Mensch sein – Von der Evolution für die Zukunft lernen
Das dritte Buch, das der Primatologe und Anthropologe Carel van Schaik und der Historiker Kai Michel zusammen geschrieben und veröffentlicht haben, bildet so etwas wie die Summe und Zusammenfassung der beiden umfangreicheren vorangegangenen Bände: Das Tagebuch der Menschheit von 2016 und Die Wahrheit über Eva von 2020.
Aus der Sicht der Autoren
braucht es „die evolutionäre Perspektive, um die Aufklärung zu vollenden und damit auch die Welt in Sachen Freiheit, Gleichheit und Solidarität voranzubringen.“ (S. 13)
Denn die Einsicht in die Humanevolution mache deutlich, dass Menschen keineswegs von Natur aus egoistisch und sexistisch sind: „ausgeglichene Geschlechterbeziehungen“ seien vielmehr „ein Erfolgsgeheimnis unserer Spezies“ gewesen und Menschen lebten zu 99 Prozent ihrer Geschichte „in kleinen, egalitären und höchst solidarischen Gruppen“.
Wenn es so etwas wie einen Sündenfall gab, dann ist er nicht auf eine falsche Entscheidung oder Handlung zurückzuführen, sondern auf eine veränderte Lebensweise – die sesshafte nämlich -, die es nach und nach ermöglichte bzw. notwendig machte, Land zu besitzen und zu verteidigen, Güter zu speichern und zu akkumulieren. Insbesondere Männer konnten sich durch die nun auch für die Gruppe (Verteidigung von Grund und Boden) vorteilhafte Patrilokalität und patrilineare Vererbung Macht über Frauen und Besitz sichern.
Diese Veränderungen durch die sogen. neolithische Revolution (Gordon Childe) sind uns heute zur 2. Natur geworden, so dass wir kaum glauben können, dass es einmal – über die längste Zeit der Menschheitsgeschichte! – anders war. In der Erkenntnis, dass es sich dabei um sekundäre kulturelle Entwicklungen handelt, sehen die Autoren eine große Ermutigung, dass eine gesellschaftliche Gleichstellung von Mann und Frau und eine drastische Reduktion der gewachsenen materiellen und sozialen Ungleichheit möglich sind und unserer ersten Natur und Psychologie sehr entgegenkommen würden.
Es gibt die Neigung, bedeutende Veränderungen bzw. Wirkungen auf persönlich wirkende Akteure zurückzuführen. Für das alte Griechenland war es die vom Göttervater Zeus unter die Menschen gebrachte Büchse der Pandora, die „alles Übel in die Welt entließ“ (S.25). In der biblischen Urgeschichte ist es die sprechende Schlange, und sind es Adam und Eva, die die veränderten Lebensbedingungen verschulden. Aus der Sicht der Religion ist damit ein neuer bis in die letzten Tage unveränderbarer Normalzustand gegeben.
Die Religion ist eine Normalisierungsmaschine. Sie adelt den Ausnahmezustand zum Normalfall. (S. 26)
Darum erscheint es heute vielen Menschen unplausibel, dass die ursprüngliche und wesentliche Natur des Menschen so stark durch Freiheit, Gleichheit und Kooperation charakterisiert sein soll und die Veränderungen „nur“ auf die langfristigen Folgen der Sesshaftigkeit zurückgehen sollen.
Carel van Schaik & Kai Michel: Mensch sein, Rowohlt Verlag 2023
Hatte man nicht von sozialdarwinistischen Theorien ganz andere Aussagen über die „Natur des Menschen“ vernommen? Und war nicht der Rassismus biologistisch begründet worden? So war es zu einem regelrechten „Evo-Tabu“ gekommen und von der Evolutionstheorie nichts Gutes mehr erwartet worden. Als Schutzschild konnte die Erkenntnis eines sogenannten naturalistischen Fehlschlusses dienen: Aus den natürlichen Gegebenheiten kann nicht auf das kulturell Erwünschte geschlossen werden.
Geraten van Schaik und Michel nun in die Falle eines positiven naturalistischen Fehlschlusses, indem sie uns das egalitäre, faire und kooperative Zusammenleben in Jäger-Sammler-Gesellschaften als kulturelles Idealbild vor Augen stellen? Keineswegs, denn sie sind nicht blind für Schwächen unserer Menschennatur. Dazu gehört insbesondere die Neigung, nur mit Mitgliedern unserer Gruppe gerne zu kooperieren, gegenüber Anderen aber mitunter ein regelrechtes Othering zu betreiben, sie uns unähnlicher zu machen als sie sind, womit auch ein reduziertes Einfühlungsvermögen in ihr Leiden einhergeht.
„Unsere Moral ist eine Kleingruppen-Moral.“ (S. 149)
Auch „fehlen uns leider die Intuitionen, um zu realisieren, dass unsere Handlungen ebenso im Hier und Jetzt Auswirkungen haben wie an fernen Orten des Planeten. Und dass sie weit in das Schicksal späterer Generationen eingreifen können.“ (S. 154)
Doch diese natürlichen Schwächen der moralischen Ausstattung des Menschen berechtigen nicht zu einem pessimistischen Menschenbild insgesamt. Dieses hat vielmehr nach van Schaik und Michel verhängnisvollen Konsequenzen gehabt. Denn es sorgte für die Idee, dass es „die Herrschaft von Kirche und Staat [brauche], um der Sündhaftigkeit einen Riegel vorzuschieben.“ Noch Hobbes unterstellte, dass im Naturzustand ein Krieg aller gegen alle herrsche, der nur durch einen starken Herrscher, dem sich alle unterwerfen, unterbunden werden könne. Das Menschenbild hat also de facto politische und ethische Folgen und diese sind für die Autoren nicht nur negativ, sondern beruhen auf einer falschen Sicht der menschlichen Natur. Es ist aber keineswegs illusionär, sich für eine größere Gleichberechtigung und für mehr Fairness einzusetzen, denn:
„Die Gleichberechtigung aller ist nun mal evolutionär betrachtet der tatsächliche Normalzustand des Homo sapiens.“ (S. 316)
Und deshalb ist es auch nur konsequent und für alle tolerabel, dass nun
die „letzten marginalisierten Gruppen […] ihren Platz rund ums gesellschaftliche Lagerfeuer [verlangen]. Der Splitter im Verstand lässt auch ihnen keine Ruhe. Die sozialen Medien eröffnen die Möglichkeit, die Isolation zu durchbrechen und lautstark ihre Rechte einzufordern. Diese Rückkehr zu demokratischen Verhältnissen, die Überwindung des historischen Intermezzos, in dem die Ungleichheit der Menschen als gott- oder naturgegeben angesehen wurde, ist die eigentliche zivilisatorische Errungenschaft. Und für uns ein eindrücklicher Beweis für die Richtigkeit des evolutionären Ansatzes und die immense Stärke unserer ersten Natur mit ihrem Sinn für Fairness.“ (S. 325)
Carel von Schaik und Kai Michel hätten ihrem Buch auch den Titel „Im Grunde gut“ geben können. Tatsächlich stimmen sie in ihrem Menschenbild weitgehend mit Rutger Bregman, der ein Buch mit diesem Titel geschrieben hat, überein. Allerdings betonen sie stärker die evolutionären Anpassungen, die zu Moral und Sozialität der Menschen geführt haben. Dazu gehört auch, dass sie die zentrale Bedeutung und den evolutionären Vorteil der starken Reziprozität betonen:
„Unsere Vorfahren waren … völlig aufeinander angewiesen. Sie mussten in gefährlichen Situationen blind vertrauen und sicher sein, dass sie in der Not von anderen versorgt wurden. Sie konnten sogar Gegenleistungen einfordern für Hilfe, die sie viele Jahre zuvor erbracht hatten, und dies auch bei Menschen außerhalb der eigenen Gruppe. Ein feines Netz gegenseitiger Verpflichtungen verband die Gemeinschaften … .“ (S. 128)
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