Ressentiment
Cynthia Fleury: Hier liegt Bitterkeit begraben. Über Ressentiments und ihre Heilung, Suhrkamp 2023.
„Ich, der ich nichts achte und dich nicht achte, habe ein Recht auf Achtung.“ (S. 83)
„Das Ressentiment dient nicht nur dazu, die Erinnerung an das aufrechtzuerhalten, was als Verletzung empfunden wurde, es erlaubt auch den Genuss dieser Erinnerung, als ein Lebendigerhalten der Idee der Bestrafung.“ (S. 27)
Es geht darum, „das Tragische zu erfassen und dabei sein mögliches Gift fernzuhalten.“ (S. 64)
„Es gibt eine unermessliche Welt zwischen dem Empfinden von Bitterkeit, dem Gefühl der Demütigung und der Unwürdigkeit, die real ist, deren Permanenz man aber ablehnt, und der Tatsache, sich als universelles Sühneopfer zu betrachten, dies als Status anzusetzen, dieser Verbitterung eine Stimme verleihen zu wollen, zu wollen, dass eine Theorie sie untermauert, und sich als Reaktion, als Exzess zu erleben.“ (S. 145)
„Die »Masse« wird in dem Moment geboren, in dem die Subjekte, die sie bilden, sich ihres Subjekts entledigen, voll Zorn darauf verzichten, für ihr Leben verantwortlich zu sein, sich als Opfer definieren und bald selbst zu Henkern werden, um wieder Gerechtigkeit herzustellen.“ (S. 148)
Kafka
„nur ein Dank, daß Du da bist auf dieser Welt, […] der ich es von vornherein nicht angesehen hätte, daß du auf ihr zu finden sein könntest.“ (Brief an Milena vom 10. August 1920, Fischer TB 5307 S. 204)
„ich vergaß alles, vergaß mich ganz und gar, stand auf, kam näher, ängstlich zwar in dieser neuen und doch heimatlichen Freiheit, kam aber doch näher, kam bis zu Dir, Du warst so gut, ich duckte mich bei Dir nieder, als ob ich es dürfte, ich legte das Gesicht in Deine Hand, ich war so glücklich, so stolz, so frei, so mächtig, so zuhause, immer wieder dieses: so zuhause …“ (14. September 1920, S. 262)
„Den Tod wollen, die Schmerzen aber nicht, das ist ein schlechtes Zeichen. Sonst aber kann man den Tod wagen. Man ist eben als biblische Taube ausgeschickt worden, hat nichts Grünes gefunden und schlüpft nun wieder in die dunkle Arche.“ (September 1920, S. 277)
Anfangen
Auch die Schwelle des neuen Jahres führt in eines, das vom alten meist nicht so ganz verschieden ist. Und doch ist der Anfang von etwas seit je dazu geeignet, zu verführen wie nichts sonst. Er ist das Versprechen schlechthin und der Trost gegen das Abgestandene, daß es nicht bleiben muß.
Ernst Bloch: Tübinger Einleitung in die Philosophie. Werkausg. Bd.13, Frankfurt 1983, S. 357
Könnte man debütieren wie Eva: in einen Apfel zum ersten Mal und mit eigenen Zähnen beißen.
Stanislaw Jerzy Lec: Sämtliche unfrisierte Gedanken, hg.v. Karl Dedecius, München 1982, S. 368
Die einzige Freude auf der Welt ist: anfangen. Es ist schön zu leben, weil leben anfangen ist, immer, in jedem Augenblick. Wenn dieses Gefühl fehlt – Gefängnis, Krankheit, Gewohnheit, Dummheit –, möchte man sterben.
Cesare Pavese: Das Handwerk des Lebens, Tagebuch vom 23. Nov. 1937, Fischer TB 9282, S. 69
Migration
… Gastfreundschaft kann sich … nur über die Anerkennung der Tatsache einstellen, dass wir im planetarischen Exil der Globalisierung allesamt ansässige Fremde sind. (S. 307)
In der Heimat der Menschenrechte haben gefährliche Bewegungen der extremen Rechten erneut die Bühne betreten, deren politisches Programm im Fremdenhass zu gerinnen scheint: der Fremde als Sündenbock jeglichen Unbehagens. Die Gespenster von Blut und Boden, der Mythos von Autochthonie und Abstammung konnten so wiederauferstehen. (S. 308)
(Donatella di Cesare: Philosophie der Migration, Berlin: Matthes & Seitz, 2021)
Wir
Es ist schwer, sie [die Gewohnheit, „wir“ zu sagen] abzulegen, wenn man sie so lange bewahrt hat, ein ganzes Leben, in dem ich mich als ein „wir“ gefühlt hatte, wo auch immer ich gewesen war, selbst allein. Dieses „wir“ macht Mut, lässt einen durchhalten, ist eine imaginäre Begleitung und vertreibt Skrupel oder streut zumindest die Verantwortung.
(Javier Marías: Tomás Nevinson, Frankfurt am Main: S. Fischer, 2022, S. 62)
… wer werden wir an dem Tag sein, an dem unser Anstand auf die Probe gestellt wird? Werden wir es wagen, dem zu widersprechen, was alle denken, was unsere Freunde, Nachbarn und Kollegen denken, und darauf beharren, dass sie unanständig sind, während wir selbst anständig sind? Groß ist die Kraft des Wir, fast unzerreißbar seine Fesseln, und im Grunde können wir nur hoffen, dass unser Wir ein gutes Wir ist. Denn wenn das Böse kommt, dann sicher nicht in Gestalt eines »Sie«, als etwas Fremdes, das wir leicht von uns weisen können, es wird in Gestalt eines »Wir« kommen. Es wird als »das Richtige« kommen.
(Karl Ove Knausgård: Kämpfen, btb 71748, 2018 S. 900)
Zukunft
„Und eines Tages wird sich die Menschheit für die großen Werke, die sie zu ihrer Erleichterung geschaffen hat, aufgeopfert haben.“
Karl Kraus: Aphorismen, suhrkamp taschenbuch 1318 S. 70
„Die Zukunft ist schon da, sie ist nur ungleich verteilt.“
William Ford Gibson
„In gewissem Sinn ist die Welt ein Kranker, der glaubt, er müsse in Kürze gesunden oder bald sterben, und dem es nicht in den Sinn kommt, daß er kränkelnd ein hohes Alter erreichen könnte.“
Stanislaw Lew, zit. nach „Die Zeit“ 1995 Nr.32 S. 23
„Die Zukunft des Menschen steht auf dem Spiel; sie ist gesichert, sobald nur genügend Menschen sich dieser Einsicht nicht verschließen.“
Bertrand Russell: Moral und Politik, München 1972
Klimawandel
Harald Welzer: Nachruf auf mich selbst, S. Fischer Verlag 2021.
„Eine Kultur, die wie unsere ihre eigenen Voraussetzungen konsumiert, muss im Irrtum sein.“ S. 15
Sind Erderhitzung, massenhafte Flucht und Migration und Artensterben Krisen? „Nein, wir müssen lernen, dass wir es nicht mit Krisen zu tun haben, sondern mit sich entfaltenden Ereignisketten, nach denen es nicht in einen status quo ante zurückgeht.“ S. 101
„Wo an der einen Stelle der Welt der Klimawandel Anlass für Partygespräche ist, ist er an einer anderen schon eine Todesursache.“ S. 126
„Man könnte sagen, seit es den Wachstumskapitalismus gibt, befinden wir uns in einem langen Disput mit den Naturverhältnissen, aber der war 200 Jahre lang einseitig. Nur wir haben gesprochen. Seit einem halben Jahrhundert bekommen wir erstmals Antworten, und sie fallen desto lauter und deutlicher aus, je länger wir uns weigern zuzuhören.“ S. 116
Aus dem Buch von Luisa Neubauer und Bernd Ulrich: Noch haben wir die Wahl. Ein Gespräch über Freiheit, Ökologie und den Konflikt der Generationen, Stuttgart: Tropen Sachbuch 2021.
„Der ausgetrocknete Boden wird nicht eigenständig von seiner mangelnden Fruchtbarkeit berichten oder die vom Aussterben bedrohte Art von ihrer Existenzangst.“ – Luisa Neubauer (S. 58)
„Wir haben weltweit etwa 70 Milliarden Nutztiere, die wir anscheinend problemlos ernähren können, aber acht Milliarden Menschen sollen zu viel sein?“ – Bernd Ulrich (S. 200)
„…die automobile Freiheit in der Stadt bedeutet bedeutet Unfreiheit für die Kinder, die Eltern, die Radfahrer, die Kranken und die Langsamen“. – Luisa Neubauer (S. 190)
Gespräch von Jagoda Marinic und Bernd Ulrich auf hr2
Darin sagt Bernd Ulrich:
„Wir haben eine große Krise im Mensch-Natur-Verhältnis: sie ist existenziell, sie ist gefährlich, sie ist nicht später, sondern jetzt, sie ist nicht woanders, sondern überall, sie ist sinnlich, sie ist telegen, sie erzeugt ständig Ereignisse, die Mittel zur Linderung dieser Krise liegen alle vor, wenn man sie anwenden würde, wären die Veränderungsschmerzen, die damit verbunden wären, noch – wenn man jetzt damit anfängt – in einem überschaubaren Maße. Das ist das, was wir haben. Und trotzdem tut man nicht das, was so offensichtlich ist und relativ noch leicht zu machen. Eine Gesellschaft muss ja unfassbar viel tun, um diesen Widerspruch auszuhalten. Das heißt, wir müssen eine gigantische Verdrängungskultur in uns tragen, austragen, mit uns tragen, in unseren Gesprächen, in unserer Politik, damit dieser Widerspruch überhaupt möglich ist.“
Ähnlich in der ZEIT:
„Die Krise im Mensch-Natur-Verhältnis ist dramatisch und existenziell, sie ist nicht später, sondern jetzt, sie ist nicht woanders, sondern überall, sie beeinflusst alle Bereiche des menschlichen Lebens, sie ist sinnlich, sie ist telegen, sie ist interessant und literabel; zugleich liegen alle kulturellen und technischen Mittel zur Linderung der Krise in greifbarer Nähe; und würde man sie rasch und durchgreifend anwenden, dann hielten sich sogar die unvermeidbaren Veränderungsschmerzen in Grenzen; eine postdestruktive Welt könnte sehr lebenswert sein.“ Bernd Ulrich DIE ZEIT 43/2021
Krieg und Klima
Switlana Krakowska, Ukrainische Klimawissenschaftlerin, Mitglied der IPCC-Arbeitsgruppe II (IPCC-Sachstandsbericht AR6)
„Wir werden in der Ukraine nicht kapitulieren. Und wir hoffen, die Welt wird nicht vor der Aufgabe kapitulieren, eine klimaresiliente Zukunft zu schaffen.
(zitiert nach Naomi Klein: Toxische Nostalgie. Putin, Trump und der brennende Planet, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 4/22, S. 114–112, S. 112)
Der Tag, an dem …
„Der Lauf der Zeit kann in jedem Moment einen Sturm entfachen, ihn zusammenballen, auch wenn anfangs kein noch so winziges Wölkchen am Horizont zu sehen war. Man weiß nicht, was die Zeit mit ihren feinen Schichten, die sich untrennbar übereinanderlegen, mit uns anstellen, in was sie uns verwandeln kann. Verschwiegen schreitet sie voran, Tag für Tag, Stunde für Stunde, Schritt für Schritt, und verspritzt unmerklich ihr Gift bei ihrer heimlichen Arbeit, die so taktvoll und vorsichtig ist, dass wir niemals einen Stoß spüren, nie einen Schreck bekommen. Morgen für Morgen erscheint sie mit beruhigender, unveränderlicher Miene und beschwichtigt uns mit dem Gegenteil dessen, was geschieht: Alles ist gut, nichts wandelt sich, alles ist wie gestern – das Gleichgewicht der Kräfte –, nichts ist gewonnen, nichts verloren, unser Gesicht ist dasselbe und auch unser Haar und unsere Figur, wer uns hasste, hasst uns noch, wer uns liebte, liebt uns noch. In Wirklichkeit geschieht das Umgekehrte, nur lässt sie es uns mit ihren verräterischen Minuten, ihren tückischen Sekunden nicht merken, bis der befremdliche, unerdenkliche Tag kommt, an dem nichts mehr ist, wie es war […].“ (Javier Marías: Die sterblich Verliebten, Frankfurt 2012 S.332f)
Zitate
„Jeden Tag seines Lebens eine feine, kleine Bemerkung einzufangen – wäre schon genug für ein ganzes Leben.“ – Christian Morgenstern
„Von der Mehrzahl der Werke bleiben nur die Zitate übrig. Ist es dann nicht besser, von Anfang an nur die Zitate aufzuschreiben?“ Stanislaw Jerzy Lec: Sämtliche unfrisierte Gedanken, hg.v. Karl Dedecius, München 1982, S.193
„Traue keinem Zitat, das du nicht selber aus dem Zusammenhang gerissen hast.“ – Johannes Rau, zitiert im Handelsblatt vom 07.02.2006
Wahrheit
„Wiewohl ich nämlich den heiligen Hieronymus wie einen Engel verehre und Lyra wie einen Meister achte, bete ich dennoch die Wahrheit als Gott an.“
Quamquam enim Hieronymum sanctum veneror ut angelum, et Lyram colo ut magistrum, tamen adoro veritatem ut deum.
Johannes Reuchlin, zit. nach Max Brod: Johannes Reuchlin und sein Kampf, Wiesbaden: Fourier Verlag, 1988, S. 73.
„‘Es gibt keine Wahrheit’ – sagt diese manchmal selbst. Aus Vorsicht.“
Stanislaw Jerzy Lec: Sämtliche unfrisierte Gedanken, hg.v. Karl Dedecius, München 1982, S. 113
„Nichts ist weniger sicher, als daß die Wahrheit geliebt werden will, geliebt werden kann, geliebt werden darf.“
Hans Blumenberg
Kritik der Zeit
Zitate von Walther Rathenau (1867–1922)
„Der Mensch aber begehrt Glauben und Werte. Er fühlt, daß er Unersetzliches besessen hat; nun trachtet er das Verlorene mit List wiederzugewinnen und pflanzt kleine Heiligtümer in seine mechanisierte Welt, wie man Dachgärten auf Fabrikgebäuden anlegt. Aus dem Inventar der Zeiten wird hier ein Naturkult hervorgesucht, dort ein Aberglaube, ein Gemeinschaftsleben, eine künstliche Naivität, eine falsche Heiterkeit, ein Kraftideal, eine Zukunftskunst, ein gereinigtes Christentum, eine Altertümelei, eine Stilisierung. Halb gläubig, halb verlogen wird eine Zeitlang die Andacht verrichtet, bis Mode und Langeweile den Götzen töten.“ (Zur Kritik der Zeit, 1912 S.93, 10. Aufl. Berlin 1917 S.137f)
„Rätselhaft ist der abstrakte Ehrgeiz deshalb, weil alle Bewunderung der Maske gilt, und von der Maske zum Träger kein inneres Band der Identität führt.“ (Zur Kritik der Zeit, 1912 S.74, 10. Aufl. Berlin 1917, S.102)
„Der Geist, nachzitternd von den Erregungen des Tages, verlangt in Bewegung zu verharren und einen neuen Wettlauf der Eindrücke zu erleben, nur daß diese Eindrücke brennender und ätzender sein sollen als die überstandenen. In Worte und Töne sich zu versenken, ist ihm unmöglich, weil die Gedankenflucht des Schlaflosen ihn durchfiebert. Gleichzeitig pochen die gequälten, unterdrückten Sinne an ihre Tore und verlangen Berauschung. So werden die Freuden der Natur und Kunst mit Hohn ausgeschlagen, und es entstehen Vergnügungen sensationeller Art, hastig, banal, prunkhaft, unwahr und vergiftet. Diese Freuden grenzen an Verzweiflung […]. Ein Sinnbild entarteter Naturbetrachtung ist die Kilometerjagd des Automobils […].“ (Zur Kritik der Zeit, 1912 S.69, 10. Aufl. Berlin 1917 S.94)
Peter Sloterdijk: „Jedenfalls ist es in der deutschen Politik seit Walther Rathenau nicht wieder vorgekommen, daß politischer Verstand, ästhetisches Wahrnehmungsvermögen, soziologische Analysefähigkeit und philosophische Reflexion sich in einem an hoher Stelle Verantwortlichen vereinigt haben.“ (Eurotaoismus. Zur Kritik der politischen Kinetik, edition suhrkamp NF Bd.450 S.218f)
Dummheit
Dietrich Bonhoeffer in „Widerstand und Ergebung“ (Brief und Aufzeichnungen aus der Haft)
„Dummheit ist ein gefährlicherer Feind des Guten als Bosheit. Gegen das Böse läßt sich protestieren, es läßt sich bloßstellen. es läßt sich notfalls mit Gewalt verhindern, das Böse trägt immer den Keim der Selbstzersetzung in sich, indem es mindestens ein Unbehagen im Menschen zurückläßt. Gegen die Dummheit sind wir wehrlos. Weder mit Protesten noch durch Gewalt läßt sich hier etwas ausrichten; Gründe verfangen nicht; Tatsachen, die dem eigenen Vorurteil widersprechen, brauchen einfach nicht geglaubt zu werden – in solchen Fällen wird der Dumme sogar kritisch -, und wenn sie unausweichlich sind, können sie einfach als nichtssagende Einzelfälle beiseitegeschoben werden.“
Anläßlich bestimmter Situationen „gewinnt man weniger den Eindruck, daß die Dummheit ein angeborener Defekt ist, als daß unter bestimmten Umständen die Menschen dumm gemacht werden bzw. sich dumm machen lassen. Wir beobachten weiterhin, daß abgeschlossen und einsam lebende Menschen diesen Defekt seltener zeigen als zur Gesellung neigende oder verurteilte Menschen und Menschengruppen. So scheint Dummheit vielleicht weniger ein psychologisches als ein soziologisches Problem zu sein. Sie ist eine besondere Form der Einwirkung geschichtlicher Umstände auf den Menschen, eine psychologische Begleiterscheinung bestimmter äußerer Verhältnisse. Bei genauerem Zusehen zeigt sich, dass jede starke äußere Machtentfaltung, sei sie politischer oder religiöser Art, einen großen Teil der Menschen mit Dummheit schlägt.“
„Daß der Dumme oft bockig ist, darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß er nicht selbständig ist. Man spürt es geradezu im Gespräch mit ihm, daß man es garnicht mit ihm selbst, mit ihm persönlich, sondern mit über ihn mächtig gewordenen Schlagworten, Parolen etc. zu tun hat. Er ist in einem Banne, er ist verblendet, er ist in seinem Wesen mißbraucht, mißhandelt. So zum willenlosen Instrument geworden, wird der Dumme auch zu allem Bösen fähig sein und zugleich unfähig, dies als Böse zu erkennen. Hier liegt die Gefahr des diabolischen Mißbrauches, dadurch werden Menschen für immer zugrunde gerichtet werden können. […]
Es wird wirklich darauf ankommen, ob Machthaber sich mehr von der Dummheit oder von der inneren Selbständigkeit und Klugheit der Menschen versprechen.“
(Dietrich Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung, Kaiser-Taschenbücher 100, Gütersloh 16. Aufl. 1997, S. 15–17, an der Wende zum Jahr 1943)
Leben
von Fjodor M. Dostojewski
„Und das Leben mehr lieben als den Sinn des Lebens?“, fragt Iwan seinen Bruder Aljoscha. „Unbedingt so …“, antwortet dieser.
Dostojewski: Die Brüder Karamasoff, München 1952, übers. von E. K. Rahsin S. 374.
„Wie, wenn ich nicht zu sterben brauchte! Wenn ich ins Leben zurückkehren könnte – welch eine Unendlichkeit täte sich da vor mir auf! Und alles das wäre mein! Ich würde aus jeder Minute eine ganze Ewigkeit machen, ich würde nichts verlieren, würde jeden Augenblick zählen, keinen einzigen nutzlos vergeuden! Er sagte, dieser Gedanke habe ihn zuletzt in eine derartige Wut gebracht, daß er schließlich wünschte, man möchte ihn doch schneller totschießen.“
Der Fürst in Dostojewskis Roman Der Idiot, München (dtv 2011), 1976, übertragen v. Arthur Luther, S. 82.
Ich habe mir einen interessanten Dialog auf dem Markt notiert: «Wir dachten, du wärst schon gestorben!»
«Sehe ich so aus, als ob ich noch lebe?»
Polina Scherebzowa: Polinas Tagebuch, Eintrag vom 18. März 1999 [Markt von Grosny], Berlin 2015 S. 226
Manche leben mit einer so erstaunlichen Routine, daß es schwer fällt zu glauben, sie lebten zum ersten Male.
Stanislaw Jerzy Lec: Sämtliche unfrisierte Gedanken, hg.v. Karl Dedecius, München 1982, a.O. S. 99
„jeder [muss] im Leben den Knochen finden […], an dem er nagen möchte“
Catalin Dorian Florescu: Der blinde Masseur, Piper 5483, München 2009, S. 222
Aus dem Buch von Juli Zeh: Über Menschen
Sie machen eine Party, um die einzige Wahrheit zu feiern, die es gibt: dass sie alle hier und jetzt gemeinsam auf diesem Planeten sind. Als Existenzgemeinschaft. Sitzend oder stehend, schweigend oder redend, trinkend und rauchend, während die Erde sich dreht, die Sonne sinkt und das Feuer herunterbrennt. (S.355)
Auch Langeweile und schlechte Laune können ein Stück Heimat sein. (S. 400)
Aber Gote ist einfach nicht verschwunden, ungeachtet der miserablen Übereinstimmungswerte. Er blieb, wo er war. Irgendwann begriff Dora, dass es mit diesem Da-Sein und Da-Bleiben etwas auf sich hat. Man kann es teilen. Gotes Dasein hat sich ihr mitgeteilt. Er hat es mit ihr geteilt. Am Ende haben sie gemeinsam existiert. Verbunden durch die Mauer, die sie trennte. (S. 404)
Juli Zeh: Über Menschen, München: Luchterhand, 2021
Zeit
„Gründlich lehrt jeden alles, wird sie alt, die Zeit.“ – Aischylos: Der gefesselte Prometheus 982, in Tragödien und Fragmente, hg. u. übers. v. Oskar Werner, Tübingen 3.1980 S. 471
„Gewinne dich dir selbst und die Zeit, die dir bis jetzt entweder weggenommen oder entwendet wurde oder einfach verlorenging, halte zusammen und behüte.“ – Seneca, 1. Brief an Lucilius
„Das Leben nimmt den Menschen sehr viel Zeit weg.“ – Stanislaw Jerzy Lec: Sämtliche unfrisierte Gedanken, hg.v. Karl Dedecius, München 1982, S. 25
Lesen
„Beim Lesen wird die Freundschaft plötzlich wieder zu ihrer ursprünglichen Reinheit zurückgeführt. Mit Büchern gibt es keine Liebenswürdigkeiten. Wenn wir den Abend mit diesen Freunden verbringen, so deshalb, weil wir wirklich Lust dazu haben. Bei ihnen wenigstens tut es uns oft leid, sie verlassen zu müssen. Und wenn wir sie verlassen haben, gibt es keinen jener Gedanken, die die Freundschaft verderben: Was haben sie über uns gedacht? – Haben wir es nicht an Takt fehlen lassen? – Haben wir ihnen gefallen? – und die Angst, um eines anderen willen vergessen zu werden. All diese Erregungen der Freundschaft ersterben an der Schwelle der reinen und ruhigen Freundschaft, die das Lesen ist.“ (Marcel Proust: Tage des Lesens, Frankfurt 1995 S.45)
Bücher
„Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? Damit es uns glücklich macht, wie Du schreibst? Mein Gott, glücklich wären wir eben auch, wenn wir keine Bücher hätten, und solche Bücher, die uns glücklich machen, könnten wir zur Not selbst schreiben. Wir brauchen aber die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in Wälder vorstoßen würden, von allen Menschen weg, wie ein Selbstmord, ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“ (Franz Kafka: Brief im Januar 1904 an Oskar Pollak, Kunsthistoriker und Jugendfreund Kafkas)
„Bücher verlangsamen alles.“ (Neil Postman, Das Verschwinden der Kindheit, Fischer TB 3855, Frankfurt 1987, S. 134)
„Meine Wohnung ist voll von Büchern, die mir erlauben, zwischen ihnen zu leben.“ (Cees Nooteboom: Die folgende Geschichte, st 3405, S. 14)
Die Welt
Von Stanislaw Jerzy Lec
„Ich weiß nicht, wer die Welt geschaffen hat,
ich weiß, wer sie vernichten wird.“
„Die Welt bevölkern ist leicht.
Sie zu entvölkern ist leicht.
Also, was ist schwer?“
„Versprecht euch nicht zu viel vom Ende der Welt.“
Stanislaw Jerzy Lec: Sämtliche unfrisierte Gedanken, hg.v. Karl Dedecius, München 1982, S. 286 – S. 37 – S. 340