Wäh­rend die aus­glei­chen­de Gerech­tig­keit als Intui­ti­on zwi­schen zwei Per­so­nen (oder Grup­pen) wirk­sam ist, kommt bei der Ver­tei­lungs­ge­rech­tig­keit eine Auto­ri­tät, Macht, Orga­ni­sa­ti­on etc. ins Spiel, die die Ver­tei­lung vor­nimmt. Auch bei die­ser Form von Gerech­tig­keit gibt es die star­ke Intui­ti­on, dass die Ver­tei­lung auf Gleich­be­hand­lung beru­hen soll­te. Aller­dings kön­nen sich hier zwei wei­te­re Gesichts­punk­te, Kri­te­ri­en gel­tend machen: Leis­tung und Bedürf­tig­keit.

II Ver­tei­lungs­ge­rech­tig­keit – Dis­tri­bu­ti­ve Gerechtigkeit

  1. Für die Ori­en­tie­rung an Gleich­heit spricht unse­re Intui­ti­on, dass wir im bila­te­ra­len Geben und Neh­men auch Gleich­ge­wicht anstre­ben. Dar­über hin­aus wird in ursprüng­li­chen Kul­tu­ren das Wir­ge­fühl stark gewe­sen sein und das Soli­da­ri­täts­emp­fin­den spricht eben­falls für Gleichbehandlung.
  2. Für die Ori­en­tie­rung an Leis­tung spricht zum einen auch eine Art Gleich­heits­ge­dan­ke: Mühen und Erfolg ent­spre­chen sich oft und der Schluss liegt nahe, dass sie sich auch ent­spre­chen soll­ten. Zum ande­ren steht es bis zu einem gewis­sen Grad jedem frei, von mehr Mühe auch zu pro­fi­tie­ren. Frei­heit und Auto­no­mie wären hier maß­geb­li­che Werte.
  3. Für die Ori­en­tie­rung an der Bedürf­tig­keit schließ­lich spricht, dass Mit­ge­fühl zum Trös­ten und zur Hil­fe­leis­tung moti­viert, z.B. dem Gene­sen­den kräf­ti­gen­de Nah­rung zukom­men zu las­sen. Auch hier ist der Gleich­ge­wichts­ge­dan­ke invol­viert: Das Lei­den soll „kom­pen­siert“ werden.

Das Werk von Amar­tya Sen durch­zieht der Leit­ge­dan­ke, dass wir in ethisch-mora­li­schen Fra­gen oft nicht zu ein­deu­ti­gen Ant­wor­ten kom­men und doch oft sehr klar sagen kön­nen, was schrei­end unge­recht und was deut­lich gerech­ter ist.

Dafür, dass es ver­schie­de­ne gut begrün­de­te Ansprü­che bei Ver­tei­lungs­pro­zes­sen geben kann, führt Sen als Bei­spiel drei Kin­der an, die sich um eine Flö­te streiten.[1] Anna sagt, dass sie unbe­strit­ten die ein­zi­ge ist, die sie spie­len kann. Schon möch­te man ihr den Zuschlag geben, da wen­det Bob ein, er habe über­haupt kein ande­res Spiel­zeug und man ist von Mit­leid erfüllt, wor­auf­hin Car­la sagt, dass sie aber die Flö­te in müh­sa­mer Arbeit ange­fer­tigt hat. Zwei der Kin­der kön­nen also eine beson­de­re Leis­tung gel­tend machen, wäh­rend Bob beson­ders bedürf­tig erscheint. Natür­lich stellt sich die Fra­ge, ob Anna nicht Bob und Car­la Flö­te spie­len bei­brin­gen kann und Car­la zwei wei­te­re Flö­ten fer­tigt etc., so dass auch dem Prin­zip der Gleich­heit Rech­nung getra­gen wird. Ent­schei­dend ist, dass alle drei Kri­te­ri­en stark sind. Es braucht Abwä­gungs­pro­zes­se, um einen erträg­li­chen Kom­pro­miss zu fin­den oder auch krea­ti­ve Ideen, um alle zufrie­den­zu­stel­len oder gar sich über die ent­ste­hen­den Gemein­sam­kei­ten freu­en zu können.

Als 2. Ergeb­nis hal­ten wir fest: Gerecht geht es zu, wenn bei einer Ver­tei­lung die Kri­te­ri­en der Gleich­heit, der Leis­tung und der Bedürf­tig­keit zu ihrem (rela­ti­ven) Recht kommen.

[1] Vgl. Amar­tya Sen: The idea of jus­ti­ce, Lon­don 2010, S.13, 201, 297 und 396. Das Flö­ten­bei­spiel, das Sen in sei­nem Buch immer wie­der auf­greift, wird hier leicht ver­än­dert wiedergegeben.

Bar­to­lo­mé Esté­ban Murillo:
Buben beim Wür­fel­spiel, ca. 1675/80
Alte Pina­ko­thek, München