Sozi­al­psy­cho­lo­gi­sche Hin­ter­grün­de popu­lis­ti­scher und rechts­extre­mis­ti­scher Gesinnungen

Gast­bei­trag von Eber­hard Schwarz[*]

„Wer den Irr­sinn unse­rer Zeit begrei­fen will, muss wohl sel­ber ein biss­chen irre wer­den.“ (Flo­ri­an Kel­ler)[1]

Kann man Popu­lis­ten ver­ste­hen? In sei­nem Bei­trag „Popu­lis­ten ver­ste­hen!?“[2] unter­sucht der Poli­tik­wis­sen­schaft­ler Claus Leg­ge­wie, bis 2017 Direk­tor des Kul­tur­wis­sen­schaft­li­chen Insti­tuts Essen, das Phä­no­men des Popu­lis­mus auf sei­ne Ursa­chen, Antrie­be und Wir­kun­gen hin.  Leg­ge­wies The­se ist, dass Popu­lis­ten – und im enge­ren Sinn völ­kisch-auto­ri­tä­re Natio­na­lis­ten – von einer Reprä­sen­ta­ti­ons­lü­cke, das heißt von einer Leer­stel­le pro­fi­tie­ren. Waren in der Ver­gan­gen­heit Gefüh­le und Erfah­run­gen von sozia­ler Benach­tei­li­gung, Ohn­macht, Abhän­gig­keit, von erlit­te­ner Unge­rech­tig­keit z.B. an die orga­ni­sier­te Arbei­ter­be­we­gung gebun­den, so sind die­se Gefüh­le im Zeit­al­ter der Glo­ba­li­sie­rung ‚frei flot­tie­rend‘, ohne wirk­li­che Adres­se und ohne sozi­al­kri­ti­sche, poli­ti­sche und intel­lek­tu­el­le Behei­ma­tung. Die­se Gefüh­le sind „Frei­wild“ für Popu­lis­ten. Der ‚neu-alte Natio­na­lis­mus‘, so Leg­ge­wie, wächst auf den Rui­nen eines poli­tisch hei­mat­lo­sen Anti­ka­pi­ta­lis­mus und wird von Popu­lis­ten nach klas­si­scher Sün­den­bock­ma­nier instru­men­ta­li­siert zu Frem­den­hass, völ­kisch-auto­ri­tä­rem Natio­na­lis­mus, Euro­skep­ti­zis­mus, Demo­kra­tie­feind­lich­keit und allen damit ver­bun­de­nen For­men der Kri­tik einer libe­ra­len Gesellschaft.

Frei­wild für Demagogen

„Das Volk ist dann nicht mehr eine dif­fu­se Ver­samm­lung von Wut­bür­gern, die Denk­zet­tel ans Estab­lish­ment aus­stel­len, es fan­ta­siert sich viel­mehr zur iden­ti­tä­ren Volks­ge­mein­schaft zusam­men, in der für alles Frem­de kein Platz ist.“[3]

Wie sehr Gefüh­le zum poli­ti­schen Mate­ri­al popu­lis­ti­scher Bewe­gun­gen und der Gesell­schaft ins­ge­samt gewor­den sind – Nar­ziss­mus, Neid gegen­über den smar­ten Eli­ten, Scham über den eige­nen pre­kä­ren Sta­tus, Angst vor Migran­ten, dif­fu­se For­men von Wut auf „die Poli­tik“[4] – hat die fran­zö­sisch-israe­li­sche Sozio­lo­gin Eva Ill­ouz ein­drucks­voll ana­ly­siert und beschrie­ben. Der neur­al­gi­sche Punkt ist: Die zeit­ge­nös­si­sche Kul­tur pocht einer­seits beharr­lich auf das Para­dig­ma der Eigen­ver­ant­wor­tung und Selbst­steue­rung und pro­du­ziert damit ande­rer­seits per­ma­nent Gefüh­le von Ver­sa­gen, Scham, Eifer­sucht, Wut und Neid[5].

In die­sem Span­nungs­ver­hält­nis zwi­schen Anfor­de­rung und Nicht-Genü­gen, in der Ort- und Ziel­lo­sig­keit der die­se Erfah­run­gen beglei­ten­den Gefüh­le, liegt, so die The­se die­ses Bei­trags, einer der rele­van­ten Grün­de für die Ent­ste­hung rechts­po­pu­lis­ti­scher Gesin­nun­gen – und viel­leicht auch eine Mög­lich­keit, ihnen zu begegnen.

Über die Ursa­chen und zur Prä­ven­ti­on des Rechts­extre­mis­mus und des Popu­lis­mus ist in den ver­gan­ge­nen Jah­ren viel geforscht und geschrie­ben wor­den. War­um ent­wi­ckeln Men­schen und sozia­le Grup­pen eine Affi­ni­tät zu dik­ta­to­ri­schen Gesell­schafts­sys­te­men? War­um unter­stüt­zen sie anti­de­mo­kra­ti­sche Bewe­gun­gen? War­um zie­hen sie die Rechts­staat­lich­keit ins Lächer­li­che und ver­harm­lo­sen, ja bana­li­sie­ren Ver­bre­chen gegen die Mensch­lich­keit? War­um fei­ern ras­sis­ti­sche, anti­se­mi­ti­sche, sozi­al­dar­wi­nis­ti­sche Vor­stel­lun­gen häss­li­che Urstän­de? War­um radi­ka­li­sie­ren sich bestimm­te Grup­pen und Per­so­nen mehr als andere?

Die Ant­wor­ten auf die­se Fra­gen und damit die Ursa­chen und Fak­to­ren, die zu rechts­po­pu­lis­ti­schen Ein­stel­lun­gen füh­ren, sind weit­ge­hend unter­sucht[6]. Dazu gehö­ren einer­seits die indi­vi­du­el­len Risi­ko­fak­to­ren: das Bil­dungs­ni­veau, Erfah­run­gen mit Auto­ri­ta­ris­mus in der eige­nen Fami­li­en- und Lebens­ge­schich­te, die Geschlechts­zu­ge­hö­rig­keit – Män­ner radi­ka­li­sie­ren sich eher als Frau­en -, per­sön­li­che Dis­kri­mi­nie­rungs- oder Gewalt­er­fah­run­gen und ande­res mehr. Nicht sel­ten sind es Affek­te, die ihre Wur­zeln in der frü­hen Kind­heit haben und die im Erwach­se­nen­al­ter durch sozia­le und kol­lek­ti­ve Dyna­mi­ken ver­stärkt wer­den[7].

Eben­so rele­vant sind die sozia­len Fak­to­ren: Armut, kol­lek­ti­ves Benach­tei­li­gungs­emp­fin­den, spe­zi­fi­sche Grup­pen­dy­na­mi­ken und Ideo­lo­gien in extre­mis­ti­schen und gewalt­a­ffi­nen Grup­pen und wie­der­um ande­res mehr. Wo bei­de Ebe­nen zusam­men­tref­fen, steigt die Gefähr­dung signi­fi­kant, in rechts­extre­mis­ti­sche Krei­se zu gera­ten und deren Denk- und Ver­hal­tens­mus­ter zu übernehmen.

Die­ser Befund darf nun nicht dar­über hin­weg­täu­schen, dass – ers­tens – popu­lis­ti­sche und rechts­extre­me Hand­lungs­mus­ter und Über­zeu­gun­gen längst jen­seits der soge­nann­ten Risi­ko­grup­pen sich in der „Mit­te unse­rer Gesell­schaft“ behei­ma­ten und dass sie – zwei­tens – über natio­na­le Gren­zen hin­aus wirk­sam und zu beob­ach­ten sind.

Gefähr­li­che Doppelgänger

Eine wich­ti­ge Recher­che in die­sem Zusam­men­hang ver­dan­ken wir der kana­di­schen Jour­na­lis­tin und Publi­zis­tin Nao­mi Klein mit ihrem 2024 in Deutsch erschie­ne­nen Buch „Dop­pel­gän­ger“.[8] In der Tra­di­ti­on der nar­ra­ti­ven ame­ri­ka­ni­schen Sozi­al­wis­sen­schaft[9] ver­sucht sie im Selbst­ex­pe­ri­ment dem Phä­no­men von rechts­po­pu­lis­ti­schen Ideen und Ver­schwö­rungs­theo­rien auf die Spur zu kom­men. Kann man Rechts­po­pu­lis­ten und Neo­fa­schis­ten verstehen?

Anlass für Kleins Recher­che[10] ist eine unglück­li­che Ver­wechs­lung, die sie per­sön­lich nahe an die Ent­ste­hungs­li­ni­en rechts­po­pu­lis­ti­scher Gesin­nun­gen führt: Eher zufäl­lig nimmt sie wahr, dass sie selbst in der Öffent­lich­keit immer wie­der mit einer ande­ren medi­al prä­sen­ten Autorin glei­chen Vor­na­mens ver­wech­selt wird: Mit Nao­mi Wolf, die bis 2010 als gefei­er­te femi­nis­ti­sche Autorin, als Bera­te­rin in den Prä­si­dent­schafts­kam­pa­gnen von Bill Clin­ton und Al Gore, als Jour­na­lis­tin und Akti­vis­tin der Occu­py-Wall-Street-Bewe­gung  bekannt gewor­den war und die in der Fol­ge immer mehr mit rechts­po­pu­lis­ti­schen Ver­schwö­rungs­theo­rien und State­ments auf­ge­fal­len war.

Die eine Nao­mi, Nao­mi Klein, will ver­ste­hen, was zur Radi­ka­li­sie­rung ihrer media­len Dop­pel­gän­ge­rin, der ande­ren Nao­mi, mit der sie als Autorin zeit­wei­se vie­le Über­zeu­gun­gen teil­te, geführt hat. Was hat Nao­mi Wolf zum regel­mä­ßi­gen Gesprächs­gast im Pod­cast von Ste­ve Ban­non gemacht? Wie konn­te sie zu einer rechts­po­pu­lis­ti­schen Akti­vis­tin und Ver­schwö­rungs­theo­re­ti­ke­rin wer­den? Was hat sie zur radi­ka­len Maß­nah­men­geg­ne­rin in der Coro­na-Pan­de­mie gemacht?

Je mehr sich Nao­mi Klein ihrer Namens-Dop­pel­gän­ge­rin nähert, des­to mehr muss sie fest­stel­len, dass Nao­mi Wolf eine unheim­li­che Abspal­tung ihrer selbst ist. Es gibt eine spie­gel­bild­li­che Ver­wandt­schaft zwi­schen den von Nao­mi Klein geteil­ten kapi­ta­lis­mus­kri­ti­schen Gedan­ken auf der einen und den Ver­schwö­rungs­theo­rien der Rechts­po­pu­lis­ten auf der ande­ren Sei­te. Die­se Ver­wandt­schaft ist das Ein­falls­tor rechts­po­pu­lis­ti­scher Ideen. Die ideo­lo­gi­schen Leit­fi­gu­ren – Ban­non, Trump, ande­re – bie­ten Anschluss­mög­lich­kei­ten für Men­schen, die sich ihres Lebens nicht mehr mäch­tig wis­sen. Sie hel­fen Ängs­te zu kana­li­sie­ren, offe­rie­ren Hand­lungs­mus­ter, mit der eige­nen Ohn­macht umzu­ge­hen und sich mit ande­ren Ohn­mäch­ti­gen zu solidarisieren.

Um es in Anleh­nung an die Ter­mi­no­lo­gie Claus Leg­ge­wies zu sagen: Ange­sichts der ‚frei flot­tie­ren­den‘, nicht sozi­al reprä­sen­tier­ten Gefüh­le von Ohn­macht und Abhän­gig­keit, von wach­sen­der sozia­ler Ungleich­heit, Unge­rech­tig­keit und Ori­en­tie­rungs­lo­sig­keit, ange­sichts gra­vie­ren­der geo­po­li­ti­scher Ver­än­de­run­gen und der damit ver­bun­de­nen zutiefst ver­un­si­chern­den Ver­teil­kämp­fe von Macht und Res­sour­cen, machen die popu­lis­ti­schen und rechts­extre­mis­ti­schen Akti­vis­ten Ange­bo­te gegen den per­sön­li­chen und sozia­len Bedeu­tungs- und Ori­en­tie­rungs­ver­lust. Sie bie­ten dar­über hin­aus poten­te, manch­mal omni­po­ten­te Dop­pel­gän­ger-For­ma­te für ihre Anhän­ge­rin­nen und Anhän­ger. Sie schen­ken ihnen eine star­ke, ein­präg­sa­me und kon­sis­ten­te ‚Mar­ken­iden­ti­tät‘[11].

Die popu­lis­ti­schen Ideo­lo­gen erschaf­fen so für ihre Fol­lower eine Dop­pel­gän­ger-Iden­ti­tät in einem noch ande­ren Sin­ne. Indem Men­schen die­sen Ange­bo­ten fol­gen, wer­den sie zu ihren eige­nen Dop­pel­gän­ge­rin­nen und Dop­pel­gän­gern. Sie kön­nen Wut­bür­ge­rin­nen und Wut­bür­ger und ‚ordent­li­che‘ Bür­ge­rin­nen und Bür­ger zugleich sein. Sie kön­nen medi­al und in Grup­pen „wirk­sam“ sein und zugleich im Modus der Abspal­tung ihre All­tags­exis­tenz füh­ren – und zwar ohne bei­spiels­wei­se mit den dar­aus resul­tie­ren­den ethi­schen und affek­ti­ven Wider­sprü­chen zwi­schen bür­ger­li­cher Moral und Frem­den­hass in Kon­flikt zu geraten.

Es gelingt Popu­lis­ten also nicht nur, von der Unzu­frie­den­heit und Ver­un­si­che­rung der Men­schen zu pro­fi­tie­ren und die­se zu ver­stär­ken. Es gelingt ihnen dar­über hin­aus, die­sen Gefüh­len „Adres­sen“ zu geben – im Nega­ti­ven wie im Posi­ti­ven – und dar­in star­ke Pseu­do-Ange­bo­te für Iden­ti­tät zu machen. Metho­disch, das beschreibt Nao­mi Klein anschau­lich und aus­führ­lich, bedie­nen sie sich eines ein­fa­chen Instru­men­ta­ri­ums: Spie­ge­lung, Ablen­kung und Pro­jek­ti­on[12]. Wei­ter wird in Nao­mi Kleins Recher­che deut­lich, dass die Anfäl­lig­keit für popu­lis­ti­sche und rechts­extre­me Gesin­nung kei­nes­wegs auf die bis­lang iden­ti­fi­zier­ten sozia­len Risi­ko­grup­pen und Ein­zel­per­so­nen beschränkt ist. Das Spiel mit unse­ren Dop­pel­gän­ger-Exis­ten­zen in einer Gesell­schaft im Umbruch macht uns poten­zi­ell alle zu ‚anfäl­li­gen‘ Personen.

Wenn nun, so die Über­le­gung, ein wesent­li­cher Fak­tor für die Ent­ste­hung von popu­lis­ti­schen und rechts­ra­di­ka­len Gesin­nun­gen die Erfah­rung von Ohn­macht und der Ver­lust von Selbst­wirk­sam­keit[13] ist, dann kann eine Gegen­maß­nah­me dar­in bestehen, die Selbst­wirk­sam­keit von Men­schen zu stär­ken – und zwar nicht medi­al, in ihren ‚Dop­pel­gän­gern‘ also, son­dern in rea­len, unmit­tel­ba­ren sozia­len Erfahrungsräumen.

Drit­te Räume

Über sol­che „drit­ten Räu­me“ ist in ande­ren Zusam­men­hän­gen inten­siv nach­ge­dacht und geschrie­ben wor­den. Die grund­le­gen­den wis­sen­schaft­li­chen Arbei­ten stam­men von dem ame­ri­ka­ni­schen Stadt­so­zio­lo­gen Ray Olden­burg[14], der sich ursprüng­lich mit der Wech­sel­wir­kung von pro­ble­ma­ti­scher Archi­tek­tur und zurück­ge­hen­der Gemein­schafts­bil­dung in den 1920er Jah­ren beschäf­tigt hat­te. Sei­ne Wahr­neh­mung ist, dass es neben einem ‚First Space‘, dem Wohn­ort und dem ‚Second Space‘, dem Arbeits­platz, noch drit­te, oft tem­po­rä­re Orte gibt, die ele­men­tar sind für Gemein­schafts­bil­dung. „Der Raum pro­du­ziert die Gesell­schaft“ ist sei­ne The­se[15]. Bei drit­ten Räu­men han­delt es sich um Orte, an denen Gegen­satz­paa­re wie Hei­mat und Frem­de, Eige­nes und Ande­res für eine Wei­le über­wun­den wer­den kön­nen und in denen Hybri­di­tät und Flui­di­tät ein Poten­zi­al für das Ent­ste­hen neu­er Iden­ti­tä­ten eröffnet.

Edward Soja[16], eben­falls ein ame­ri­ka­ni­scher Sozio­lo­ge, hat die­sen Gedan­ken des drit­ten Raums Mit­te der 90-er Jah­re wei­ter­ent­wi­ckelt. Soja erläu­tert, dass der drit­te Raum gleich­zei­tig bei­des ist: phy­sisch und ideell. Es ist ein rea­ler und ein kon­zep­tio­nel­ler Raum, in dem Indi­vi­du­en zusam­men­kom­men, um Iden­ti­tä­ten aus­zu­han­deln und gemein­sam Bedeu­tun­gen zu ent­wi­ckeln. Gemein­schafts­zen­tren, Kul­tur­fes­ti­vals, öffent­li­che Parks, auch halb­öf­fent­li­che Räu­me wie loka­le Cafés, die Knei­pe am Eck sind bei­spiel­haf­te Orte, an denen Grup­pen sinn­voll inter­agie­ren kön­nen. Die­se Räu­me stel­len die tra­di­tio­nel­le Dicho­to­mie von „wir“ und „sie“ in Fra­ge und för­dern eine Atmo­sphä­re von Inklu­si­on, Ver­ständ­nis und Zusammenarbeit.

„Drit­te Räu­me“ sind den­noch nicht belie­big offe­ne Räu­me[17]. Sie haben Regu­la­ri­en und es gibt Kri­te­ri­en für ihr Funk­tio­nie­ren: es soll­ten neu­tra­le Orte sein; das Gefühl der Gemein­schaft soll­te stär­ker sein als der sozia­le und wirt­schaft­li­che Sta­tus des Ein­zel­nen; die Kom­mu­ni­ka­ti­on der Besu­che­rin­nen und Besu­cher soll­te in einer ent­spann­ten und berei­chern­den Atmo­sphä­re statt­fin­den; neu Hin­zu­kom­men­de wer­den von Erfah­re­nen an der Hand genom­men; die Erfah­re­nen wachen dar­über, dass jeder und jedem Akzep­tanz ent­ge­gen­ge­bracht wird, der und die sich als Teil die­ser tem­po­rä­ren Com­mu­ni­ty ver­steht[18].

Es gibt ‚drit­te Orte‘ natür­lich längst, ohne dass sie expli­zit so genannt wer­den oder in Erschei­nung tre­ten. Aber vie­ler­orts hat man begon­nen, sie in ihrer gesell­schaft­li­chen und inte­gra­ti­ven Bedeu­tung neu zu ent­de­cken und zu wür­di­gen[19]. Es gibt städ­te­bau­li­che und sozia­le Initia­ti­ven, die sich ein­set­zen, sol­che Orte und Räu­me gezielt zu schaf­fen und zu ent­wi­ckeln. Wie hoch die Bedeu­tung offe­ner, in ihrem Wesen nicht tota­li­tä­rer Orte für unser Gemein­we­sen und für eine demo­kra­ti­sche und offe­ne Gesell­schaft ist, lässt sich in Län­dern und Kul­tu­ren sehen, wo die­se Drit­ten Räu­me als Bedro­hung bekämpft oder ver­bo­ten werden.

In jedem Fall geben Sie Men­schen eine Mög­lich­keit, aus sozia­len Pola­ri­sie­run­gen, aus fremd­be­stimm­ten Dop­pel­gän­ger­exis­ten­zen, aus Ohn­macht und Rat­lo­sig­keit für eine Wei­le aus­zu­stei­gen und neue Erfah­run­gen mit sich selbst und im sozia­len Mit­ein­an­der zu machen. Ob dies ein wir­kungs­vol­les Mit­tel gegen die bedroh­li­chen Ent­wick­lun­gen unse­rer Gesell­schaft durch rechts­ra­di­ka­le Dem­ago­gen und Popu­lis­ten ist, wird sich wei­sen müs­sen. Auf jeden Fall ist es ein Bau­stein zum Erhalt einer offe­nen Gesellschaft.

Eine der aktu­el­len Her­aus­for­de­run­gen ist es dem­zu­fol­ge, bereits exis­tie­ren­de wir­kungs­vol­le drit­te Orte und Räu­me als sol­che zu iden­ti­fi­zie­ren und sie in ihrer poli­ti­schen und inte­gra­ti­ven Qua­li­tät auf brei­ter Ebe­ne zu stär­ken. Ich den­ke an die Gestal­tung und die Orga­ni­sa­ti­on öffent­li­cher Plät­ze und Quar­tie­re, an sozia­le und Jugend­ein­rich­tun­gen und die dar­in mög­li­chen Begeg­nungs­for­ma­te, an Kul­tur­räu­me wie Muse­en, an die unter­schied­li­chen Ver­an­stal­tungs­or­te für Bil­dung, Inte­gra­ti­on und sozia­les Ler­nen. Auch die Kir­chen mit ihren Gemein­de­zen­tren, ihren sozia­len und par­ti­zi­pa­ti­ven Ange­bo­ten haben hier gro­ßes Poten­zi­al. Die Bedeu­tung drit­ter Orte und Räu­me für die Zukunft unse­rer Gesell­schaft ver­dient es nicht nur ins Bewusst­sein geho­ben zu wer­den: Es bräuch­te dazu auch Schulterschlüsse!

War­um nicht ein „Netz­werk 3rd Space“? Es wäre poli­tisch ein State­ment und ein sicht­ba­res Zei­chen gegen eine Gesell­schaft, in der Des­in­te­gra­ti­on und Spal­tung wach­sen. Auch auf Euro­päi­scher Ebe­ne gibt es ers­te Ansät­ze[20]. Kul­tur­schaf­fen­de wol­len Initia­ti­ven und Orte ver­bin­den, die erfahr­bar machen, dass Kul­tu­ren kei­ne Fes­tun­gen sind, son­dern Räu­me, in denen Men­schen auf unter­schied­li­che Wei­se zusam­men­fin­den und über bei­des – Gemein­sa­mes und Unter­schei­den­des – ins Gespräch kom­men. Dort könn­te Neu­es entstehen.

Anmer­kun­gen

[*] Zuerst erschie­nen in Ker­be 2/2025, S.12–14. Der Autor war zuletzt City­kir­chen­pfar­rer in Stutt­gart mit Kul­tur- und Erwach­se­nen­bil­dungs­auf­ga­ben. Sys­te­mi­scher Bera­ter. Ehren­amtl. Vor­sitz der zivil­ge­sell­schaft­li­chen Initia­ti­ve Forum Hos­pi­tal­vier­tel e.V.

[1] Kel­ler: Hin­ter den Spie­geln der Querfront
[2] Leg­ge­wie: Popu­lis­ten ver­ste­hen!? in Bröm­mel u.a. (Hg.): Popu­lis­mus und Extre­mis­mus in Euro­pa. S. 63ff.
[3] Leg­ge­wie, Popu­lis­ten ver­ste­hen!? S. 66
[4] Janisch: War­um wäh­len Men­schen Par­tei­en, die ihnen schaden?
[5] Ill­ouz, Explo­si­ve Moderne.
[6] Beel­mann: Ursa­chen und Prä­ven­ti­on des Rechtsextremismus.
[7] Leu­sch­ner: Ver­fol­gungs­wahn, Zer­stö­ren und Tot­schla­gen. In: Kurt Grün­berg, Wolf­gang Leu­sch­ner. Initia­ti­ve 9. Novem­ber. S. 85–102.
[8] Klein, Doppelgänger.
[9] Ander­son: Code of the Street.
[10] Nao­mi Kleins Buch ‚Dop­pel­gän­ger‘ wur­de 2024 mit dem in Groß­bri­tan­ni­en und Irland ver­ge­be­nen Womens’s Pri­ce for non-fic­tion ausgezeichnet.
[11] z.B.: Die Paro­le „Wir sind das Volk“ in ihrer neo­na­tio­na­lis­ti­schen Umdeu­tung oder „Spie­ge­lung“.
[12] Klein, Dop­pel­gän­ger, S. 151. „Auch Wla­di­mir Putin ist ein Meis­ter der Spie­ge­lung, schon seit Beginn sei­ner poli­ti­schen Kar­rie­re. Wäh­rend der wider­recht­li­chen rus­si­schen Inva­si­on und Beset­zung der Ukrai­ne beschul­dig­te Putin die ukrai­ni­sche Regie­rung exakt der Ver­bre­chen, die er selbst beging oder plante.“
[13] Bandu­ra: Exer­cise of per­so­nal and coll­ec­ti­ve effi­ca­cy in chan­ging societies.
[14] Olden­burg: The Gre­at Good Place: “The Space Pro­du­ces Socie­ty“. S. 42.
[15] In einer damals für Olden­burg noch nicht sicht­ba­ren Wei­se gilt das heu­te für die Bedeu­tung der vir­tu­el­len drit­ten Räu­me. Sie sind die pri­mä­ren Werk­räu­me von Ver­schwö­rungs­theo­re­ti­kern und popu­lis­ti­schen Demagogen.
[16] Soja: Third­space, S. 61.
[17] Grund­sätz­li­ches zu Drit­ten Räu­men bei Homi K. Bhab­ha: The Loca­ti­on of Culture.
[18] Odert: Minilexikon.
[19] Dol­ley; Rethin­king Third Places. Das Netz­werk Innen­stadt Nord­rhein­west­fa­len z.B. hat ein Pro­gramm zur Ent­wick­lung von Innen­städ­ten als Drit­te Orte auf den Weg gebracht, vgl. Mey­er: Third Places: Son­der­fall des öffent­li­chen Raumes?
[20] 3RD-SPC./RP pro­ject | Invi­ta­ti­on to Art, Sci­ence & Socie­ty | 3rd-space.eu

Lite­ra­tur:

Ander­son, Eli­jah (2000): Code of the Street. Decen­cy, Vio­lence, and the Moral Life of the Inner City. 1st ed. W. W. Nor­ton & Com­pa­ny Incorporated.

Bandu­ra Albert: Self-Effi­ca­cy in Chan­ging Socie­ties, Cam­bridge 2010 (online ed). Dar­in: ders., Exer­cise of per­so­nal and coll­ec­ti­ve effi­ca­cy in chan­ging societies.

Beel­mann, Andre­as (2024): Ursa­chen und Prä­ven­ti­on des Rechts­extre­mis­mus. Online ver­füg­bar unter https://www.bpb.de/themen/rechtsextremismus/dossier-rechtsextremismus/552904/ursachen-und-praevention-des-rechtsextremismus/, zuletzt aktua­li­siert am 08.10.2024.

Bhab­ha, Homi K. (2012): The Loca­ti­on of Cul­tu­re. 2nd ed. Hobo­ken: Tay­lor and Fran­cis. Online ver­füg­bar unter http://gbv.eblib.com/patron/FullRecord.aspx?p=653022.

Bröm­mel, Win­fried; König, Hel­mut; Sicking, Man­fred (Hg.) (2017): Popu­lis­mus und Extre­mis­mus in Euro­pa. Gesell­schafts­wis­sen­schaft­li­che und sozi­al­psy­cho­lo­gi­sche Per­spek­ti­ven. Bie­le­feld: tran­script (Euro­päi­sche Hori­zon­te, Band 10).

Dol­ley, Joan­ne; Bos­man, Caryl (Hg.) (2019): Rethin­king third places. Infor­mal public spaces and com­mu­ni­ty buil­ding. Chel­ten­ham, Glouces­ter­shire: Edward Elgar Publi­shing Limited.

Grün­berg, Kurt; Leu­sch­ner, Wolf­gang; Becker, Diet­mar; Becker-Schmidt, Regi­na; Berg­mil­ler-Fell­me­th, Iris; Bren­ner, Joa­chim et al. (Hg.) (2017): Popu­lis­mus, Para­noia, Pogrom. Affekt­erb­schaf­ten des Natio­nal­so­zia­lis­mus. Initia­ti­ve 9. Novem­ber e.V. 1. Auf­la­ge. Frank­furt am Main: Bran­des & Apsel. Online ver­füg­bar unter https://portal.dnb.de/opac/mvb/cover?isbn=978–3‑95558–200‑5.

Ill­ouz, Eva (2024): Explo­si­ve Moder­ne. 3. Auf­la­ge, Ori­gi­nal­aus­ga­be. Ber­lin: Suhrkamp.

Janisch, Wolf­gang (2024.): War­um wäh­len Men­schen Par­tei­en, die ihnen scha­den? In: Süd­deut­sche Zei­tung 2024, 27.12.2024.

Kel­ler, Flo­ri­an (2023): Hin­ter den Spie­geln der Quer­front. (Nr. 42). Online ver­füg­bar unter https://www.woz.ch/2342/doppelganger/hinter-den-spiegeln-der-querfront/!JNFWTDDQAFPG, zuletzt aktua­li­siert am 19.10.2023.

Klein, Nao­mi (2024): Dop­pel­gän­ger. Eine Ana­ly­se unse­rer gestör­ten Gegen­wart. Frank­furt am Main: S.Fischer.

Mei­er, Sabi­ne (2021). Third Places: Son­der­fall des öffent­li­chen Rau­mes? Maga­zin Innen­stadt, 01/21, 4–7. Netz­werk Innen­stadt NRW.

Odert, Lisa (2015): Third Space. Mini­l­e­xi­kon archi­tek­to­ni­scher Mode­be­grif­fe. Insti­tut für Archi­tek­tur­theo­rie, Kunst- und Kul­tur­wis­sen­schaf­ten. Graz. Online ver­füg­bar unter http://minilexikon-architektonischer-modebegriffe.tugraz.at/index.php/modebegriffe/third-space/index.html.

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