Ressentiment

Cyn­thia Fleu­ry: Hier liegt Bit­ter­keit begra­ben. Über Res­sen­ti­ments und ihre Hei­lung, Suhr­kamp 2023.

„Ich, der ich nichts ach­te und dich nicht ach­te, habe ein Recht auf Ach­tung.“ (S. 83)

„Das Res­sen­ti­ment dient nicht nur dazu, die Erin­ne­rung an das auf­recht­zu­er­hal­ten, was als Ver­let­zung emp­fun­den wur­de, es erlaubt auch den Genuss die­ser Erin­ne­rung, als ein Leben­di­ger­hal­ten der Idee der Bestra­fung.“ (S. 27)

Es geht dar­um, „das Tra­gi­sche zu erfas­sen und dabei sein mög­li­ches Gift fern­zu­hal­ten.“ (S. 64)

„Es gibt eine uner­mess­li­che Welt zwi­schen dem Emp­fin­den von Bit­ter­keit, dem Gefühl der Demü­ti­gung und der Unwür­dig­keit, die real ist, deren Per­ma­nenz man aber ablehnt, und der Tat­sa­che, sich als uni­ver­sel­les Süh­ne­op­fer zu betrach­ten, dies als Sta­tus anzu­set­zen, die­ser Ver­bit­te­rung eine Stim­me ver­lei­hen zu wol­len, zu wol­len, dass eine Theo­rie sie unter­mau­ert, und sich als Reak­ti­on, als Exzess zu erle­ben.“ (S. 145)

„Die »Mas­se« wird in dem Moment gebo­ren, in dem die Sub­jek­te, die sie bil­den, sich ihres Sub­jekts ent­le­di­gen, voll Zorn dar­auf ver­zich­ten, für ihr Leben ver­ant­wort­lich zu sein, sich als Opfer defi­nie­ren und bald selbst zu Hen­kern wer­den, um wie­der Gerech­tig­keit her­zu­stel­len.“ (S. 148)

Kafka

„nur ein Dank, daß Du da bist auf die­ser Welt, […] der ich es von vorn­her­ein nicht ange­se­hen hät­te, daß du auf ihr zu fin­den sein könn­test.“ (Brief an Mile­na vom 10. August 1920, Fischer TB 5307 S. 204)

„ich ver­gaß alles, ver­gaß mich ganz und gar, stand auf, kam näher, ängst­lich zwar in die­ser neu­en und doch hei­mat­li­chen Frei­heit, kam aber doch näher, kam bis zu Dir, Du warst so gut, ich duck­te mich bei Dir nie­der, als ob ich es dürf­te, ich leg­te das Gesicht in Dei­ne Hand, ich war so glück­lich, so stolz, so frei, so mäch­tig, so zuhau­se, immer wie­der die­ses: so zuhau­se …“ (14. Sep­tem­ber 1920, S. 262)

„Den Tod wol­len, die Schmer­zen aber nicht, das ist ein schlech­tes Zei­chen. Sonst aber kann man den Tod wagen. Man ist eben als bibli­sche Tau­be aus­ge­schickt wor­den, hat nichts Grü­nes gefun­den und schlüpft nun wie­der in die dunk­le Arche.“ (Sep­tem­ber 1920, S. 277)

Anfangen

Auch die Schwel­le des neu­en Jah­res führt in eines, das vom alten meist nicht so ganz ver­schie­den ist. Und doch ist der Anfang von etwas seit je dazu geeig­net, zu ver­füh­ren wie nichts sonst. Er ist das Verspre­chen schlecht­hin und der Trost gegen das Abge­stan­de­ne, daß es nicht blei­ben muß.
Ernst Bloch: Tübin­ger Ein­lei­tung in die Phi­lo­so­phie. Werk­ausg. Bd.13, Frank­furt 1983, S. 357

Könn­te man debü­tie­ren wie Eva: in einen Apfel zum ers­ten Mal und mit eige­nen Zäh­nen beißen.
Stanis­law Jer­zy Lec: Sämt­li­che unfri­sier­te Gedan­ken, hg.v. Karl Dede­ci­us, Mün­chen 1982, S. 368

Die ein­zi­ge Freu­de auf der Welt ist: anfan­gen. Es ist schön zu leben, weil leben anfan­gen ist, immer, in jedem Augen­blick. Wenn die­ses Gefühl fehlt – Gefäng­nis, Krank­heit, Gewohn­heit, Dumm­heit –, möch­te man sterben.
Cesa­re Pave­se: Das Hand­werk des Lebens, Tage­buch vom 23. Nov. 1937, Fischer TB 9282, S. 69

Migration

… Gast­freund­schaft kann sich … nur über die Aner­ken­nung der Tat­sa­che ein­stel­len, dass wir im pla­ne­ta­ri­schen Exil der Glo­ba­li­sie­rung alle­samt ansäs­si­ge Frem­de sind. (S. 307)

In der Hei­mat der Men­schen­rech­te haben gefähr­li­che Bewe­gun­gen der extre­men Rech­ten erneut die Büh­ne betre­ten, deren poli­ti­sches Pro­gramm im Frem­den­hass zu gerin­nen scheint: der Frem­de als Sün­den­bock jeg­li­chen Unbe­ha­gens. Die Gespens­ter von Blut und Boden, der Mythos von Auto­cht­ho­nie und Abstam­mung konn­ten so wie­der­auf­er­ste­hen. (S. 308)

(Donatel­la di Cesa­re: Phi­lo­so­phie der Migra­ti­on, Ber­lin: Matthes & Seitz, 2021)

Wir

Es ist schwer, sie [die Gewohn­heit, „wir“ zu sagen] abzu­le­gen, wenn man sie so lan­ge bewahrt hat, ein gan­zes Leben, in dem ich mich als ein „wir“ gefühlt hat­te, wo auch immer ich gewe­sen war, selbst allein. Die­ses „wir“ macht Mut, lässt einen durch­hal­ten, ist eine ima­gi­nä­re Beglei­tung und ver­treibt Skru­pel oder streut zumin­dest die Verantwortung.
(Javier Marí­as: Tomás Nevin­son, Frank­furt am Main: S. Fischer, 2022, S. 62)

… wer wer­den wir an dem Tag sein, an dem unser Anstand auf die Pro­be gestellt wird? Wer­den wir es wagen, dem zu wider­spre­chen, was alle den­ken, was unse­re Freun­de, Nach­barn und Kol­le­gen den­ken, und dar­auf behar­ren, dass sie unan­stän­dig sind, wäh­rend wir selbst anstän­dig sind? Groß ist die Kraft des Wir, fast unzer­reiß­bar sei­ne Fes­seln, und im Grun­de kön­nen wir nur hof­fen, dass unser Wir ein gutes Wir ist. Denn wenn das Böse kommt, dann sicher nicht in Gestalt eines »Sie«, als etwas Frem­des, das wir leicht von uns wei­sen kön­nen, es wird in Gestalt eines »Wir« kom­men. Es wird als »das Rich­ti­ge« kommen.
(Karl Ove Knaus­gård: Kämp­fen, btb 71748, 2018 S. 900)

Zukunft

„Und eines Tages wird sich die Mensch­heit für die gro­ßen Wer­ke, die sie zu ihrer Erleich­te­rung geschaf­fen hat, auf­ge­op­fert haben.“
Karl Kraus: Apho­ris­men, suhr­kamp taschen­buch 1318 S. 70

„Die Zukunft ist schon da, sie ist nur ungleich verteilt.“
Wil­liam Ford Gibson

„In gewis­sem Sinn ist die Welt ein Kran­ker, der glaubt, er müs­se in Kür­ze gesun­den oder bald ster­ben, und dem es nicht in den Sinn kommt, daß er krän­kelnd ein hohes Alter errei­chen könnte.“
Sta­nis­law Lew, zit. nach „Die Zeit“ 1995 Nr.32 S. 23

„Die Zukunft des Men­schen steht auf dem Spiel; sie ist gesi­chert, sobald nur genü­gend Men­schen sich die­ser Ein­sicht nicht verschließen.“
Bert­rand Rus­sell: Moral und Poli­tik, Mün­chen 1972

Klimawandel

Harald Wel­zer: Nach­ruf auf mich selbst, S. Fischer Ver­lag 2021.

„Eine Kul­tur, die wie unse­re ihre eige­nen Vor­aus­set­zun­gen kon­su­miert, muss im Irr­tum sein.“ S. 15

Sind Erd­er­hit­zung, mas­sen­haf­te Flucht und Migra­ti­on und Arten­ster­ben Kri­sen? „Nein, wir müs­sen ler­nen, dass wir es nicht mit Kri­sen zu tun haben, son­dern mit sich ent­fal­ten­den Ereig­nis­ket­ten, nach denen es nicht in einen sta­tus quo ante zurück­geht.“ S. 101

„Wo an der einen Stel­le der Welt der Kli­ma­wan­del Anlass für Par­ty­ge­sprä­che ist, ist er an einer ande­ren schon eine Todes­ur­sa­che.“ S. 126

„Man könn­te sagen, seit es den Wachs­tums­ka­pi­ta­lis­mus gibt, befin­den wir uns in einem lan­gen Dis­put mit den Natur­ver­hält­nis­sen, aber der war 200 Jah­re lang ein­sei­tig. Nur wir haben gespro­chen. Seit einem hal­ben Jahr­hun­dert bekom­men wir erst­mals Ant­wor­ten, und sie fal­len des­to lau­ter und deut­li­cher aus, je län­ger wir uns wei­gern zuzu­hö­ren.“ S. 116

Aus dem Buch von Lui­sa Neu­bau­er und Bernd Ulrich: Noch haben wir die Wahl. Ein Gespräch über Frei­heit, Öko­lo­gie und den Kon­flikt der Gene­ra­tio­nen, Stutt­gart: Tro­pen Sach­buch 2021. 

„Der aus­ge­trock­ne­te Boden wird nicht eigen­stän­dig von sei­ner man­geln­den Frucht­bar­keit berich­ten oder die vom Aus­ster­ben bedroh­te Art von ihrer Exis­tenz­angst.“ – Lui­sa Neu­bau­er (S. 58)

„Wir haben welt­weit etwa 70 Mil­li­ar­den Nutz­tie­re, die wir anschei­nend pro­blem­los ernäh­ren kön­nen, aber acht Mil­li­ar­den Men­schen sol­len zu viel sein?“ – Bernd Ulrich (S. 200)

„…die auto­mo­bi­le Frei­heit in der Stadt bedeu­tet bedeu­tet Unfrei­heit für die Kin­der, die Eltern, die Rad­fah­rer, die Kran­ken und die Lang­sa­men“. – Lui­sa Neu­bau­er (S. 190)

Gespräch von Jago­da Mari­nic und Bernd Ulrich auf hr2

Dar­in sagt Bernd Ulrich:

„Wir haben eine gro­ße Kri­se im Mensch-Natur-Ver­hält­nis: sie ist exis­ten­zi­ell, sie ist gefähr­lich, sie ist nicht spä­ter, son­dern jetzt, sie ist nicht woan­ders, son­dern über­all, sie ist sinn­lich, sie ist tele­gen, sie erzeugt stän­dig Ereig­nis­se, die Mit­tel zur Lin­de­rung die­ser Kri­se lie­gen alle vor, wenn man sie anwen­den wür­de, wären die Ver­än­de­rungs­schmer­zen, die damit ver­bun­den wären, noch – wenn man jetzt damit anfängt – in einem über­schau­ba­ren Maße. Das ist das, was wir haben. Und trotz­dem tut man nicht das, was so offen­sicht­lich ist und rela­tiv noch leicht zu machen. Eine Gesell­schaft muss ja unfass­bar viel tun, um die­sen Wider­spruch aus­zu­hal­ten. Das heißt, wir müs­sen eine gigan­ti­sche Ver­drän­gungs­kul­tur in uns tra­gen, aus­tra­gen, mit uns tra­gen, in unse­ren Gesprä­chen, in unse­rer Poli­tik, damit die­ser Wider­spruch über­haupt mög­lich ist.“

Ähn­lich in der ZEIT:

„Die Kri­se im Mensch-Natur-Ver­hält­nis ist dra­ma­tisch und exis­ten­zi­ell, sie ist nicht spä­ter, son­dern jetzt, sie ist nicht woan­ders, son­dern über­all, sie beein­flusst alle Berei­che des mensch­li­chen Lebens, sie ist sinn­lich, sie ist tele­gen, sie ist inter­es­sant und liter­a­bel; zugleich lie­gen alle kul­tu­rel­len und tech­ni­schen Mit­tel zur Lin­de­rung der Kri­se in greif­ba­rer Nähe; und wür­de man sie rasch und durch­grei­fend anwen­den, dann hiel­ten sich sogar die unver­meid­ba­ren Ver­än­de­rungs­schmer­zen in Gren­zen; eine post­de­struk­ti­ve Welt könn­te sehr lebens­wert sein.“ Bernd Ulrich DIE ZEIT 43/2021

Krieg und Klima

Swit­la­na Kra­kows­ka, Ukrai­ni­sche Kli­ma­wis­sen­schaft­le­rin, Mit­glied der IPCC-Arbeits­grup­pe II (IPCC-Sach­stands­be­richt AR6)

„Wir wer­den in der Ukrai­ne nicht kapi­tu­lie­ren. Und wir hof­fen, die Welt wird nicht vor der Auf­ga­be kapi­tu­lie­ren, eine kli­ma­re­si­li­en­te Zukunft zu schaffen.

(zitiert nach Nao­mi Klein: Toxi­sche Nost­al­gie. Putin, Trump und der bren­nen­de Pla­net, in: Blät­ter für deut­sche und inter­na­tio­na­le Poli­tik, 4/22, S. 114–112, S. 112)

Der Tag, an dem …

„Der Lauf der Zeit kann in jedem Moment einen Sturm ent­fa­chen, ihn zusam­men­bal­len, auch wenn anfangs kein noch so win­zi­ges Wölk­chen am Hori­zont zu sehen war. Man weiß nicht, was die Zeit mit ihren fei­nen Schich­ten, die sich untrenn­bar über­ein­an­der­le­gen, mit uns anstel­len, in was sie uns ver­wan­deln kann. Ver­schwie­gen schrei­tet sie vor­an, Tag für Tag, Stun­de für Stun­de, Schritt für Schritt, und ver­spritzt unmerk­lich ihr Gift bei ihrer heim­li­chen Arbeit, die so takt­voll und vor­sich­tig ist, dass wir nie­mals einen Stoß spü­ren, nie einen Schreck bekom­men. Mor­gen für Mor­gen erscheint sie mit beru­hi­gen­der, unver­än­der­li­cher Mie­ne und beschwich­tigt uns mit dem Gegen­teil des­sen, was geschieht: Alles ist gut, nichts wan­delt sich, alles ist wie ges­tern – das Gleich­ge­wicht der Kräf­te –, nichts ist gewon­nen, nichts ver­lo­ren, unser Gesicht ist das­sel­be und auch unser Haar und unse­re Figur, wer uns hass­te, hasst uns noch, wer uns lieb­te, liebt uns noch. In Wirk­lich­keit geschieht das Umge­kehr­te, nur lässt sie es uns mit ihren ver­rä­te­ri­schen Minu­ten, ihren tücki­schen Sekun­den nicht mer­ken, bis der befremd­li­che, uner­denk­li­che Tag kommt, an dem nichts mehr ist, wie es war […].“ (Javier Marí­as: Die sterb­lich Ver­lieb­ten, Frank­furt 2012 S.332f)

Zitate

„Jeden Tag sei­nes Lebens eine fei­ne, klei­ne Bemer­kung ein­zu­fan­gen – wäre schon genug für ein gan­zes Leben.“ – Chris­ti­an Morgenstern

„Von der Mehr­zahl der Wer­ke blei­ben nur die Zita­te übrig. Ist es dann nicht bes­ser, von Anfang an nur die Zita­te auf­zu­schrei­ben?“ Sta­nis­law Jer­zy Lec: Sämt­li­che unfri­sier­te Gedan­ken, hg.v. Karl Dede­ci­us, Mün­chen 1982, S.193

„Traue kei­nem Zitat, das du nicht sel­ber aus dem Zusam­men­hang geris­sen hast.“ – Johan­nes Rau, zitiert im Han­dels­blatt vom 07.02.2006

Wahrheit

„Wie­wohl ich näm­lich den hei­li­gen Hie­ro­ny­mus wie einen Engel ver­eh­re und Lyra wie einen Meis­ter ach­te, bete ich den­noch die Wahr­heit als Gott an.“

Quam­quam enim Hie­ro­ny­mum sanc­tum vener­or ut angelum, et Lyram colo ut magis­trum, tamen ado­ro veritatem ut deum.

Johan­nes Reuch­lin, zit. nach Max Brod: Johan­nes Reuch­lin und sein Kampf, Wies­ba­den: Fou­rier Ver­lag, 1988, S. 73.

Mehr über Johan­nes Reuchlin

„‘Es gibt kei­ne Wahr­heit’ – sagt die­se manch­mal selbst. Aus Vorsicht.“
Sta­nis­law Jer­zy Lec: Sämt­li­che unfri­sier­te Gedan­ken, hg.v. Karl Dede­ci­us, Mün­chen 1982, S. 113

„Nichts ist weni­ger sicher, als daß die Wahr­heit geliebt wer­den will, geliebt wer­den kann, geliebt wer­den darf.“
Hans Blumenberg

Kritik der Zeit

Zita­te von Walt­her Rathen­au (1867–1922)

„Der Mensch aber begehrt Glau­ben und Wer­te. Er fühlt, daß er Uner­setz­li­ches beses­sen hat; nun trach­tet er das Ver­lo­re­ne mit List wie­der­zu­ge­win­nen und pflanzt klei­ne Hei­lig­tü­mer in sei­ne mecha­ni­sier­te Welt, wie man Dach­gär­ten auf Fabrik­ge­bäu­den anlegt. Aus dem Inven­tar der Zei­ten wird hier ein Natur­kult her­vor­ge­sucht, dort ein Aber­glau­be, ein Gemein­schafts­le­ben, eine künst­li­che Nai­vi­tät, eine fal­sche Hei­ter­keit, ein Kraft­ide­al, eine Zukunfts­kunst, ein gerei­nig­tes Chris­ten­tum, eine Alter­tü­me­lei, eine Sti­li­sie­rung. Halb gläu­big, halb ver­lo­gen wird eine Zeit­lang die Andacht ver­rich­tet, bis Mode und Lan­ge­wei­le den Göt­zen töten.“ (Zur Kri­tik der Zeit, 1912 S.93, 10. Aufl. Ber­lin 1917 S.137f)

„Rät­sel­haft ist der abs­trak­te Ehr­geiz des­halb, weil alle Bewun­de­rung der Mas­ke gilt, und von der Mas­ke zum Trä­ger kein inne­res Band der Iden­ti­tät führt.“ (Zur Kri­tik der Zeit, 1912 S.74, 10. Aufl. Ber­lin 1917, S.102)

„Der Geist, nach­zit­ternd von den Erre­gun­gen des Tages, ver­langt in Bewe­gung zu ver­har­ren und einen neu­en Wett­lauf der Ein­drü­cke zu erle­ben, nur daß die­se Ein­drü­cke bren­nen­der und ätzen­der sein sol­len als die über­stan­de­nen. In Wor­te und Töne sich zu ver­sen­ken, ist ihm unmög­lich, weil die Gedan­ken­flucht des Schlaf­lo­sen ihn durch­fie­bert. Gleich­zei­tig pochen die gequäl­ten, unter­drück­ten Sin­ne an ihre Tore und ver­lan­gen Berau­schung. So wer­den die Freu­den der Natur und Kunst mit Hohn aus­ge­schla­gen, und es ent­ste­hen Ver­gnü­gun­gen sen­sa­tio­nel­ler Art, has­tig, banal, prunk­haft, unwahr und ver­gif­tet. Die­se Freu­den gren­zen an Ver­zweif­lung […]. Ein Sinn­bild ent­ar­te­ter Natur­be­trach­tung ist die Kilo­me­ter­jagd des Auto­mo­bils […].“ (Zur Kri­tik der Zeit, 1912 S.69, 10. Aufl. Ber­lin 1917 S.94)

Peter Slo­ter­di­jk: „Jeden­falls ist es in der deut­schen Poli­tik seit Walt­her Rathen­au nicht wie­der vor­ge­kom­men, daß poli­ti­scher Ver­stand, ästhe­ti­sches Wahr­neh­mungs­ver­mö­gen, sozio­lo­gi­sche Ana­ly­se­fä­hig­keit und phi­lo­so­phi­sche Refle­xi­on sich in einem an hoher Stel­le Ver­ant­wort­li­chen ver­ei­nigt haben.“ (Euro­tao­is­mus. Zur Kri­tik der poli­ti­schen Kine­tik, edi­ti­on suhr­kamp NF Bd.450 S.218f)

Wiki­pe­dia-Arti­kel: Walt­her Rathenau

Dummheit

Diet­rich Bon­hoef­fer in „Wider­stand und Erge­bung“ (Brief und Auf­zeich­nun­gen aus der Haft)

„Dumm­heit ist ein gefähr­li­che­rer Feind des Guten als Bos­heit. Gegen das Böse läßt sich pro­tes­tie­ren, es läßt sich bloß­stel­len. es läßt sich not­falls mit Gewalt ver­hin­dern, das Böse trägt immer den Keim der Selbst­zer­set­zung in sich, indem es min­des­tens ein Unbe­ha­gen im Men­schen zurück­läßt. Gegen die Dumm­heit sind wir wehr­los. Weder mit Pro­tes­ten noch durch Gewalt läßt sich hier etwas aus­rich­ten; Grün­de ver­fan­gen nicht; Tat­sa­chen, die dem eige­nen Vor­ur­teil wider­spre­chen, brau­chen ein­fach nicht geglaubt zu wer­den – in sol­chen Fäl­len wird der Dum­me sogar kri­tisch -, und wenn sie unaus­weich­lich sind, kön­nen sie ein­fach als nichts­sa­gen­de Ein­zel­fäl­le bei­sei­te­ge­scho­ben werden.“

Anläß­lich bestimm­ter Situa­tio­nen „gewinnt man weni­ger den Ein­druck, daß die Dumm­heit ein ange­bo­re­ner Defekt ist, als daß unter bestimm­ten Umstän­den die Men­schen dumm gemacht wer­den bzw. sich dumm machen las­sen. Wir beob­ach­ten wei­ter­hin, daß abge­schlos­sen und ein­sam leben­de Men­schen die­sen Defekt sel­te­ner zei­gen als zur Gesel­lung nei­gen­de oder ver­ur­teil­te Men­schen und Men­schen­grup­pen. So scheint Dumm­heit viel­leicht weni­ger ein psy­cho­lo­gi­sches als ein sozio­lo­gi­sches Pro­blem zu sein. Sie ist eine beson­de­re Form der Ein­wir­kung geschicht­li­cher Umstän­de auf den Men­schen, eine psy­cho­lo­gi­sche Begleit­erschei­nung bestimm­ter äuße­rer Ver­hält­nis­se. Bei genaue­rem Zuse­hen zeigt sich, dass jede star­ke äuße­re Macht­ent­fal­tung, sei sie poli­ti­scher oder reli­giö­ser Art, einen gro­ßen Teil der Men­schen mit Dumm­heit schlägt.“

„Daß der Dum­me oft bockig ist, darf nicht dar­über hin­weg­täu­schen, daß er nicht selb­stän­dig ist. Man spürt es gera­de­zu im Gespräch mit ihm, daß man es gar­nicht mit ihm selbst, mit ihm per­sön­lich, son­dern mit über ihn mäch­tig gewor­de­nen Schlag­wor­ten, Paro­len etc. zu tun hat. Er ist in einem Ban­ne, er ist ver­blen­det, er ist in sei­nem Wesen miß­braucht, miß­han­delt. So zum wil­len­lo­sen Instru­ment gewor­den, wird der Dum­me auch zu allem Bösen fähig sein und zugleich unfä­hig, dies als Böse zu erken­nen. Hier liegt die Gefahr des dia­bo­li­schen Miß­brau­ches, dadurch wer­den Men­schen für immer zugrun­de gerich­tet wer­den können. […]

Es wird wirk­lich dar­auf ankom­men, ob Macht­ha­ber sich mehr von der Dumm­heit oder von der inne­ren Selb­stän­dig­keit und Klug­heit der Men­schen versprechen.“

(Diet­rich Bon­hoef­fer: Wider­stand und Erge­bung, Kai­ser-Taschen­bü­cher 100, Güters­loh 16. Aufl. 1997, S. 15–17, an der Wen­de zum Jahr 1943)

Leben

von Fjo­dor M. Dostojewski

„Und das Leben mehr lie­ben als den Sinn des Lebens?“, fragt Iwan sei­nen Bru­der Aljoscha. „Unbe­dingt so …“, ant­wor­tet dieser.
Dos­to­jew­ski: Die Brü­der Kara­ma­soff, Mün­chen 1952, übers. von E. K. Rah­sin S. 374.

„Wie, wenn ich nicht zu ster­ben brauch­te! Wenn ich ins Leben zurück­keh­ren könn­te – welch eine Unend­lich­keit täte sich da vor mir auf! Und alles das wäre mein! Ich wür­de aus jeder Minu­te eine gan­ze Ewig­keit machen, ich wür­de nichts ver­lie­ren, wür­de jeden Augen­blick zäh­len, kei­nen ein­zi­gen nutz­los ver­geu­den! Er sag­te, die­ser Gedan­ke habe ihn zuletzt in eine der­ar­ti­ge Wut gebracht, daß er schließ­lich wünsch­te, man möch­te ihn doch schnel­ler totschießen.“
Der Fürst in Dos­to­jew­skis Roman Der Idi­ot, Mün­chen (dtv 2011), 1976, über­tra­gen v. Arthur Luther, S. 82.

Ich habe mir einen inter­es­san­ten Dia­log auf dem Markt notiert: «Wir dach­ten, du wärst schon gestorben!»
«Sehe ich so aus, als ob ich noch lebe?»
Poli­na Scher­eb­zowa: Poli­nas Tage­buch, Ein­trag vom 18. März 1999 [Markt von Gros­ny], Ber­lin 2015 S. 226

Man­che leben mit einer so erstaun­li­chen Rou­ti­ne, daß es schwer fällt zu glau­ben, sie leb­ten zum ers­ten Male.
Sta­nis­law Jer­zy Lec: Sämt­li­che unfri­sier­te Gedan­ken, hg.v. Karl Dede­ci­us, Mün­chen 1982, a.O. S. 99

„jeder [muss] im Leben den Kno­chen fin­den […], an dem er nagen möchte“
Cata­lin Dori­an Flo­res­cu: Der blin­de Mas­seur, Piper 5483, Mün­chen 2009, S. 222

Aus dem Buch von Juli Zeh: Über Menschen

Sie machen eine Par­ty, um die ein­zi­ge Wahr­heit zu fei­ern, die es gibt: dass sie alle hier und jetzt gemein­sam auf die­sem Pla­ne­ten sind. Als Exis­tenz­ge­mein­schaft. Sit­zend oder ste­hend, schwei­gend oder redend, trin­kend und rau­chend, wäh­rend die Erde sich dreht, die Son­ne sinkt und das Feu­er her­un­ter­brennt. (S.355)

Auch Lan­ge­wei­le und schlech­te Lau­ne kön­nen ein Stück Hei­mat sein. (S. 400)

Aber Gote ist ein­fach nicht ver­schwun­den, unge­ach­tet der mise­ra­blen Über­ein­stim­mungs­wer­te. Er blieb, wo er war. Irgend­wann begriff Dora, dass es mit die­sem Da-Sein und Da-Blei­ben etwas auf sich hat. Man kann es tei­len. Gotes Dasein hat sich ihr mit­ge­teilt. Er hat es mit ihr geteilt. Am Ende haben sie gemein­sam exis­tiert. Ver­bun­den durch die Mau­er, die sie trenn­te. (S. 404)

Juli Zeh: Über Men­schen, Mün­chen: Luch­ter­hand, 2021

Zeit

„Gründ­lich lehrt jeden alles, wird sie alt, die Zeit.“ – Aischy­los: Der gefes­sel­te Pro­me­theus 982, in Tra­gö­di­en und Frag­men­te, hg. u. übers. v. Oskar Wer­ner, Tübin­gen 3.1980 S. 471

„Gewin­ne dich dir selbst und die Zeit, die dir bis jetzt ent­we­der weg­ge­nom­men oder ent­wen­det wur­de oder ein­fach ver­lo­ren­ging, hal­te zusam­men und behü­te.“ – Sene­ca, 1. Brief an Lucilius

„Das Leben nimmt den Men­schen sehr viel Zeit weg.“ – Sta­nis­law Jer­zy Lec: Sämt­li­che unfri­sier­te Gedan­ken, hg.v. Karl Dede­ci­us, Mün­chen 1982, S. 25

Lesen

„Beim Lesen wird die Freund­schaft plötz­lich wie­der zu ihrer ursprüng­li­chen Rein­heit zurück­ge­führt. Mit Büchern gibt es kei­ne Lie­bens­wür­dig­kei­ten. Wenn wir den Abend mit die­sen Freun­den ver­brin­gen, so des­halb, weil wir wirk­lich Lust dazu haben. Bei ihnen wenigs­tens tut es uns oft leid, sie ver­las­sen zu müs­sen. Und wenn wir sie ver­las­sen haben, gibt es kei­nen jener Gedan­ken, die die Freund­schaft ver­der­ben: Was haben sie über uns gedacht? – Haben wir es nicht an Takt feh­len las­sen? – Haben wir ihnen gefal­len? – und die Angst, um eines ande­ren wil­len ver­ges­sen zu wer­den. All die­se Erre­gun­gen der Freund­schaft ersterben an der Schwel­le der rei­nen und ruhi­gen Freund­schaft, die das Lesen ist.“ (Mar­cel Proust: Tage des Lesens, Frank­furt 1995 S.45)

Bücher

„Ich glau­be, man soll­te über­haupt nur sol­che Bücher lesen, die einen bei­ßen und ste­chen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faust­schlag auf den Schä­del weckt, wozu lesen wir dann das Buch? Damit es uns glück­lich macht, wie Du schreibst? Mein Gott, glück­lich wären wir eben auch, wenn wir kei­ne Bücher hät­ten, und sol­che Bücher, die uns glück­lich machen, könn­ten wir zur Not selbst schrei­ben. Wir brau­chen aber die Bücher, die auf uns wir­ken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tod eines, den wir lie­ber hat­ten als uns, wie wenn wir in Wäl­der vor­sto­ßen wür­den, von allen Men­schen weg, wie ein Selbst­mord, ein Buch muß die Axt sein für das gefro­re­ne Meer in uns.“ (Franz Kaf­ka: Brief im Janu­ar 1904 an Oskar Poll­ak, Kunst­his­to­ri­ker und Jugend­freund Kafkas)

„Bücher ver­lang­sa­men alles.“ (Neil Post­man, Das Ver­schwin­den der Kind­heit, Fischer TB 3855, Frank­furt 1987, S. 134)

„Mei­ne Woh­nung ist voll von Büchern, die mir erlau­ben, zwi­schen ihnen zu leben.“ (Cees Noote­boom: Die fol­gen­de Geschich­te, st 3405, S. 14)

Die Welt

Von Sta­nis­law Jer­zy Lec

„Ich weiß nicht, wer die Welt geschaf­fen hat,
ich weiß, wer sie ver­nich­ten wird.“

„Die Welt bevöl­kern ist leicht.
Sie zu ent­völ­kern ist leicht.
Also, was ist schwer?“

„Ver­sprecht euch nicht zu viel vom Ende der Welt.“

Sta­nis­law Jer­zy Lec: Sämt­li­che unfri­sier­te Gedan­ken, hg.v. Karl Dede­ci­us, Mün­chen 1982, S. 286 – S. 37 – S. 340