Die seltsamsten Menschen der Welt
Zum Glück ist Joseph Henrichs Werk »The Weirdest People of the World« nun auf Deutsch erhältlich: „Die seltsamsten Menschen der Welt“. „Zum Glück“, denn erstens ist unverständlicherweise sein letztes überragendes Werk »The Secret of Our Success« nicht auf Deutsch erschienen und zweitens thematisieren Henrichs Bücher die denkbar grundlegendsten Fragen. Handelte »The Secret« vom Erfolg der menschlichen Spezies, so das »neue« Buch vom Erfolg einer Kultur, der sogenannten westlichen: „Wie der Westen reichlich sonderbar und besonders reich wurde“ lautet der aussagekräftige Untertitel.
Erhellend zeigte Henrichs früheres Buch, dass die Spezies Homo sapiens sich durch hohe kulturelle Lernfähigkeit auszeichnet. Offenkundig stellte diese Begabung in entscheidenden Phasen der Humanevolution einen natürlichen Selektionsvorteil dar. Natur steht hier nicht in einem Gegensatz zur Kultur, sondern die Natur hat die Neigung entscheidend befördert, kulturelles Wissen durch Lernwilligkeit zu nutzen und damit zu bewahren.
Soweit die Essenz des souverän argumentierenden und mit eindrücklichen Beispielen gespickten Buches vom Erfolg unserer Spezies, The Secret of Our Sucess.
Vom Erfolg der Spezies zum Erfolg der westlichen Kultur
Nun könnte man vermuten, dass auch die besonders „entwickelten“ und dominanten Kulturen ihren Erfolg der genetischen Ausstattung ihrer Mitglieder, also ebenfalls einem natürlichen Selektionsprozess verdanken. Genau dies aber ist nicht der Fall.
Henrich knüpft an die Einsichten des bedeutenden Ökologen Jared Diamond an. In seinem inzwischen klassisch zu nennenden Werk „Guns, Germs and Steel. The Fates of Human Societies“ (dt.: Arm und reich. Die Schicksale der Gesellschaften) legte Diamond dar, dass Gesellschaften lange davon profitierten, wenn sie einen Startvorteil hatten.
Worin lag dieser Vorteil? In den ökologischen Gegebenheiten, die eine frühe Sesshaftigkeit nach dem Ende der Eiszeit möglich machten. Im Nahen Osten konnten früh (ab ca. 11000 vor heute) Pflanzen und Tiere domestiziert werden, schlicht weil es die geeigneten Pflanzen und Tiere gab. Das waren insbesondere Emmer, Einkorn, Gerste, Feige und Erbse und an Tieren Schaf und Ziege und bald darauf Rind und Schwein.
Südlich der Sahara fehlte es dagegen völlig an domestizierbaren Tieren wie auch in Australien und Mittelamerika. In Südamerika waren allein Lama und das Meerschweinchen als Haustiere nutzbar (ab 6000 vor heute), aber nicht als Arbeitstiere. In Eurasien dagegen konnten Ochsen, Pferde, Wasserbüffel oder Esel „Pflüge ziehen, schwere Lasten tragen oder Mühlen ankurbeln“ (Henrich S. 668). Henrich resümiert: „Diamonds Argument erklärt vieles von der globalen Ungleichheit, die wir in der Welt des Jahres 1000 nach Christus beobachten.“ (S. 670) Nach etwa dem Jahr 1200 aber schwächt sich die Erklärungskraft dieses Faktors deutlich ab: die führenden Volkswirtschaften waren danach an Orten angesiedelt, wo Landwirtschaft relativ spät aufkam, „nämlich in England, Schottland und den Niederlanden“ (S. 670). „Diamonds biogeographischer Ansatz hilft uns … weder dabei, zu erklären, warum die Industrielle Revolution in England begann, noch, warum die Schottische Aufklärung zuerst in Edinburgh und Glasgow aufflammte.“ (S. 671)
Nicht alle sind WEIRD
Der Grund für die neue kulturelle Dynamik liegt nach Henrich in der kulturell fest verankerten westlichen Psyche und Denkweise (mind).
Schon in einem Artikel von 2010 hat Henrich (zusammen mit Steven J. Heine und Ara Norenzayan) auf die Besonderheiten im Verhalten und Denken einer ziemlich großen Gruppe von Personen aufmerksam gemacht, nämlich der Menschen, die in WEIRD-Gesellschaften leben: Western, Educated, Industrialized, Rich, and Democratic.
Dies ist aus zwei Gründen wichtig.
- Psychologische Studien, die mit Studierenden (und meist dazu noch in westlichen Gesellschaften) durchgeführt wurden und scheinbar klare Ergebnisse zeigten, verführten dazu, diese in unzulässiger Weise als allgemein menschlich zu betrachten.
- Womöglich wird aus diesem Grund im Westen die Denkweise in anderen Gesellschaften als „seltsam“ oder erklärungsbedürftig angesehen, während doch die eigene erklärungsbedürftig und sekundär ist – dies jedenfalls machen die Studien von Joseph Henrich plausibel.
Menschen aus WEIRD-Gesellschaften
- zeigen eine geringere Konformität und weniger Ehrerbietung gegenüber der Tradition und Älteren (S. 282ff)
- verfügen über mehr Geduld
- versuchen Zeit zu sparen und wertschätzen harte Arbeit
- achten unparteiische Prinzipien höher als (insbesondere verwandtschaftliche) Beziehungen (moralischer Universalismus) (S. 292ff)
- vertrauen stärker auch Fremden und kooperieren mit ihnen, sie achten eher anonyme Institutionen (Regierung, Gesetze, Steuer) (S. 288ff)
- neigen eher zu Schuldgefühlen als zu Schamgefühlen (S. 284ff)
- schreiben mehr dem Charakter zu als einer Situation bzw. Rollenerwartung
- haben weniger Rachegedanken, aber sind bereit auch Fremde für Vergehen zu bestrafen (S. 303ff)
- halten viel von Autonomie und individueller Entscheidung
- achten mehr auf vordergründige und zentrale Akteure oder Objekte (statt auf den Kontext bzw. Hintergrund)
- verfügen eher über analytisches als ganzheitliches Wahrnehmen und Denken (S. 311ff).
Warum sind WEIRD-Menschen so?
Die Antwort überrascht, um nicht zu sagen: verblüfft. Und würde Henrich sie nicht so akribisch belegen, würde man befremdet den Kopf schütteln und auf andere Erklärungen zurückgreifen.
Vielleicht ist hilfreich, zunächst daran zu erinnern, dass wir Menschen (wie andere Tiere auch) eine natürliche Neigung haben, nicht nur für unsere Kinder, sondern auch für unsere Verwandten zu sorgen oder für sie einzutreten. Auch für WEIRD-Menschen ist das noch der Normalfall, obwohl genau diese Neigung sich in ihren Gesellschaften kulturell bedingt deutlich abgeschwächt hat.
Die größere (Groß-)Familienbezogenheit, die westlich geprägte Menschen in anderen Kulturen so bemerkenswert finden, geht einher mit einem genaueren Wissen um Verwandtschaftsbeziehungen. Uns leuchtet sofort ein, dass dies mit gegenseitigen Hilfeleistungen verbunden sein kann, vielleicht wird es aber überraschen, dass Verwandtschaft keineswegs mit einer Tabuisierung im Blick auf Eheschließungen verbunden ist. Allgemein beschränken sich Inzesttabus nur auf Verwandte ersten und 2. Grades (und kulturell sehr unterschiedlich auf weitere Verwandtschaftsbeziehungen). Schon Vetternehen 1. Grades werden in vielen Gesellschaften nicht nur toleriert, sondern sind gewünscht. Ohnehin gilt dies für Vetternehen 2. Grades, bei denen die Partner*innen also ein Urgroßelternteil gemeinsam haben. Generell haben die nicht-westlichen Gesellschaften eine viel höhere Verwandtschaftsintensität. Die Folge: „Man verlässt sich völlig auf diejenigen, mit denen man verbunden ist, und fürchtet alle anderen. Intensive Verwandtschaftsbeziehungen führen somit zu einer schärferen Unterscheidung zwischen Eigengruppen und Fremdgruppen und zu einem allgemeinen Misstrauen gegenüber Fremden.“ (S. 289)
Die Heiratsvorschriften der Kirche
Wie hat sich nun dieser Normalzustand (bei allen kulturell bedingten Feinheiten und Variationen) grundlegend verändert? Dies ist nicht etwa dadurch geschehen, dass sich die Mobilität erhöht hätte oder die Familienbande in die Kritik geraten wären, sondern:
Durch die Ehe- und Heiratsvorschriften der katholischen Kirche.
Im Anhang listet Henrich über 9 Seiten die Synodenbeschlüsse von 305/6 bis 1200 auf, die zunehmend Ehen in der Verwandtschaft verbieten bis hin zur Ehe mit Cousins 6. Grades (Heiratswillige dürfen also keinen gemeinsamen Ururururur-Großelternteil haben). Auch Heiraten mit Patenkindern, Stiefeltern, Witwen von Cousins oder Cousinen werden verboten sowie die sogenannte Leviratsehe, die in der hebräischen Bibel noch geboten war: die Ehe mit der Frau des verstorbenen Bruders. Auch mit der Schwester einer verstorbenen Ehefrau darf keine Ehe eingegangen werden.[1] Polygyne Ehen werden missbilligt und nach einem langwierigen Prozess immer seltener.
Die Kirche hat damit je länger je mehr die Bedeutung von Sippen, Clans, Verwandtschaft insgesamt minimiert. Warum hat sie das getan? Diese Frage steht nicht im Fokus der Untersuchungen von Henrich, zumal die Kirche sicher nicht die Intention hatte WEIRD-Menschen zu bilden. Henrich interessiert aber primär das Zustandekommen dieses „Nebeneffektes“. Einige mögliche Erklärungen spricht Henrich gleichwohl an.
Natürlich konnte sich die Kirche auf die krassen Worte Jesu und entsprechende Bibelstellen berufen wie z.B. „‘Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder?‘ Und er streckte die Hand aus über seine Jünger und sprach: ‚Siehe da, das ist meine Mutter und das sind meine Brüder! Denn wer den Willen tut meines Vaters im Himmel, der ist mir Bruder und Schwester und Mutter.‘“ (S. 756, Zitat von Matthäus 12, 47–50)
Vielleicht hat die Kirche auch bewusst oder unbewusst erkannt, dass sie einer großer Konkurrenz zur emotionalen Bindung an die Kirche und ihre Gemeinschaft begegnen muss, nämlich der zur Verwandtschaft.
Durch ihr Ehe- und Familienprogramm „schaltete die Kirche einerseits ihre Hauptkonkurrenten um die Loyalität der Menschen aus und sicherte sich andererseits auch noch eine beständige Einnahmequelle. Herkömmlicherweise stand die Loyalität gegenüber der eigenen Verwandtschaftsgruppe und Stammesgemeinschaft an erster Stelle und erforderte hohe Einsatzbereitschaft. Nach der Schwächung der Verwandtschaftsbeziehungen und der Stämme wandten sich sicherheitsbedürftige Christen dann aber stärker der Kirche und anderen freiwilligen Vereinigungen zu.“
Henrich führt als weiteren Grund die generelle Sexualfeindlichkeit der Kirche an, die zu mehr Tabuisierungen als je zuvor geführt hat.
Die Kirche brauchte „nur“ die „angeborene Abneigung gegen den Inzest zu nutzen“ (S. 113, kursiv von mir, G.R.), um dieses sexuelle Tabu über den kleinen Kreis enger Verwandter hinaus kulturell auszuweiten.
[1] Erst Papst Benedikt XV. lockert 1917 „die Beschränkungen und verbietet nur noch Ehen mit Cousins zweiten Grades“ und allen näher Verwandten (S. 702) und Papst Johannes II. „erlaubt die Heirat von Cousins und Cousinen zweiten Grades“.
Die amerikanische Ausgabe von 2020: Joseph Henrich, The WEIRDest People in the World
Was sich veränderte
Tatsächlich verändern sich mit den neuen Regelungen die Sozialbeziehungen und neue Institutionen werden benötigt. Im Einzelnen sind zu nennen:
- Familiengründung geschieht zunehmend weder matri- noch patrilokal, sondern neolokal.
- Arrangierte Ehen sind nicht mehr die Regel: Braut und Bräutigam müssen öffentlich in die Ehe einwilligen.
- Grund und Boden gehört nicht mehr der Sippe, sondern Einzelpersonen und kann nun verkauft werden.
- Streitigkeiten innerhalb der verwandtschaftlich organisierten Gruppen werden nicht mehr nach den internen Bräuchen geregelt.
- Kranke, Verletzte, Arme, Alte werden immer weniger vom Verwandtschaftsnetz versorgt, sondern durch kirchliche Institutionen.
Teilweise wird damit das Individuum gestärkt (Erbrecht, Heiratsrecht), teilweise wird die Abhängigkeit von der Kirche erhöht (Fürsorge) und andere Institutionen werden benötigt (Rechtsprechung).
All diese Faktoren unterstützen die Offenheit für freiwillige „Vereinigungen, darunter neue religiöse Organisationen sowie neuartige Institutionen wie freie Städte, Zünfte und Gilden oder Universitäten“ (S. 271). Es ist plausibel, dass Menschen, die nicht mehr so stark in Familiennetzwerke eingebunden waren, offener für alle diese Institutionen waren und damit „die städtischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Revolutionen des Hochmittelalters“ einleiteten.
Konsequenzen für die Moralauffassung
Die unterschiedlichen kulturellen Prägungen (traditionell bzw. weird) haben auch eine moralische Seite.
Sehr wahrscheinlich gibt es in traditionellen Gesellschaften mehr Hilfeleistungen, die sich über das Netz von Verwandtschaft und Austauschbeziehungen erstrecken, aber Weird-Menschen helfen häufiger auch Menschen, die sie (bisher) nicht kennen.
Eine Lüge, die Verwandten hilft, wird in traditionellen Gesellschaften geradezu für geboten gehalten; und auch Weird-Gesellschaften zwingen meist Verwandte nicht, gegen nahe Familienangehörige auszusagen und kennen ein diesbezügliches Zeugnisverweigerungsrecht.
Dennoch ist der Anspruch an Unparteilichkeit und Universalität deutlich stärker ausgeprägt. In Weird-Gesellschaften respektieren Diplomaten z.B. eher Parkverbote, auch wenn sie im Übertretungsfall nicht zur Rechenschaft gezogen werden (S. 68ff).
Einige Einsichten
Was begreifen wir, wenn wir mit Henrichs Forschungsergebnissen die Welt betrachten? (Mit „wir“ meine ich „Weird-Menschen“ und ich vermute, Sie gehören dazu.)
- Es verwundert nicht länger, mit welcher Opferbereitschaft viele geflüchtete Menschen von auch kärglichen Einkünften die Verwandten zu Hause unterstützen, und wie sehr sie sich schämen, wenn ihnen das nicht gelingt. (Link zu einem Beitrag des Deutschlandfunks 2017)
- Es verwundert nicht länger, dass demokratische Strukturen in Gesellschaften mit starken Clanstrukturen, wie z.B. Afghanistan oder Libyen sich nur schwer gegen die „naturgegebene“ Loyalität zur eigenen Sippe durchsetzen können.
- Es verwundert nicht länger, dass der Impuls zur Solidarität mit Verwandten in vielen Gesellschaften sich so beharrlich über abstrakte Normen (wie z.B. Unparteilichkeit bei der Jobvergabe) halten kann.
- Wir durchschauen, dass wir selbst teilhaben an der „tribalen Psychologie“ („Stammespsychologie“) aller Menschen, nur ist uns der „Stamm“ abhanden gekommen – und so neigen wir zu variablen Formen von „Wir-Die-Denken“ in der Politik, im Sport und in allen Bereichen, in denen sich Gruppen bilden.
- Wir begreifen, wie irreführend unsere Neigung sein kann, Verhaltensweisen dem „zugrundeliegenden“ „Charakter“ zuzuschreiben (S. 55ff), während menschliches Verhalten sich in Wahrheit vielen Rollen anpassen kann, eine Selbstverständlichkeit für die Menschen viele Kulturen, in denen je nach Verwandtschafts- und Beziehungsgrad sich ganz verschiedene Verhaltensweisen empfahlen bzw. gefordert wurden. (Zu erinnern wäre hier an die differenzierten Anredeformen in vielen Kulturen.)
- In diesem Zusammenhang führte unsere Neigung, „wesenhafte Unterschiede dort zu sehen, wo es keine gibt“ (S. 679) dazu, dass wir sogar genetische Unterschiede für die Verschiedenheit der Kulturen (und der Weird- oder Nichtweird-Merkmale) für plausibel hielten, mit der drohenden Konsequenz einer gefährlichen Überlegenheitsideologie.
Je abhängiger eine Bevölkerung von verwandtschaftsbasierten und damit verbundenen Institutionen war oder ist, desto schmerzhafter und schwieriger ist der Prozess der Integration in die unpersönlichen Institutionen von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, die sich in Europa im Verlauf des zweiten nachchristlichen Jahrtausends herausgebildet haben. (S. 686)
Die Polarität von Gesellschaften, die die Autonomie des Individuums an die Spitze der Wertehierarchie stellen auf der einen Seite, und den Gesellschaften, für die das Zusammengehörigkeitsgefühl essentiell ist, ist aktuell hochbedeutsam.
In der Süddeutschen Zeitung vom 27.09.2022 geht der Soziologe Armin Nassehi auf den russischen Soziologie-Kollegen Alexander Dugin ein und zitiert ihn:
Dugin kämpft gegen die „fortschreitende Befreiung des Individuums von allen Formen der kollektiven Identität“ und gegen die Idee des individuellen Entscheiders über die eigenen Lebensverhältnisse. Nicht umsonst stellt für ihn „die gesamte islamische Welt einen einzigen großen Pol des Großen Erwachens dar“, weil hier die unauslöschliche Zugehörigkeit zu sozialen Gemeinschaften vor allem eines bekämpfe: solche Zugehörigkeiten selbst wählen und abwählen zu können. Zu potentiellen Koalitionären erklärt er auch den Trumpismus in den USA und die chinesische Zivilisation als „Triumph des Klans, des Volkes, der Ordnung und Struktur über jegliche Individualität“.
Mögliche Einwände
nimmt Henrich selbst vorweg.
Gibt es nicht innerhalb des Einflussbereichs der katholischen Kirche große Unterschiede im Blick auf die „Seltsamkeit“ der Bevölkerungsgruppen – man denke an Süditalien?
Henrich kann geltend machen, dass Süditalien „erst nach den normannischen Eroberungen des 11. und 12. Jahrhunderts … vollständig unter päpstlichen Einfluss“ geriet. „Davor stand Sizilien etwa 250 Jahre unter muslimischer Herrschaft und ein Großteil des südlichen Festlandes unter der Kontrolle des Ostreiches und der orthodoxen Kirche.“ (S. 333) Noch im 20. Jahrhundert waren in Sizilien über 4% aller Ehen Vetternehen (in Norditalien weniger als 0,4%).
Haben sich nicht europäische Herrscher wenig um die Heiratsvorschriften der Kirche geschert?
Dies trifft nicht zu. Ihnen musste viel an der Erlaubnis der Kirche zu Scheidungen etc. liegen. Tatsächlich hat die Kirche Dispense gegen entsprechende Gebühren erteilt. Eine Exkommunikation konnte sich aber kaum ein Herrscher leisten, „denn Schulden gegenüber einem exkommunizierten Gläubigen mussten nicht beglichen werden. Das Konzil von Tribur im Jahr 895 verfügte sogar, dass Exkommunizierte straffrei getötet werden durften“ (S. 248). So haben die europäischen Könige zwar ihr Bestes getan, um die Monogamie „zu umgehen; dennoch waren sie dabei zunehmend auf eine Weise eingeschränkt, die sich kein respektabler chinesischer Kaiser, afrikanischer König oder polynesischer Häuptling je hätte vorstellen können.“ (S. 393)
Hat nicht erst der Protestantismus mit dem Geist des Kapitalismus (Max Weber) auch die westliche Weird-Persönlichkeit hervorgebracht?
Henrich verweist einerseits auf die Studien, die tatsächlich »belegen, dass der protestantische Glaube und die protestantische Praxis harte Arbeit, Geduld und Fleiß fördern«. (S. 592f) Andererseits lässt sich dasselbe bereits für die Cisterzienser, Jesuiten und die Brüder vom gemeinsamen Leben konstatieren. Nach Henrichs Darstellung ist »das Aufkommen des Protestantismus … sowohl eine Folge als auch eine Ursache der sich wandelnden Psychologie der Menschen.« (S. 601)
Man kann nur gespannt sein, welcher Fragestellung sich Joseph Henrich als nächstes zuwendet.
Besten Dank für die Veröffentlichung dieser exzellenten Rezension!
Als Hinweis sei mir gestattet, dass wir WEIRD nicht als universelle Eigenschaft westlicher Kulturen und auch nicht als individuelle Persönlichkeitsausprägung verstehen sollten, sondern als in Wahrscheinlichkeitsbegriffen zu beschreibende Disposition von Menschen in Populationen westlicher Kulturen. Dispositionen beschreiben keine individuellen Ausprägungen, sondern Verhaltensbereitschaften, die individuell unterschiedlich ausfallen können. Nationen und Menschen westlicher Kulturen sind nicht alle gleichartig WEIRD, sondern können durchaus unterschiedlich WEIRD sein:
Wenn Menschen in WEIRD-Kulturen leben, können sie trotzdem individuell nicht WEIRD sein.
Auch in Kulturen, die nicht als WEIRD gelten, können Individuen WEIRD sein.
Wenn jemand westlich sozialisiert ist, kann er trotzdem arm sein und undemokratisch denken.
Wenn jemand gebildet ist, bedeutet das nicht, dass er reich ist und demokratisch denkt.
Wenn jemand demokratisch denkt, muss er nicht reich und gebildet sein.
etc.
WEIRD bedeutet, dass in westlichen Kulturen Nationen und Menschen WEIRD-Dispositionen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ausprägen. Die Stärke dieser Ausprägung variiert bzw. streut individuell.