Tierschutz als Konsequenz moralischer Intuitionen?
Wenn wir mit Jonathan Haidt davon ausgehen, dass Menschen über sechs moralische Sensorien, Dispositionen, Intuitionen verfügen, dann kann man die aufschlussreiche Überlegung anstellen, ob diese nicht auch zum Tierschutz motivieren kann.
- Mitgefühl nicht nur für leidende Menschen, sondern auch für leidenden Tiere
- Gerechtigkeitsempfinden auch gegenüber Tieren
- Gemeinschafts- und Loyalitätsempfinden ihnen gegenüber
- Respekt für das Freiheitsbedürfnis auch von Tieren
- Ein Sinn für Heiligkeit, sei es für bestimmte Tiere, sei es das Leben der Tiere
- Und schließlich kann die Wertschätzung der Fähigkeiten der Tiere eine Motivation für ihren Schutz sein, wie auch das menschliche Wissen über das Leben der Tiere als Argument für die Würdigung des tierlichen Lebens dienen kann.
Tatsächlich können wir beobachten, dass Argumente für den Tierschutz und das Tierwohl sich auf alle diese menschlichen Neigungen stützen können und es auch faktisch längst tun.
Mitgefühl
Im Bereich der ersten Intuition wird an das Mitgefühl appelliert, das natürlich durch das Kindchen-Schema eines Tierbabys ganz besonders angesprochen wird, aber auch durch jedes offenkundige Tierleid (das Schreien der Mutterkuh, wenn sie von ihrem Kalb getrennt wird etc.). Schwieriger ist es ein solches Mitgefühl zu empfinden, wenn Tiere aus adaptiven Ursachen gerade kein Leiden zeigen (weil sie einen Beutegreifer nicht auf sich aufmerksam machen wollen).
Diese moralische Intuition wird natürlich auch angesprochen, wenn auf die Abhängigkeit der Nutztiere und das Gebot der Fürsorge hingewiesen wird oder auch auf eine Unterlegenheit der Wildtiere angesichts der Jagdwaffen der Menschen.
Natürlich kommt hier der Frage des Schmerzempfindens von Tieren argumentativ und emotional eine zentrale Rolle zu.
Ein Problem liegt in der Wirkungsweise dieser moralischen Intuition. Sie setzt eine Nähe, eine Kenntnis voraus, damit sie sich entfalten kann. Außerdem kämpft sie mit dem gleichen Problem wie es auch in Situationen hilfebedürftiger Menschen auftritt, dass nämlich der sogenannte Bystander-Effekt bzw. eine Diffusion der Verantwortung eintritt: Wenn alle anderen nicht einschreiten, scheint es irgendwie in Ordnung zu sein. Zudem würde man eine besondere Selbstexposition (wie es Vegetarier taten und heute vielleicht Veganer tun) riskieren, wenn man einschreitet bzw. sich verweigert.
Fairness im Geben und Nehmen
An die zweite Intuition wird appelliert, wenn ein faires Geben und Nehmen etwa im Zusammenleben mit Heim- und Nutztieren gefordert wird. So spricht etwa die Argumentationsfigur „wir geben den Tieren ein gutes Leben, sie geben uns Nahrung“ diese Intuition an. Aber auch die Verpflichtung, treuen oder fleißigen Tieren, dankbar zu sein, besitzt aufgrund dieser moralischen Intuition von vornherein Plausibilität.
Albert Schweitzer argumentiert mit derartiger Gegenseitigkeit im Blick auf Versuchstiere und verallgemeinert es auf unser Haltung gegenüber Tieren überhaupt:
Gerade dadurch, daß das Tier als Versuchstier in seinem Schmerz so Wertvolles für den leidenden Menschen erworben hat, ist ein neues, einzigartiges Solidaritätsverhältnis zwischen ihm und uns geschaffen worden. … Indem ich einem Insekt aus seiner Not helfe, tue ich nichts anderes, als daß ich versuche, etwas von der immer neuen Schuld der Menschen an dieser Kreatur abzutragen.
Kulturphilosophie, Beck’sche Reihe 1150, 1996, 1. Auflage 1923, S. 317.
Wirgefühl
Die dritte Intuition setzt ein Wir voraus, das uns zur Solidarität motiviert. Und tatsächlich können Tiere in dieses „Wirgefühl“ mit einbezogen sein, als treue Gefährten, als Teil der Familie oder auch – etwas abstrakter – als Mitgeschöpfe oder auch als Mit-Leidens-Fähige. So verweist Christian Adam Dann in seiner Schrift von 1822 auf Röm. 8, 20, wo vom Leiden der Kreatur die Rede ist mit den Worten:
„Uebrigens vermehren doch immer auch diese den Thieren verursachten Plagen die große Summe der Leiden, denen diese unsre armen Mitgeschöpfe wider ihren Willen (Röm. 8,20) und gegen ihre ursprüngliche Bestimmung unterworfen sind.“[1].
Damit verbindet Dann die beiden Aspekte des Mitgefühls und der Gemeinsamkeit der Leidensfähigkeit.
Peter Singer hat mit der Konzeption des „Expanding Circle“ Tiere in der Sphäre des „Wir“ zu verankern versucht.[2]
Freiheit
Animal liberation, ein Buchtitel von Peter Singer aus dem Jahre 1975[3] spricht die vierte moralische Intuition an. Wir ertragen nur schwer, wenn Tiere durch ihre Gefangenschaft in ihren artgemäßen Lebensformen eingeschränkt werden. Wir wünschen Tieren ihre natürliche Freiheit. Martha Nussbaum hat diese Intuition in ihrem capability approach (meist mit „Fähigkeitenansatz“ übersetzt) konkretisiert: Für sie ist es evident, dass es einen „Gegensatz [gibt] zwischen einem blühenden und einem eingeschränkten Leben“ von Tieren, und es ist ein hoher ethischer Wert, die freie Entfaltung von Tieren nicht zu behindern. Sie streben nach Bewegung, sozialem Leben (in verschiedenen Graden) und nach der Realisierung ihrer arttypischen Fähigkeiten.[4]
Heiligkeit
Dass Tiere als heilig empfunden wurden, fünfte Intuition, reicht weit in unsere Stammesgeschichte zurück. Die Tatsache, dass Albert Schweitzers Formulierung von der Ehrfurcht vor dem Leben eine so enorme Wirkungsgeschichte hat, dürfte damit zu tun haben, dass sie an Intuitionen anknüpfen kann. Wir sprechen in unserem Kulturkreis meist von der „Ästhetik“ einer wilden unberührten Natur, von Wundern der Natur, vermeiden dagegen den Begriff der Heiligkeit.
Wertschätzung für „Wissen“
Kann man schließlich von einem Expertentum von Tieren sprechen, von dem wir lernen können? Tatsächlich erforscht die Wissenschaft die Tier- und Pflanzenwelt und Ökosysteme und diese Beobachtungen und Erkenntnisse faszinieren die meisten Menschen. Darüber hinaus überträgt die Bionik Problemlösungen der Natur auf das Gebiet der Technologie.
Die Wirksamkeit der moralisch-sozialen Intuitionen auch für unser Verhalten Tieren gegenüber stützt die Plausibilität ihrer Existenz und Wirksamkeit: Immer sind Menschen ansprechbar auf den genannten sechs Kanälen.
[1] Dann et al.: Wider die Tierquälerei: Frühe Aufrufe zum Tierschutz aus dem württembergischen Pietismus, Leipzig 2002, S. 21. Röm. 8,22 spricht davon, dass die ganze Kreatur „mit uns seufzt und sich ängstet“.
[2] Peter Singer: The expanding circle. Ethics, evolution and moral progress, 2011.
[3] Peter Singer: Animal Liberation. A new ethics for our treatment of animals, New York 1975.
[4] Martha Nussbaum: Gerechtigkeit für Tiere, Darmstadt: wbgTheiss 2023, S. 27.
verborgen
Die moralischen Intuitionen im Zusammenspiel
Ein Gedicht von Peter Rosegger spricht mehrere moralische Gefühle an: Es beginnt gleich mit dem Aspekt der heiligen Pflicht, es folgt der Gedanke der Gegenseitigkeit (sie weihen dir ihr Dasein – du musst ein gütiger Schutzherr sein), sodann „argumentiert“ Rosegger mit der Gemeinsamkeit (wie du) und lässt die erste Strophe gipfeln im (Freiheits-)Recht zu leben, wobei die Wiederholungen „wie du“ immer wieder auf die Gemeinsamkeit Bezug nehmen. Die folgenden Verse appellieren erneut an das Mitgefühl und kulminieren in den Schlusszeilen: o, sieh sein flehendes Auge an, es blickt eine verwunschene Seele dich an! Sieht man eine „verwunschene Seele“, ist es tabu, böse und gefährlich, ihr ein Leid zu tun.
Es ist als Mensch deine heilige Pflicht,
den Tieren, die dir ihr Dasein weihn,
ein gütiger, milder Schutzherr zu sein.
Das Tier hat ein fühlendes Herz wie du,
das Tier hat Freude und Schmerz wie du,
das Tier hat ein Recht zu leben wie du.Nicht viel sind dir, Mensch, der Tage gegeben,
doch kürzer noch ist des Tieres Leben.
Und muß es dein armer Sklave schon sein,
in dunkler Nacht wie im Sonnenschein,
und opfert es dir seine Kraft und Ruh,
und wendet dir all seine Neigung zu,
oder flieht es dich angstvoll, weil es ihm scheint,
du seiest sein allergrößter Feind,
o, sei sein Schutzherr!Es kann nicht klagen den Schmerz,
kann dir seinen Dank nicht sagen,
o, sieh sein flehendes Auge an,
es blickt eine verwunschene Seele dich an!