Das Thema Scham ist trotz einiger bedeutender Veröffentlichungen immer noch ein unzureichend bedachtes Thema.
Warum das so ist? Drei Antwortversuche:
- Scham ist sehr persönlich
- Scham ist ein komplexes Phänomen
- Die Schuldthematik dominierte lange über die Schamthematik
1. Scham ist sehr persönlich
Man kann Schulden haben, sogar Schuld auf sich laden, aber beschämt ist man.
Bernhard Schlink hat in seinem bekannten Buch Der Vorleser beschrieben, wie Hanna, eine reife Frau, zu der der Icherzähler als Jugendlicher eine prägende Beziehung hatte, später als ehemalige KZ-Aufseherin angeklagt wird. Die Rolle, die ihr vorgeworfen wird, kann sie allerdings gar nicht gespielt haben kann, weil sie nicht lesen und nicht schreiben konnte und kann, was sie jedoch gekonnt zu verbergen wusste und auch jetzt nicht preisgibt. Sie könnte sich damit verteidigen, aber sie schweigt, weil die Scham darüber für sie schlimmer ist, als die Schuldzuschreibung zu tragen, die ihr angelastet wird.
Die ursprüngliche Scham von Hanna, war, was man Anpassungsscham nennen kann: ich bin anders; ich kann nicht, was fast alle können. Aber es entwickelte sich bei ihr zusätzlich so etwas wie Intimitätsscham, denn es ist ein Geheimnis von ihr, das sie mit allen Mitteln zu wahren sucht. Und wie es bei Geheimnissen ist, sie werden immer peinlicher, immer monströser, je länger man sie verbirgt. Manchmal kann in der Psychotherapie ein Durchbruch passieren: Ich spreche es aus und es verliert etwas – oder auch sehr viel – an quälender Peinlichkeit.
2. Scham hat viele Facetten
Es gibt eine enorme Spanne in der Intensität von Schamgefühlen: von Verlegenheit, und leichtem Gehemmtsein, über Schüchternheit, Peinlichkeit bis hin zu quälenden Zweifeln am Selbstwert.
Scham mag für die betroffene Person unangenehm bis unerträglich sein, sie ist dennoch nicht eindeutig negativ konnotiert wie Schuld. Scham ist auch als „Hüterin der Würde“ bezeichnet worden, und wie auch das Wort schamlos zeigt, erfährt Schamgefühl auch eine positive Bewertung. Was wäre, wenn alle ihr Schamgefühl und jede Sorge um Beschämung hinter sich ließen?!
Man kann sehr verschiedene Formen von Scham unterscheiden. Zwei sind schon genannt worden.
Stephan Marks[1] unterscheidet 6 Formen von Scham, die ich durch eine 7. (narzisstische Scham) ergänzen möchte:
Anpassungsscham „ich bin anders“
z.B. wenn man nicht teure Klamotten „wie alle anderen“ trägt
Intimitätsscham
Privatsphäre, Geheimnisse, Intimsphäre
Gruppenscham
man schämt sich für einen anderen Angehörigen der Gruppe, der man sich zugehörig fühlt
Traumatische Scham
Ohnmachtserfahrung
Gewissensscham
Schamempfinden wegen eines Vergehens, einer Schuld
Empathische Scham
Fremdschämen, obwohl man mit der betreffenden Person keine Verbindung hat (wie bei der Gruppenscham)
Narzisstische Scham
Schamempfinden bei Versagen angesichts des hohen Ich-Ideals
[1] Stephan Marks: Scham – die tabuisierte Emotion, Ostfildern: Patmos Verlag, 4. Aufl. 2013
3. Die Schuld- dominierte über die Schamthematik
Im christlichen Kontext ist verständlicherweise die Schuldthematik vorrangig. Der Kreuzestod Jesu wurde und wird primär unter dem Vergebungs- und Versöhnungsgedanken thematisiert. Dabei kann man sich natürlich auch einer Schuld schämen, und manchmal ist gar nicht so klar, was stärker ist. Ich nehme einem alten Mann die Vorfahrt, der fast einen Herzinfarkt bekommt. Ich empfinde Schuld (das hätte ich nicht machen dürfen) und Scham (ich möchte nicht jemand sein, der so etwas tut, bzw. als ein solcher gesehen wird). Man kann hier von Gewissensscham sprechen.
Mitunter überdeckte aber die Dominanz der Schuldproblematik die in den biblischen Texten angelegte Schamproblematik:
Petrus leugnet drei Mal, dass er ein Anhänger von Jesus sei. Warum? Aus Angst, ja, aber vielleicht auch, um sich nicht vor den Umstehenden seiner Jüngerschaft zu dem, der da gerade abgeführt und verhört wird, schämen zu müssen. Er fühlt sich ertappt, als die Magd die Aufmerksamkeit auf ihn gezogen. hat. Hier würde es sich um Anpassungsscham handeln. Erst durch das Krähen des Hahnes wird ihm bewusst, dass er damit Jesus verraten hat, – und fühlt sich schuldig? schämt sich? Bestimmt beides. Er schämt sich seines Versagens angesichts der großspurigen Beteuerungen, zu denen er sich kurz zuvor hatte hinreißen lassen. Die Gewissensscham dient „der Wahrung seines inneren Wertesystems, seiner persönlichen Integrität“[1]. Man kann hier aber auch von narzisstischer Scham sprechen, denn Petrus wollte ja ganz besonders eifrig und treu sein. Er scheitert an seinem überzogenen Ich-Ideal.
[1] Nach Marks, a.O. S. 162.
Vortrag über Scham und Schuld
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