Anschaulich beschreibt Carla Baum ihre aggressiven Impulse gegenüber Nicht-Geimpften im Bekanntenkreis. (Meine innere Radikalisierung, DIE ZEIT 52/2021)
»Wir« sind wütend. Wir, die Geimpften, die Regeleinhalterinnen, die der Wissenschaft vertrauen. Auf »die«, die Impfgegnerinnen, Verschwörungsschwurbler, Uninformierten.
Eigentlich will sich die Autorin dieses Wutgefühls erwehren. Sie sei „gewissermaßen die „Zeugin“ ihrer „inneren Radikalisierung“.
In den lesenswerten anschließenden Reflexionen taucht eine Frage nicht auf: Wie kommt es eigentlich, dass wir Menschen gegenüber den als unsolidarisch empfundenen Anderen aggressiv werden? Dabei könnte eine solche Einsicht doch zur Distanzierung von der intuitiven Wut führen. Und das wäre gut, denn, wie Carola Baum sagt: Die Wut fühlt sich „schäbig“ an.
Macht die Wut einen Sinn? Evolutionär macht sie tatsächlich Sinn. Denn wir Menschen sind durch unsere spezifische stammesgeschichtliche Entwicklung zu hoch kooperativen Lebewesen geworden. Und zwar in zweierlei Hinsicht:
Zum einen sind wir gutwillig im Geben, und achtsam im Nehmen. Tit for Tat, wie du mir, so gebe ich dir – das ist offenkundig eine höchst erfolgreiche Strategie unserer Vorfahren gewesen. Denn man kann oft eine große Hilfe mit kleinem Einsatz gewähren, und wenn das dann auch umgekehrt geschieht, ist allen geholfen.
Zum Zweiten kooperieren wir gerne in der Gruppe, deshalb ist Mannschaftssport so beliebt. Gelingende Kooperation im Team mach Spaß.
Bei beiden sozialen Neigungen und Kompetenzen des Menschen gibt es allerdings ein evolutionäres Aber. Wenn jemand nur nehmen würde, aber nichts geben würde, hätte er einen Vorteil. Wenn sich jemand vor der Mammutjagd absetzt, aber am üppigen Festschmaus teilnimmt, hätte er risikolos profitiert.
Deshalb sind Menschen wachsam. Sie werden aggressiv auf jemanden, der einen Gefallen, eine Einladung, ein Geschenk mehrfach nicht erwidert, der seine Hilfe versagt, obwohl ihm geholfen wurde. Diese Person wird als Egoist oder gar Schmarotzer bezeichnet, über sie wird getratscht[1], damit auch die anderen sie künftig kritisch beäugen.
Evolutionspsychologen nennen das „moralische Aggression“[2]. Jede und jeder ist damit vertraut. Die moralische Aggression geht sogar so weit, dass wir wütend auf jemanden werden können, der sich ausnutzen lässt! Denn diese Person hilft nicht mit bei der Eingrenzung der möglichen Ausbeuter. (Und wir müssen erst uns klarmachen, dass die ausgenutzte Person schlicht zu abhängig, zu schwach ist, um sich zu trennen oder zu behaupten. Aber der Vorwurf „Warum lässt du das mit dir machen?!“ ist sofort in Worten oder Gedanken da und kann das Mitgefühl übertrumpfen.)
Menschen sind sogar bereit, Nachteile in Kauf zu nehmen, um jemanden für sein unsolidarisches Verhalten abzustrafen, z.B. durch einen Beziehungsabbruch, der letztlich beiden wehtut. Hier sprechen Evolutionspsychologen von „altruistischer Bestrafung“[3].
Nachdem wir geschmunzelt haben, dass wir Menschen offenbar doch archaischen Emotionen unterliegen, können wir uns klarmachen, dass im Falle der Impfgegner natürlich nicht diese Emotionen, sondern nur kluges politisches Handeln helfen wird. Und da Carla Baum mit ihren Gefühlen bestimmt nicht allein ist, ja die Mehrheit vertritt, müssen wir eher schauen, dass wir nicht überreagieren.
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[1] Dunbar, R. I. M., Gossip in Evolutionary Perspective, in: Review of General Psychology 8/2, 2004, S. 100–110.
Dores Cruz, Terence D.; Nieper, Annika S.; Testori, Martina; Martinescu, Elena; Beersma, Bianca, An Integrative Definition and Framework to Study Gossip, in: Group & Organization Management 46/2, 2021, S. 252–285.
[2] Robert Trivers: Social evolution, Menlo Park, Calif. 1985, S. 388: „I believe that a sense of fairness has evolved in human beings as a standard against which to measure the behavior of other people, so as to guard against cheating in reciprocal relationsships. In turn, this sense of fairness is coupled with moralistic aggression when cheating tendencies are discovered in a friend.“
[3] Robert Boyd et al.: The evolution of altruistic punishment, in: Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America 100/6, 2003, S. 3531–3535.