Radikalisierungsmaschinen. Julia Ebner ist Expertin für Extremismus. Derzeit arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am renommierten Londoner Institute for Strategic Dialogue, das spezialisiert ist auf die Erforschung von Extremismus, Radikalisierung und Terrorismusprävention. Die 28-jährige Forscherin hat ihre Beschäftigung mit verschiedenen extremistischen Gruppierungen durch eine 2‑jährige Undercover-Recherche vertieft. Julia Ebner hat sich über falsche Accounts, für die sie 5 verschiedene Identitäten annahm, in etwa 12 extremistische Chatgruppen begeben – von weißen Nationalisten über christliche Fundamentalisten und Verschwörungstheoretiker bis hin zu islamistischen Dschihadisten. Mitunter waren die sozialen Medien der Türöffner, um in der realen Welt als vorgebliche Sympathisantin etwa in Kreise der Identitären Bewegung zu gelangen. Ihre Berichte, die in einem journalistischen Reportagestil gehalten sind, wirken zunächst als anekdotische Aneinanderreihung. Durch die Fülle von Begegnungen und die Anreicherung mit Hintergrundinformationen, die durch Quellen belegt werden (und im E‑Book über Links leicht aufzurufen sind), gewinnt die Darstellung jedoch entscheidend an Konsistenz und Erkenntniswert. Zudem ist die Gliederung klar: die Hauptthemen sind Rekrutierung und Sozialisierung, Kommunikation und Vernetzung und schließlich Mobilisierung und Angriffsformen. Bemerkenswert sind die Ähnlichkeiten zwischen den verschiedenen extremistischen Bewegungen. So nutzen sie alle sehr professionell die digitalen Medien. Insbesondere abgehängte junge Männer bekommen so die Chance, sich mit (zunehmend) Gleichgesinnten zu verbünden und ihr Selbst durch die Teilhabe an einer größeren Bewegung zu stärken. Verstörend sind aber auch ihre Berichte von den „Trad Wives“, die sich geradezu karikaturhaft traditionelle Frauenrollen verordnen mit strikter Unterordnung unter den Mann.
Zur geschickten Anwerbung und Motivierung gehören Beratung und Coaching für die verschiedensten Lebensbereiche (Partnerschaft, Gesundheit etc.), aber auch Gamifizierung: Es gibt Medaillen, Bestenlisten, Statusstufen etc. Der Attentäter von Christchurch inszenierte seine Morde geradezu als Videospiel, das 1,5 Millionen Mal geteilt wurde.
Zu den „normalen“ Aktivitäten zählt das „Trollen“, konzertierte Aktionen, um Unruhe zu stiften oder gezielt Falschinformationen zu verbreiten. Reconquista Germanica stellt eine der größten „Trollarmeen“. Weiter noch geht das „Doxen“ (dropping documents), also die Veröffentlichung persönlicher Daten wie Adresse und Telefonnummer. Die Folgen „reichen von unerwünschten Abonnements über Drohanrufe bis hin zu gefakten Anthrax-Sendungen und persönlichen Besuchen zuhause.“ Durch die vielen falschen Accounts kann eine relativ kleine Gruppe von Personen (scheinbare) Trends setzen oder durch Hatestorms massive Verunsicherung auslösen, weil das Ausmaß der Bedrohung für die einzelnen Politiker*innen und Journalist*innen schwer einzuschätzen ist.
Was ist zu tun? Julia Ebner plädiert für eine Veränderung des NetzDG, das bisher nur kommerzielle Netzwerke mit über zwei Millionen Nutzern dazu verpflichtet, Terrorpropaganda und Hatespeech-Inhalte innerhalb von 24 Stunden zu löschen. Deradikalisierungsprogramme erscheinen teilweise erfolgversprechend. Es braucht „robustere Koalitionen zwischen Fakten-Checkern und Social-Media-Aktivisten“. Zudem nennt sie beispielhaft Initiativen, die den extremistischen Bestrebungen entgegenwirken, etwa HateAid und #ichbinhier.
Julia Ebner: Radikalisierungsmaschinen: Wie Extremisten die neuen Technologien nutzen und uns manipulieren, Suhrkamp Taschenbuch, 2019.