Gegenwärtig schockieren uns die Berichte und Bilder von brutaler Gewalt. Zuerst waren es die Grausamkeiten u.a. von Butscha in der Ukraine, dann der brutalst mögliche Angriff von Hamas-Kämpfern am 7. Oktober 2023 mit vielen israelischen Opfern und nun die Bilder von den Verletzten und Sterbenden im Gaza-Streifen. Immer sind es die Grausamkeiten, die bei Bodenkämpfen geschehen, die uns besonders fassungslos machen und Ekel hervorrufen, aber auch das distanzierte Töten aus der Luft empört und macht wütend, wenn das Ziel und das Maß nicht mehr erkennbar sind.
Wie ist solche Grausamkeit möglich?
Vielleicht sind unter den Soldaten und Kämpfern psychisch gestörte Sadisten, aber das kann zur Erklärung nicht ausreichen. Es gibt offenbar die Taktik »Wir müssen grausam sein, sonst erreichen wir nichts« wie ein 21-jähriger Veteran des Tschetschenien-Kriegs einer Reporterin der L.A. Times damals sagte. Die Los Angeles Times sprach mit russischen Kriegsheimkehrern. Alle beriefen sich auf eine Kultur der absoluten Straflosigkeit innerhalb der Streitkräfte und ein Soldatenbild, bei dem Grausamkeit zum Heldenstatus gehört.[1] Diese Verbindung von Grausamkeit und Kalkül bzw. Heldenstatus dürfte die Soldaten nicht vor posttraumatischen Belastungsstörungen bewahren wie sie US-Soldaten ebenso wie kriegerische Nomaden zeigen bzw. erleiden.
Die noch unerfahrenen Soldaten werden auch nicht mit den Grausamkeiten vorangehen, sie haben, wie viele Befunde zeigen, sehr wohl eine Hemmung, auf Menschen zu schießen. Deshalb ist die Ausbildung bestrebt, diese Hemmung abzutrainieren, indem nicht auf Zielscheiben, sondern auf möglichst lebensecht wirkende Attrappen geschossen werden muss. Vor allem aber wird alles versucht, um die „Anderen“ als „Untermenschen, Ungeziefer, Leute, die die Welt vernichten wollen“ darzustellen, wie der Traumaforscher Thomas Elbert erklärt[2]. „Die russische Führung sagt, dass die Ukraine an einem Geschwür aus Nazis erstickt, das man zerschlagen muss. Dadurch fühlen sich die Soldaten moralisch sogar in der Pflicht zu töten.“ Elbert nimmt an: „Um solche Gewalt in eine Stadt zu tragen, rekrutiert die russische Führung Kämpfer aus dem Tschetschenienkrieg oder solche, die schon in Syrien im Einsatz waren. Bei denen ist die Hemmschwelle schon längst weg.“
Wie steht es um die natürliche Gewaltbereitschaft des Menschen?
Die Frage ist schwer zu beantworten, weil die Häufigkeit, das Ausmaß und die Formen der Gewalt wie wir sehen stark kulturell und auch situativ bedingt sind.
Steven Pinker hat ein monumentales Werk zur Kulturgeschichte der Gewalt geschrieben[3]. Er liefert akribisch Belege für eine kulturell bedingte Abnahme von Grausamkeit, Krieg und Gewalt. Pinker weiß, wie sehr er damit der vorherrschenden Intuition widerspricht; so beeilt er sich gleich drei Einschränkungen zu machen: »Natürlich war es kein stetiger Rückgang; die Gewalt ist nicht auf Null zurückgegangen; und es gibt keine Garantie, dass es so weitergeht.«
Vor allem die dritte Einschränkung ist wichtig. Denn, wenn man auch bislang noch nicht von Klimakriegen sprechen kann, so ist doch erkennbar, dass sich Konflikte um Wasser und andere Ressourcen weiter zuspitzen. Jared Diamond hat in seinem Buch »Kollaps«[4] in einer überraschenden Analyse zu zeigen versucht, dass schon das Morden in Ruanda durch Überbevölkerung und den Kampf um Ressourcen mit befeuert wurde.
So gut begründet Pinkers statistische Nachzeichnungen über die Jahrhunderte sind, so verfehlt könnte die anthropologische Deutung sein, die er vermittelt. Bei Pinker erscheint die Kultur als Weg aus der Gewalt. Der von Natur aus gewalttätige Mensch wird durch die Kultur zunehmend zivilisiert. Pinker verlängert nämlich die höhere Gewaltrate der Vergangenheit in die Zeit vor der Sesshaftwerdung des Menschen hinein. Er stützt sich dabei auf die These, dass Jäger-Sammler-Kulturen tendenziell in kriegerische Konflikte mit Nachbarn verwickelt seien.
Was wissen wir über die Gewalt in Sammlerinnen-Jäger-Kulturen?
Das ist deshalb eine interessante und wichtige Frage, weil aus evolutionspsychologischer Sicht diese Lebensform uns über lange Zeit hinweg geprägt hat und noch prägt.
- Über die längste Zeit der Ausbreitung von Homo sapiens besaßen die Sammlerinnen-Jäger-Gruppen kein festes Territorium, das sie hätten verteidigen können oder müssen, was nicht ausschließt, dass es zu Streitigkeiten bei Begegnungen kommen konnte.
- Sammlerinnen-Jäger-Gruppen haben Verwandtschaftsbeziehungen zu den benachbarten Gruppen, zu denen es auch Fluktuation gibt. Das wirkt kriegerischen Konflikten entgegen.
- Da Sammlerinnen-Jäger-Gruppen egalitär sind, hat niemand die Autorität, andere zum Kampf zu nötigen.
- Es gibt keine Vorräte, Herden oder Schätze, die zu verteidigen wären oder zu einem Kampf motivieren würden.
- Denkbar wäre, dass Frauen als Raubgut betrachtet werden konnten, doch zeigen die Zahlen, die Fry und Söderberg erhoben haben, dass es in der Regel nur Gewalttätigkeiten und Morde wegen einer Frau gibt, aber keine gemeinschaftlichen Überfälle.
Fry und Söderberg haben die zuverlässigen Berichte aus 21 „mobile forager band societies“ (MFBS) zusammengetragen[5] und alle in ihnen dokumentierten 148 Fälle von Mord bzw. Tötung betrachtet. Danach dominieren interpersonale Tötungsfälle mit 50% (Rache an einem Mörder, Streit wegen einer Frau, Mann tötet Ehefrau, diverse Streitfälle) über die Fälle von Aggression zwischen Gruppen mit 33,8% (obwohl man diesbezüglich mehr Todesfälle pro Ereignis annehmen sollte). Hier dominieren diverse Streitigkeiten und Rachefehden zwischen Clans.
Harald Meller, der mit Michael Schefzik den voluminösen Begleitband zu einer Sonderausstellung in Halle zum Thema (und mit dem Titel) Krieg, herausgegeben hat, fasst die Forschungen so zusammen:
„Für die Frage nach dem Ursprung des Krieges müssen wir also nochmals in das Paläolithikum und Mesolithikum zurückblicken. Aufgrund der geringen Bevölkerungsdichte, des reichen Ressourcenangebotes, des selteneren Aufeinandertreffens unterschiedlicher Gruppen sowie fehlender Besitz- und Lagerungsverhältnisse, vor allem aber auch aufgrund der fehlenden archäologischen Nachweise können wir zum jetzigen Zeitpunkt Krieg ausschließen. Wie archäologisch belegt, existierten aber während des gesamten Paläolithikums durchaus Mord und Totschlag zwischen einzelnen Individuen, ohne dass dabei ein Krieg ausbrach – genauso wie wir dies bei modernen Wildbeutern, die heute unter wesentlich ungünstigeren Umständen leben, beobachten …“[6]
Pinkers Darstellung der paläolithischen Gewalt vor der Sesshaftwerdung des Menschen mit Ackerbau und Viehzucht wird auch von Rutger Bregman kritisiert. Erst mit der Sesshaftwerdung (beginnend vor 12000 Jahren) konnten Einzelne Ressourcen anhäufen, diese verteidigen und zur Dominanz über andere nutzen. Das Neolithikum hätte als zweischneidige kulturelle „Errungenschaft“ uns also für Kriege allererst anfällig gemacht und uns neidischer und gewaltsamer werden bzw. erscheinen lassen als wir „von Natur aus“ sind. Sodann hätte ein Jahrhunderte währender Prozess die schlimmsten Auswüchse wieder eingedämmt.[7]
Allerdings darf man sich die Entwicklungen, die von der Sesshaftigkeit mit Landwirtschaft ausgehen, nicht zu zwangsläufig und schon gar nicht schnell vorstellen. Nach den aktuellen Berechnungen von Peter Turchin et al.[8] dauerte es durchschnittlich zwei Jahrtausende bis sich große Staaten entwickelten. Die Autoren konstatieren eine nahezu lineare Korrelation zwischen dem Anstieg der Waffentechnologie und der Kriegsintensität.
So wie die Zahl der bei Amokläufen Getöteten stark abhängig ist von der Verfügbarkeit tödlicher Waffen in den diversen Ländern, so ist die Kriegsintensität in der Globalgeschichte abhängig von der Verfügbarkeit „effektiver“ Waffen. Die Kombination von Steppenkriegern auf Pferden und Pfeil und Bogen erwies sich als besonders effektiv und die kriegerische Expansion als verführerisch einfach. Die neolithischen Bauern, die um 6000 v. Chr. die Sammlerinnen und Jäger verdrängt bzw. in den Norden Europas abgedrängt hatten, wurden ab 2900 v. Chr. von Steppenmenschen dominiert, die auf dem „Steppenhighway“, der von der Mongolei bis nach Ungarn reichte, vordrangen. Die mehrheitlich männlichen Eindringlinge (Johannes Krause schätzt 8 von 10) pflanzten sich mit den einheimischen Frauen fort, erkennbar an der seitdem vorherrschenden männlichen Y‑Chromosom-Variante „aus der Steppe“[9]. Hier ist von Gewalt und Vergewaltigungen auszugehen.
Anmerkungen
[1] So referiert es der ZEIT-Hauptartikel von Andrea Böhm und Samiha Shafy, ZEIT 15/2022: Die Entdeckung der Grausamkeit.
[2] Süddeutsche Zeitung vom 9.4.2022.
[3] Pinker, Steven: Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit, Frankfurt am Main 2011.
[4] Diamond, Jared: Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen, Frankfurt am Main 2005.
[5] Fry, Douglas P.; Söderberg, Patrik: Lethal aggression in mobile forager bands and implications for the origins of war, in: Science (New York, N.Y.) 341/6143, 2013, S. 270–273, doi:10.1126/science.1235675.
[6] Meller, Harald; Scheffzik, Michael (Hrsg.): Krieg. Eine archäologische Spurensuche. Begleitband zur Sonderausstellung im Landesmuseum für Vorgeschichte Halle (Saale), Halle (Saale) 2015, S.23.
[7] Bregman, Rutger: Im Grunde gut. Eine neue Geschichte der Menschheit, Hamburg 2020, besonders S.96–116.
[8] Turchin, Peter et al.: Disentangling the evolutionary drivers of social complexity: A comprehensive test of hypotheses, in Science Advances Vol 8, Issue 25 https://www.science.org/doi/abs/10.1126/sciadv.abn3517, S. 6.
[9] Vgl. zu dieser Steppeninvasion und ihren genetischen Spuren Krause, Johannes und Trappe, Thomas: Die Reise unserer Gene, Berlin: Ullstein, 2019, Kap. 5: Alleinstehende junge Männer bzw. Krause, Johannes und Trappe, Thomas: Hybris. Die Reise der Menschheit: Zwischen Aufbruch und Scheitern, Berlin: Ullstein 2021, Kap. 9 Steppenhighway.
Hier referiere ich eine neue Studie über Gewalt bei Nomaden in Kenia bzw. im Südsudan und die Posttraumatischen Belastungsstörungen infolge der Kämpfe.
[…] Mehr zum Thema Gewalt […]