Rache sprießt aus den Emotionen der Wut, der Kränkung und der Ohnmacht. Einem selbst oder einer nahestehenden Person hat Unrecht oder gar Gewalttat zugefügt. Man fühlt ohnmächtige Wut und sinnt auf Rache.
George Orwell erzählt von einem jungen Juden, der 1945 SS-Offiziere bewacht. Orwell hat Verständnis, dass der junge Mann, dessen ganze Familie wahrscheinlich ausgelöscht worden ist, einem SS-Offizier einen Tritt versetzt. Das Problem dabei: Dieser Scherge war nun eine jämmerliche Gestalt, schien psychisch gestört und hatte erkennbar Angst.
„So schrumpfte der Nazi-Folterknecht, den man sich immer vorgestellt hatte, die monströse Gestalt, gegen die man so viele Jahre gekämpft hatte, plötzlich zu diesem kläglichen Wicht“[1].
Orwell fragt sich, ob der junge Mann die Demütigungen, die er dem gefangenen SS-Offizier zufügte, genoss, und kommt zu dem Schluss, dass es eher war wie bei einem Jungen mit seiner ersten Zigarre oder einem Touristen in einer Gemäldegalerie, dass er sich nämlich „einzureden versuchte, dass er die Situation genoss, und sich so benahm, wie er sich das vorgenommen hatte, als er noch hilflos war.“
Diese und eine ähnliche Erfahrung habe ihm, Orwell, klargemacht,
„dass die ganze Vorstellung von Rache und Bestrafung nur ein kindischer Tagtraum ist. Genau genommen gibt es gar keine Rache. Rache ist etwas, das man sich vorstellt, solange man ohnmächtig ist und weil man ohnmächtig ist. Sobald das Gefühl der Ohnmacht vorbei ist, verschwindet auch dieser Wunsch.“[2]
Ein anderes Beispiel: Im Jahr 2020 hat ein 31-Jähriger sein Fahrzeug offenbar bewusst und geplant in die feiernde Menge eines Rosenmontagszuges gefahren. 80 Menschen wurden z.T. schwer verletzt, darunter 26 Kinder. Den Fernsehbericht über seine Verurteilung betrachte ich mit diesem Vorwissen mit heftigen aggressiven Gefühlen – und dann sehe ich einen unbeholfenen jüngeren Mann, der sein Gesicht hinter einem Aktenordner verbirgt, und meine Aggression läuft ins Leere. Ich meinte offenbar, ich würde das Böse nun leibhaftig vorgeführt bekommen, aber das war Unsinn.
Harald Welzer hat in seinem jüngsten Buch Nachruf auf mich selbst einen Gedanken von Ernst Bloch aufgegriffen. Dieser erörterte in seinem letzten Buch Experimentum Mundi[3] das Phänomen des „Widersacherischen“.
„Bloch entfaltet … einen bemerkenswerten Gedanken: Die Säkularisierung habe zwar das göttliche Prinzip verweltlicht und mit Kant in die vernunftgeleitete Verantwortungsfähigkeit des Menschen überführt, dasselbe sei aber in Bezug auf den Teufel und den Teufelsglauben unterblieben … Dieser Gedanke scheint mir spektakulär: Der Teufel ist nicht säkularisiert worden, Gott schon. Daher steht der Fortschrittsglaube der säkularisierten Gesellschaft dem Unfall, dem Unglück, der Katastrophe, dem Terroranschlag immer als einem Phänomen gegenüber, das eigentlich nicht dazugehört. Es steht seltsam quer zur fortschrittlichen Gegenwart und ruft Adjektive auf: »tragisch«, »furchtbar«, »grausam«, »feige« und so weiter.“[4]
Ich füge hinzu: Aber man möchte es nicht reflektieren, nicht seinen Ursprüngen nachforschen, als sei es tabu – so sehr wie nichts vormals Heiliges mehr tabu ist – und als würde es durch eine Ursachenanalyse in seiner Verabscheuungswürdigkeit relativiert. Welzer hatte sich mit dem Bösen schon gründlich beschäftigt. In seinem Buch Täter[5] ging er der Frage nach, wie es möglich war, dass „aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden“ konnten (so der Untertitel). Und es ist erschreckend wenig notwendig dafür, „sich in einer sozialen Situation und in einer sozialen Gruppe zu befinden, die es als notwendig und solidarisch erscheinen lässt, teilzunehmen.“[6] Entsprechendes führt der Film Doch das Böse gibt es nicht des iranischen Regisseurs Mohammad Rasoulof vor Augen.
Die psychische und soziale Resilienz fördernde Säkularisierung des Bösen könnte bedeuten:
- eine realistische Anthropologie und (Sozial-)Psychologie erarbeiten, die begreiflich macht, wozu Menschen im Guten wie im Bösen geneigt und fähig sind; dies sollte in die Bildungspläne integriert werden;
- Konsequenzen für Gewaltprävention und Extremismusprävention entwickeln (Bildung, Chancengerechtigkeit, Waffengesetze, Partizipation, Demokratieerziehung etc.);
- eine illusionslose Erforschung der Folgen des Anthropozäns, der Schädigung der Ökosphäre mitsamt der Katastrophen, die auf den Menschen zurückfallen (Artensterben, Erderhitzung, Brände, Trockenheit, Stürme etc.), und eine konsequente Verbesserung des Arten- und Klimaschutzes und der Resilienz und Anpassung an die Veränderungen;
- Wissen und Einschätzungskompetenz fördern im Blick auf Wahrscheinlichkeiten von Katastrophen (Erdbeben, Vulkanausbrüche, Asteroideneinschläge etc.).
Vgl. auch den Beitrag zu Martha Nussbaums Überlegungen zu Wut und Rache.
Link zum Beitrag über Denn das Böse gibt es nicht (Film von Muhammad Rasoulof)
[1] George Orwell: Reise durch Ruinen. Reportagen aus Deutschland und Österreich 1945 (textura), München 12021, S. 57.
[2] A. O. S. 58.
[3] Ernst Bloch: Experimentum mundi. Frage, Kategorien des Herausbringens, Praxis (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 564), Frankfurt am Main 22016, S. 230–238.
[4] Harald Welzer: Nachruf auf mich selbst. Die Kultur des Aufhörens, Frankfurt am Main 2021, S. 91.
[5] Welzer, Harald; Christ, Michaela, Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, Frankfurt am Main 2005.
[6] Harald Welzer: Nachruf, S. 97.