… und Mitgefühl.
„Seit Adams und Heva´s Tagen, seit aus Einem Zweie wurden, hat niemand leben können, der sich nicht in seinen Nächsten versetzen wollte und seine wahre Lage erkunden, indem er sie auch mit fremden Augen zu sehen versuchte. Einbildungskraft und Kunst des Erratens in bezug auf das Gefühlsleben der anderen, Mitgefühl also, ist nicht nur löblich, sofern es die Schranken des Ich durchbricht, es ist auch ein unentbehrliches Mittel der Selbsterhaltung.“ (Thomas Mann: Joseph und seine Brüder)
Thomas Mann erkennt klar: Empathiefähigkeit ist nicht allein eine Sache der Moral, sondern auch des Überlebens. Es war vorteilhaft, die Gefühle eines anderen zu erraten, etwa, wenn der oder die andere zornig war, es war vorteilhaft, sich in die Notlage eines und einer anderen hineinversetzen zu können, um ihm und ihr helfen zu können. Denn dies sicherte die Dankbarkeit.
Man kann ein weites Spektrum von Empathie ausmachen, von der bloßen Gefühlsansteckung bis hin zu einer höherstufigen Theory of Mind. Bei der Gefühlsansteckung überträgt sich ein geäußertes Gefühl unmittelbar, z.B. auf die Herde oder den Schwarm – und alle fliehen oder geraten gar in Panik.
Auch im unmittelbaren Mitfühlen dominiert noch der spontane Affekt. Dies kann Bestürzung und Verunsicherung auslösen und damit eine Hilfeleistung geradezu verhindern. Im Englischen dominiert auch im Begriff empathy sehr das emotionale Mitfühlen, bei dem das Empfinden und Bewusstsein für die Unterschiedenheit vom Verunglückten oder Leidenden und dem eigenen Selbst verschwommen ist.
So betonen einige Forscher und Autoren, dass empathy negativ zu bewerten sei. Paul Bloom hat ein Buch geschrieben mit den Titel Against Empathy. The Case for Rational Compassion. Und Rutger Bregman überschreibt sein 10. Kapitel von Im Grunde gut: „Wie Empathie uns blendet“. Die Kritik zielt vor allem darauf, dass wir nur im Nahbereich so gefühlsmäßig mitleiden. Wenn wir dieser Parteilichkeit entgehen wollen, brauchen wir eine kognitive Beteiligung, die uns Leid realistischer und damit gerechter einschätzen lässt. Bloom und Bregman sehen dies im Begriff compassion aufgehoben, der stärker kognitiv gefärbt sei. Für mein Sprachgefühl gilt genau dies allerdings im Deutschen für Empathie, so dass es bei Übersetzungen zu Verwirrung kommt.
Kann stark affektives Mitgefühl dennoch evolutionär von Vorteil gewesen sein? Ich denke ja, weil es mitunter ausreicht, in einem Notfall um (weitere) Hilfe zu schreien. Wichtig ist, dass die Not voll erkannt wird. Je mehr Kompetenz zur Hilfeleistung vorhanden ist, desto genauer wird sodann erfasst, was hier zu tun ist, wie effektive Hilfe geleistet werden kann. Menschen sind aber eben nicht so, dass sie an Freunden, Bekannten, Verwandten, die Hilfe brauchen, einfach kalt vorübergehen können, und auch auf das Leid eines Fremden sprechen wir an, müssen den Blick schon sehr schnell abwenden, wenn wir uns nicht involvieren lassen wollen. Heute transportieren Bilder das Leid von sehr weit her in unser Blickfeld und damit in den Bereich unseres Mitgefühls.
Ein frühes literarisches Beispiel für die Darstellung von Mitgefühl findet sich bei Aischylos. Es geht um die Leiden des Prometheus, der von Zeus dafür bestraft wird, dass er das Feuer gestohlen und den Menschen überbracht hat. Hephaistos sieht sich durch Zeus gezwungen, Prometheus in der menschenöden Kluft des Kaukasus anzuschmieden und den Raubvögeln preiszugeben. Die Chorführerin spricht:
Ehernen Sinns müßt, aus dem Fels gehauen sein,
Wer immer auch, Prometheus, fühlt für deine Qual
Kein Mitleid; ich ja hätte nie dies anzusehn
Gewünscht; ich sah’s, und schmerzvoll zuckte mir mein Herz.
Der gefesselte Prometheus 242–245, Tragödien und Fragmente, hg. u. übers. v. Oskar Werner, Tübingen 3.1980 S. 427; (vgl. 144–146, S. 421)
Es sind David Hume und Adam Smith, die die Bedeutung des Mitgefühls (compassion bzw. sympathy) für die natürliche Moralität des Menschen in den Blickpunkt rücken.
David Hume nimmt das Beispiel eines Tragödienstückes. Wenn wir es anschauen, erleben wir eine lange Abfolge von Gefühlen wie Kummer, Schrecken, Entrüstung usw.
Allem diesem Wechsel muß der Zuschauer sympathisierend folgen. (Ein Traktat über die menschliche Natur, Buch II: Über die Affekte, Hamburg: Felix Meiner Verlag 1978, S. 103f)
Dass er ihm folgen kann, muss an der Ähnlichkeit der menschlichen Wesen liegen. Während compassion und sympathy bei Hume eher allgemein das Mitempfinden diverser Gefühle bezeichnet, meint pity bei ihm spezieller Mitleid. Er konstatiert, dass Mitleid in hohem Maße sowohl von der Nähe als auch von dem Anblick abhängt. Hume weist aber auch darauf hin, dass wir mitunter sozusagen stellvertretend erröten, uns also „fremdschämen“.
Empathie als Wert. Spontanes Mitgefühl ist eine moralische Intuition, aber kann Empathie auch als Wertbegriff verstanden werden?
Carolin Emcke tut dies im Blick auf die Situation in Israel und Palästina, wo es nach dem grausamen und brutalen Angriff von Kämpfern der Terrororganisation Hamas und den vielen Toten und Verletzten durch israelische Luftangriffe nur ein Entweder – Oder zu geben scheint: Mitgefühl mit diesen Opfern oder jenen. Emcke spricht von einer universalistischen Empathie, die als ethische Praxis „geübt sein will“.
Sie lässt sich nicht nur behaupten, sie muss sich beweisen. Allen gegenüber. Sie kennt keine Lücken. Empathie, wenn sie humanistisch sein will, kann nicht an identitäre Bedingungen geknüpft werden, jene Empathie, die sich nur denen einfühlen will, die einem ähnlich sind oder vertraut, ist ethisch verstümmelt. Barmherzigkeit, so erzählen es uns die biblischen Geschichten, erweist sich nicht nur denen gegenüber, die so aussehen oder sprechen wie wir selbst. Sondern sie ist voraussetzungslos. Sie gilt denen in Not, denen, die ein Antlitz haben. Menschenrechte sind Menschenrechte. Wir können und dürfen nicht erst verhandeln, wer alles als Mensch zählt. (Süddeutsche Zeitung vom 21.10.2023)