Kugeln auf einer schiefen Ebene rollen und maß die Zeit mit einer Wasseruhr. Er hatte die Intuition, dass Aristoteles unrecht hat mit seiner Annahme, dass schwere Körper schneller fallen als leichte, obwohl das doch wohl der Intuition von uns allen entspricht. Ich fand es jedenfalls in der Schulzeit sehr eindrücklich, wie in einem Glas, aus dem unser Physiklehrer die Luft gepumpt hatte, eine Feder schnell nach unten fiel wie eine Metallkugel daneben. Im Fallen fand eine beschleunigte Bewegung statt, und zwar so dass die zurückgelegte Strecke im Quadrat der Zeit wuchs. Das war Galileis Formulierung. Heute fügen wir die Gravitationskonstante g hinzu und haben S = ½ g t², wie gesagt, wenn man von der Bremsung durch den Luftwiderstand absieht.
Wir können in einer mathematischen Formel abbilden, was in der Welt geschieht, und zwar durch kühnes Erraten eines (bis auf Weiteres) einfachen mathematischen Zusammenhangs. Aber ist in dieser Entdeckerfreude und Begeisterung nicht etwas von dem Staunen darüber, dass wir begreifen können? Wir staunen, dass wir verstehen können. Kepler beschäftigte das intensiv:
Nun könnte man fragen, woher jenes Seelenvermögen … die Fähigkeit haben soll, in der Außenwelt gegebenes zu erkennen. Denn erkennen heißt, das sinnlich Wahrnehmbare außen mit den Urbildern innen zu vergleichen und es damit als übereinstimmend zu beurteilen. … so locken […] in der Sinnlichkeit gegebene mathematische Beziehungen jene intelligiblen Urbilder hervor, die schon von vornherein innerlich gegeben sind, so daß sie jetzt wirklich und leibhaftig in der Seele aufleuchten, während sie vorher nur nebelhaft in ihr vorhanden waren. Wie aber sind sie ins Innere gelangt? … [sie] entstammen … einer gleichsam triebhaften reinen Größenanschauung und sind diesen Individuen eingeboren, wie dem Formprinzip der Pflanzen etwa die Zahl der Blütenblätter oder die Zahl der Fruchtkammern dem Apfel eingeboren ist.[1]
[1] Johannes Keppler: Kosmische Harmonie, zit. Nach: Werner Heisenberg, Quantentheorie und Philosophie. Vorlesungen und Aufsätze (Reclams Universal-Bibliothek Nr. 9948), Stuttgart 2015, 107–108.
Wenn man den Menschen heute aus evolutionärer Sicht betrachtet, dann ist schon plausibel, dass er als Primatenerbe ein gutes räumliches Vorstellungsvermögen mitbringt, gut, auch eine Zeitvorstellung, auch eine Kausalitätsvorstellung, denn all dies kann vorteilhaft sein, und das konnte dazu führen, dass Kant Erkenntnis gar nicht anders sich vorstellen konnte als unter der Bedingung von Raum, Zeit und Kausalität. Aber warum sind Menschen fähig zu verdammt komplizierten mathematischen Operationen, die dann auch noch Phänomene in der Welt da draußen korrekt beschreiben und vorausberechnen, o.k. zumindest eine ganze Reihe von Menschen ist dazu in der Lage.
Manchmal wird Galilei zwar als erster Empiriker und Experimentator betrachtet, wie wir gesehen haben mit einem gewissen Recht; er hat auch mit dem Fernrohr genau hinschauen wollen und erkannt, dass Jupiter auch Monde hat und damit die Einzigartigkeit der Erde infrage gestellt und auch damit für das kopernikanische Weltbild argumentiert. Das ist ja letztlich wieder so eine Intuition. Nur viel schwerer nachzuweisen als die Fallgesetze. Denn mit dem Sonnensystem kann man keine Experimente machen. Man kann nur genau messen. Nun war Galilei aber nicht nur Experimentator, sondern auch Platoniker und damit blieb für ihn ausgemacht, dass die Himmelsbewegungen der göttlichen Kreisform folgen müssen. Und darum passten seine (und des Kopernikus‘) Berechnungen zu den Planetenbahnen genauso wenig wie die traditionellen. So klar war im 16./Anfang des 17. Jhdt. also noch nicht, dass Kopernikus recht hatte mit seinem heliozentrischen Weltbild. Und es gab ja auch nach wie vor das Parallaxenproblem, das schon Aristarch hatte. Und so war es vollkommen sachgemäß, dass Galileis Freund, Papst Urban VIII, Maffeo Barberini, ihn mahnte, seine Theorie nur als Hypothese vorzutragen. Aber wenn Schüler_innen mal Brechts Galilei gelesen haben, ein wunderbares Werk, hat sich eine etwas andere Darstellung eingebrannt.
Eine harte Nuss stellten für die mathematische Beschreibung die Bewegungen im Sonnensystem dar.
Kopernikus und Galilei hatten recht, dass die Erde sich um die Sonne bewegt 1x im Jahr und die Erde sich um sich selbst dreht 1 x am Tag, so dass sich der Fixsternhimmel nur scheinbar bewegt.
Beide hatten unrecht darin, dass sie von einer Kreisbahn der Erde ausgingen, was dazu führte, dass ihre Berechnungen auch nicht viel besser mit den Beobachtungen übereinstimmten. Sie waren noch fixiert auf die himmlische und göttliche Kreisform.
Beide hatten unrecht darin, dass der Fixsternhimmel fix ist und die Sonne der Mittelpunkt des Weltalls. Statt wie Giordano Bruno (1600 in Rom als Ketzer verbrannt) nach Kopernikus und vor Galilei sagte: die Sonne ist ein Stern unter vielen.
Es brauchte die Zusammenarbeit eines peniblen Empirikers und eines Theoretikers, der dessen Daten ernstnahm, um das heliozentrische Weltbild wirklich plausibel zu machen. Der Empiriker war Tycho Brahe, der Theoretiker war Johannes Kepler. Er löste sich von dem Vorurteil, die Planetenbahnen müssten kreisförmig sein. Er erfasste und das war sicherlich letztlich wieder intuitiv, durch Erraten, dass eine Ellipsenbahn unendlich besser passt und diese Enttäuschung milderte er etwas ab, indem die Sonne immerhin in einen der Brennpunkte der elliptischen Bahn rückte und damit, dass er drei mathematische Gesetze dieser Bewegung formulieren konnte.
Dennoch behielt die himmlische Sphäre etwas Göttliches. Das wiederum änderte sich mit Newton, der den Einfall hatte, der Mond, die Planeten und Sonnen seien eigentlich Äpfel, die durch die Gravitationskraft anziehen und angezogen werden. Ein Triumph der grandiosen Vereinheitlichung der Phänomene, die bis dahin ihren eigenen Gesetzen, und zwar entweder irdischen oder himmlischen, folgten.
200 Jahre schien mit Newton das allermeiste geklärt. Und er hatte ja auch konstatiert:
Die Natur thut nichts vergebens. … Die Natur ist nämlich einfach, und schwelgt nicht in überflüssigen Ursachen der Dinge.
(Mathematische Prinzipien der Naturlehre, hg.v. J. Ph. Wolfers, Darmstadt 1963, Nachdruck der Ausgabe Berlin 1872, S. 380)
Als Max Planck 1874 nach dem Abitur überlegte, ob er Musik, Altphilologie oder Physik studieren sollte, sagte ihm ein Physikprofessor, dass in der Physik eigentlich „nur noch einige unbedeutende Lücken zu schließen“ wären.
Wir ziehen mal eine Zwischenbilanz: Sowohl die Physik als auch etwas später die Biologie können erstaunlich einfache und gleichzeitig für einen weiten Anwendungsbereich gültige Gesetze formulieren.
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Die Welt wird fremd
Relativitätstheorie und Quantenphysik
Doch dann kam die große Verwirrung bzw. Revolution: es ist (scheinbar unnötig!) gigantisch viel komplexer. Relativitätstheorie und Quantenmechanik.
Spezielle und allgemeine Relativitätstheorie
Die Relativitätstheorie macht die Zeit relativ. Angenommen Sie nehmen zwei Atomuhren, die auf dem physikalischen Vorgang des Atomzerfalls (z.B. von Cäsium) beruhen und schicken eine mit einem Satelliten auf eine Umlaufbahn um die Erde und wieder zurück. Dann vergleichen Sie die Uhren und stellen fest: Die, die 1 Tag im Weltall war, ist um 38 Mikrosekunden schneller gelaufen. Dann sagen Sie: Ist ja klar. Wegen Einsteins Spezieller Relativitätstheorie lief sie ja 7 ms langsamer, weil sie sich schneller bewegte, aber 45 ms schneller, weil sie sich nach Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie nicht so sehr der Gravitation durch die Erde ausgesetzt war, macht in der Summe 38 ms schneller. Und wenn Sie für das GPS zuständig sind, dann sagen sie vielleicht noch: gut, dass ich das schon wusste, denn sonst würden die Navigationssysteme innerhalb von 1 Tag 10 km daneben liegen.
Die Relativitätstheorien sind also nicht nur eine mathematische Spielerei. Den zugrunde liegenden Theorien und Formeln gelingt es, reale Vorgänge zu beschreiben und abzubilden.
Einstein hat das Verständnis von Gravitation revolutioniert. Schon Newton war nicht wohl dabei gewesen, dass die Gravitation sozusagen eine Fernwirkung ausübt, womöglich ohne Zeitverzögerung, sehr geheimnisvoll. Nach Einstein werden sogar Photonen (Licht), obwohl sie keine Ruhemasse haben, dennoch durch die Gravitation abgelenkt, denn Energie haben sie ja (E= mc²). Was aber passiert, wenn die Gravitation wirkt ist, dass die gekrümmte Raumzeit ihre Wirkung tut. Wir können uns ein gespanntes elastisches Tuch vorstellen, worauf kleine Kugeln gelegt werden. Sie drücken das Tuch ganz leicht ein. Nun wird in die Mitte eine schwere Kugel gelegt. Was passiert: die kleinen werden nicht von ihr „angezogen“, sondern rollen einfach ihrer Bahn entsprechend auf die tieferliegende große Kugel zu.
„Der Raum sagt der Materie, wie sie sich zu bewegen hat. Die Materie sagt dem Raum, wie er sich zu krümmen hat.“ (Charles Misner, Kip Thorne, John Wheeler Gravitation, 1973, zit. nach Spektrum 4.2025, S.32)
Einstein sagte auch voraus, dass sich die Lichtablenkung beobachten lassen müsste. Der vorhergesagte Gravitationslinseneffekt wurde 1919 bei einer Sonnenfinsternis bestätigt (durch Sir Arthur Eddington).[1] Das machte Einstein weltbekannt und er war der bislang einzige Wissenschaftler, für den aus diesem Anlass eine Konfetti-Parade (ticker-tape parade) auf dem New Yorker Broadway abgehalten wurde. So haben sich Menschen mal für Wissenschaft begeistert. Mit größerer Genauigkeit wurde der Effekt 1967 bestätigt, während Newtons Vorhersage widerlegt wurde.
[1] Steven S. Shapiro und Irwin I. Shapiro, “Lichtablenkung durch Gravitation” in: Einstein Online Band 04 (2010), 03–1105 https://www.einstein-online.info/spotlight/lichtablenkung/
Quantentheorie
Newton hatte Photonen auch Masse zugeschrieben, die der Gravitation unterliegen. In der Physik hatte sich aber dann die Auffassung durchgesetzt, Licht sei als Welle zu betrachten, weil es wie Wellen eben Beugung und Interferenz zeigt, also die Überlagerungsmuster von Wellen, wie wir es auch von zwei sich überlagernden Wellenbergen des Wassers kennen. Einstein hatte Plancks Quantentheorie 1905 unterstützt, indem er zeigte, dass auch Photonen diese Quantelung zeigen. Er war da also näher an Newton.
Der genannte Max Planck sollte den Stein für die Entwicklung der Quantentheorie ins Rollen bringen. 1899 und 1900 stellte er die These auf, dass Energie nur in diskreten Energiequanten emittiert werden könne, was der etablierten Theorie widersprach. Das gilt für jede Strahlung, jedenfalls stützte Einstein 1905 die These Plancks für Photonen, also Lichtquanten. Das schien aber der Wellentheorie des Lichtes zu widersprechen. Wir kennen wahrscheinlich auch aus dem Physik-Unterricht die Experimente zur Beugung des Lichts und wir haben die typischen Interferenzmuster von sich überschneidenden Wellen schon gesehen, ganz entsprechend den sich überschneidenden Wellen im Wasser. Die Energiequanten wurden aber immer stärker gestützt, z.B. als Niels Bohr diese Vorstellung auf Atome anwandte, die tatsächlich ihre Energiebeträge nur schrittweise und nicht kontinuierlich ändern können.
Die Quantentheorie setzt noch einen drauf. Sie sagt: Strahlung kann sich sowohl als Welle zeigen oder auch als Teilchen. Und gewisser Weise ist sie beides gleichzeitig. Der Dualismus von Welle und Teilchen sprengt unsere Vorstellungskraft. Hinzu kommt auch noch die Aufweichung des Kausalitätsprinzips. Die Quantentheorie sagt: Es hat keinen Sinn zu fragen, warum sich ein atomarer Zerfall gerade jetzt und nicht gleich ereignet, obwohl die durchschnittliche Halbwertszeit für eine größere Zahl von Atomen genau angegeben werden kann. Aber welche Teilchen nach dem Ablauf zerfallen sind und welche noch ein bisschen zuwarten, ist nicht vorhersagbar und Heisenberg und die anderen Vertreter der Kopenhagener Deutung sagen, dass uns die Natur in gewisser Weise selbst zeigt, dass es keine dahinter liegenden Gründe mehr gibt. Die Kausalität löst sich im Kleinen in Statistik auf.
Heisenberg erzählt: „Ich erinnere mich an Diskussionen mit Bohr, die bis spät in die Nacht dauerten und fast in Verzweiflung endeten. Und wenn ich am Ende solche Diskussionen noch allein einen kurzen Spaziergang im benachbarten Park unternahm, wiederholte ich mir immer und immer wieder die Frage, ob die Natur wirklich so absurd sein könne, wie sie uns in diesen Atomexperimenten erschien.“ (Werner Heisenberg: Quantentheorie und Philosophie, Stuttgart 1983 [Reclam Universal-Bibliothek Nr. 9948, S. 19). 1926
Einstein, der die so kühne und der menschlichen Intuition widersprechende Spezielle und Allgemeine Relativitätstheorie entwickelt hat, empfand einen Widerwillen gegen die Unbestimmtheit der Quantentheorie und gegen die Transformation der Kausalität im subatomaren Bereich in Wahrscheinlichkeit. Gott würfelt nicht. Aber er hat natürlich auch wissenschaftlich versucht dagegenzuhalten und so etwa das nach ihm und zwei weiteren Autoren sogenannte EPR-Paradoxon entwickelt, um in einem Gedankenexperiment zu zeigen, dass die Heisenbergsche Quantentheorie zu absurden Schlussfolgerungen zwingt. Als man unerwarteterweise aus dem Gedanken- ein reales Experiment machen konnte, zeigte sich aber dass die Natur tatsächlich so absurd ist wie Einstein es nicht für möglich gehalten hatte. So können Teilchen verschränkt sein (z.B. Photonen oder Elektronen) und selbst wenn sie auf große Distanz getrennt werden, bleiben sie ein System, auch wenn sie selbst mit Lichtgeschwindigkeit keine Information austauschen können.
Und heute werden Computer entwickelt, die auf der Quantenverschränkung beruhen, die Einstein so verrückt erschien.
Die Welt ist also mit der Mathematik aus unseren Köpfen unglaublich präzise beschreibbar. Zuerst schien das eine ziemlich einfache Mathematik zu sein und die Naturgesetze einigermaßen anschaulich und gut nachvollziehbar, eine schöne Harmonie zwischen Welt und Verstehen, dann aber wurde die Mathematik kompliziert, das Ganze nicht mehr anschaulich nachvollziehbar und dennoch funktionierte es mit anspruchsvollerer Mathematik doch wieder.
Verrückterweise ist ein Lebewesen entstanden, das zu einer Mathematik fähig ist, die die Welt beschreibt; ein Lebewesen, das seinem eigenen Werden im Verlauf einer Evolution auf die Schliche gekommen ist. Ein Molekülhaufen denkt über Moleküle nach, wir über uns.
Das ist zum Staunen. Wissenschaftlich sehe ich nur eine Erklärungsmöglichkeit: Da das Gehirn ja nicht im Kontext der Relativitätstheorie entstanden ist, muss das Gehirn aus anderen Gründen so komplex geworden sein, dass es auch zu solchen gedanklichen Spielereien und Operationen fähig ist, jedenfalls wenn es eine Reihe von Jahren die Schulbank gedrückt hat. Es ist schon verständlich, dass Physiker den Eindruck hatten, sie denken mit ihrer Mathematik dem Mathematik-Genie Gott hinterher.
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Wie kann es uns geben?
In den „Katalog menschlicher Grundbedürfnisse“ gehört, soweit wir zurückblicken können, immer schon die Vergewisserung über die Herkunft der Welt, der anderen Lebewesen und des Menschen selbst. Die Schöpfungsmythen aus allen Kulturen legen davon beredtes Zeugnis ab.
Deshalb hat wahrscheinlich jede und jeder schon von der Urknalltheorie gehört. Dass das Universum sich ausdehnt, ist anhand der Rotverschiebung des Lichtes aus entfernten Galaxien sehr gut abzulesen. Die Rotverschiebung wurde zuerst von Edwin Hubble 1929 entdeckt. Je weiter Galaxien entfernt sind, desto schneller entfernen sie sich. Für dieses Maß hat man die Hubble-Konstante. Und diese ist erst vor ein paar Jahren vom Atacama Cosmology Telescope in Übereinstimmung mit den bisherigen Abschätzungen präzisiert worden. Eine Galaxie, die 3,26 Mio. Lichtjahre von uns entfernt ist, entfernt sich mit 67–68 km/s. Eine doppelt so weit entfernte doppelt so schnell. Rechnet man zurück, wann alles auf kleinstem Raum begonnen hat, kommt man auf 13,8 Mrd. Jahre. Sie haben sicher schon von der Urknallstrahlung gehört, die sich bis heute zur Hintergrundstrahlung verdünnt hat. Sie stammt nicht wirklich vom Urknall, sondern aus der Zeit ungefähr 380.000 Jahre nach dem Urknall, als Strahlung nicht mehr ständig aufgehalten wurde, sondern sich durch ein durchsichtiger werdendes Universum ausbreiten konnte. Die damaligen 3000 K wurden inzwischen zu knapp 2,725 Grad Kelvin „verdünnt“ und abgekühlt. Die Strahlung kommt aus allen Richtungen. Obwohl ihre Existenz vorausgesagt war, haben die Kosmologen nicht nach ihr gesucht, teils weil eine Skepsis da war über eine Aussage über den Ursprung der Welt, teils weil die Idee des Urknalls einigen Kosmologen doch zu nah an einer monotheistischen Schöpfungsvorstellung schien. Aber dann wurde sie 1964 zufällig entdeckt von Arno Penzias und Robert Woodrow Wilson beim Test einer neuen empfindlichen Antenne. Zufälliger ist wohl niemand an einen Physiknobelpreis (1978) gekommen als diese beiden.
„Die Entdeckung des Big Bang war eine der umwälzendsten Revolutionen des wissenschaftlichen Denkens aller Zeiten.“ (Gian Francesco Giudice: Vor dem Big Bang, Springer-Verlag 2024)
Nach Steven Weinberg „zwang“ diese Entdeckung die Kosmologen ihre Urknalltheorie ernst zu nehmen. Noch einmal: Das wünscht man sich von einer Theorie, dass sie seltsame Voraussagen macht, die sich dann überraschender Weise bestätigen. Und dies verstärkt das Staunen darüber, dass wir vielleicht nicht zu wahren aber sehr oft zu treffenden wissenschaftlichen Theorien und Aussagen gelangen, die eine Übereinstimmung von dem da draußen und den durch neurologische Prozesse entwickelten und aufs Papier, an die Tafel oder den PC geschriebenen Formeln, Berechnungen und Theorien.
Und auch dies möchte ich betonen: in unserem Universum gelten die bekannten Naturgesetze durchgängig. Wenn Strahlung von fernen Sternen mit Molekülen kollidiert bilden sich die bekannten Spektrallinien, die für bestimmte Elemente oder Moleküle nun einmal charakteristisch sind, und die wir in der empfangenen Strahlung feststellen. Genauso wie man aus Wärmestrahlung, die aufgefangen wird, feststellen kann, ob sie von einem CO2-Molekül reflektiert wurde und deswegen wieder auf die Erde von der sie ausgegangen war.
Immer schärfer stellte sich den Kosmologen die Frage: Warum ist das Universum genau so, dass komplexe Strukturen entstehen konnten, Galaxien und letztlich Leben und letztlich intelligentes Leben?
Wo und wie soll in dem heißen Gasgemisch des Urknalls drinstecken, was es an bunter und raffinierter Lebensvielfalt einmal geben wird?
Wäre die Gravitationskraft nur ein wenig stärker gewesen, wären die Sterne so schnell verbrannt, dass sie der biologischen Evolution keine Zeit gelassen hätten, komplexe Organismen zu entwickeln. Wäre sie nur ein wenig schwächer gewesen, hätte sich Materie nicht zu stabilen galaktischen Strukturen verdichten können. (Giudice, a. O. S.253)
Wurde [also] das Universum geschaffen, um Leben zu beherbergen? Das ist das Mysterium der Mysterien. (S. 147)
Die Gleichungen der Allgemeinen Relativitätstheorie erlauben eine enorme Vielfalt möglicher Universen, aber fast keines von ihnen bietet die notwendigen Bedingungen für die Evolution irgendeiner Form von Leben. Aus dieser Perspektive erscheint das Universum, in dem wir leben, völlig unwahrscheinlich – oder sorgfältig ausgewählt von einer unsichtbaren Hand.“ (S. 149)
Es gibt aber eine Alternative zu dieser Sicht.
Wenn man annimmt, dass ständig Universen entstehen, die viele, ja unendlich viele Möglichkeiten durchspielen, dann braucht es uns nicht zu wundern, dass wir existieren. Denn in den aller- allermeisten Universen existiert kein Leben – und dort wundert sich auch niemand.
Ich sagte schon: Die Quantentheorie braucht eigentlich kein Mensch. Die Physik hätte so schön oder jedenfalls verständlich sein können ohne sie. Jetzt aber zeigt sich möglicherweise: Das Universum braucht die Quantentheorie, weil das Universum, nachdem es in einer immensen Inflation aufgebläht wurde, sonst so total homogen gewesen wäre, dass sich keine Strukturen gebildet hätten, also letztlich Galaxien, Sonnensysteme etc. Aber winzige Quantenfluktuationen haben sich durch die Gravitation zu Materieansammlungen vergrößert und waren damit die Voraussetzung für alle komplexeren Strukturen wie Galaxien etc.. So jedenfalls die derzeitige Fassung der Urknalltheorie kombiniert mit der Theorie der Inflation des Universums und womöglich der Stringtheorie. „Wir existieren an diesem Ort im Universum nur dank dieser winzigen und zufälligen Quantenzuckungen.“ (Giudice, a. O. S. 203)
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Der Blick aufs Ganze
Dieses Anwachsen der Komplexität können wir verfolgen in der Entwicklung des Kosmos von den Elementarteilchen über Atome, die dann in Supernovaexplosionen auch schwerer sein konnten und aus denen wir letztlich zum großen Teil bestehen, über Moleküle und dann – nach dem 2. Urknall der Lebensentstehung – über Einzeller, Vielzeller, immer komplexere Lebewesen, Lebewesen mit zentralem Nervensystem und einem Bewusstsein bis hin zu intelligentem Leben mit reflexivem Bewusstsein, also der Fähigkeit zu wissen, dass wir wissen. Wahrnehmen zu können, dass wir wahrnehmen.
Was ist das Komplexeste im ganzen Universum? Es sind sicher nicht die Galaxien, es ist vermutlich das menschliche Gehirn.
Und es war insbesondere Teilhard de Chardin, der sozusagen den Blick aufs Ganze wagte und von einem Prozess der Komplexifikation sprach.
Und zur kosmisch-biologischen Steigerung kommt die wachsende Komplexität unserer Weltsicht, sie wird rationaler, pluralistischer, teilweise kosmopolitisch oder gar integral.
Teilhard de Chardins sprach von der entstandenen Noosphäre, der geistigen Sphäre.
Und eine analoge Komplexitätssteigerung vollzieht sich auch in den sozialen Organisationen. Ein Staat ist komplexer als ein Stamm, die EU komplexer als Einzelstaaten und die UNO ist abermals komplexer.
Komplex ist etwas, das nicht nur aus vielen Teilen besteht, sondern auch aus vielfältigen, verschiedenen Teilen, die dazu noch sinnvoll interagieren, kooperieren und organisiert sind.
Wie bei Teilhard dominiert bei Ken Wilber eine optimistische Sicht. Beide nehmen diese Dynamik des Zusammenschlusses ernst nehmen. Und so kann Wilber sagen:
„Die Menschheit steht zum ersten Mal in ihrer Geschichte vor der Möglichkeit einer Welt ohne große und tief verwurzelte Konflikte und einer Welt, die immer häufiger von gegenseitiger Toleranz, Umarmung, Frieden, Inklusion und Mitgefühl geprägt ist. Und alles, was wir tun müssen, damit dies geschieht, ist, einfach weiter zu wachsen!“[1]
Wilber ist mir zu optimistisch. Bei der Prozesstheologin Catherine Keller finde ich eine größere Offenheit dieses Prozesses, in dem wir global stehen, und das gibt der Gegenwart von der Haltung her eine größere Ernsthaftigkeit. Und natürlich wird vieles nach meinem Empfinden und Wissen von Ken Wilber zu glatt dargestellt. Gleichwohl teile ich voll das Interesse, an einer integralen Sicht der vielen Entwicklungen, in denen wir stehen, zu arbeiten: biologische Entwicklungen, kulturelle, kognitive, moralische, soziale, demografische. Denn ich finde alle Entwicklungen erstaunlich, haben sie doch immer wieder Neues und Überraschendes geboten und werden sie weiter bieten.
Abschließend zwei Zitate aus dem Buch von Lorenz Marti Eine Handvoll Sternenstaub
Sicher, wir sind nur eine Handvoll Sternenstaub, der von irgendeiner Supernova ins All gespuckt wurde. Und doch ist es dieser Handvoll Staub gelungen, das Universum, das sie umgibt, zu verstehen. Die Menschheit ist etwas Besonderes, weil sie sich ihrer Existenz bewusst ist und den Verstand hat, Fragen über den Ursprung des Universums zu stellen, und weil sie die Leidenschaft hat, die Suche nach Antworten zu verfolgen.
Ein alter Rabbi gab seinen Schülern einen einfachen Rat mit auf den Weg: Sie sollten immer zwei Zettel bei sich tragen und je nach Bedarf lesen. Auf dem einen soll stehen: »Ich bin Staub und Asche«. Und auf dem anderen: »Um meinetwillen ist die Welt erschaffen worden.«
[1] Das Zitat von Wilber im englischen Original: “the human race, for the first time ever in its history, is heading toward at least the possibility of a world beyond major and deep-seated conflict, and toward one marked more and more often by mutual tolerance, embrace, peace, inclusion, and compassion. And all we have to do for this to happen is just continue to grow!” So Ken Wilber in The Religion of Tomorrow von 2017. S. 39
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