Refle­xio­nen im Anschluss an Yuval Har­a­ris Bestseller

Gast­bei­trag von Wil­fried Eißler

I. Schim­pan­sen glau­ben an Geis­ter, weil Träu­men älter als Denken

II. Men­schen sind von allen Lebe­we­sen am meis­ten auf Lie­be angelegt

III. Die Stein­zeit war die Zeit der Gro­ßen Mutter

IV. Mit der Kogni­ti­ven Revo­lu­ti­on begann nicht nur der Lei­dens­weg des Pla­ne­ten, son­dern auch des homo sapi­ens – Ein Ver­such über das Ego

  1. Wie ent­steht das Ego?
  2. Was kann das Ego?
  3. Was kann das Ego nicht?
  4. Der Preis des Egos
  5. Das Ego ist eine Illusion

Per­sön­li­che Nachbemerkung

I. Schim­pan­sen glau­ben an Geis­ter, weil Träu­men älter ist als Denken

Hara­ri nennt als wesent­li­ches Ergeb­nis der Kogni­ti­ven Revo­lu­ti­on die Fähig­keit des homo sapi­ens, sich Din­ge vor­zu­stel­len, die nicht exis­tie­ren, und dar­über zu kom­mu­ni­zie­ren. Aber ist die Vor­stel­lungs­kraft nicht viel älter als die Kommunikationsfähigkeit?

Träu­me beinhal­ten häu­fig nicht exis­tie­ren­de Din­ge, sind wider­sprüch­lich, irra­tio­nal, magisch und vol­ler Zau­ber. Und nach allem, was wir wis­sen, ist Träu­men älter als ratio­na­les Den­ken. Lebens­ge­schicht­lich: Wir haben schon im Mut­ter­leib begon­nen zu träu­men, einer ver­gleichs­wei­se reiz­ar­men Umge­bung. Ich glau­be kaum, dass es dort die Funk­ti­on hat, als die wir Erwach­se­ne es erle­ben, näm­lich als Ver­ar­bei­tung  von Tages­er­le­ben. Es scheint eine grund­le­gen­de Arbeits­wei­se des Gehirns zu sein. Auch als Erwach­se­ne müs­sen wir träu­men, um nicht ver­rückt zu wer­den. Wei­ter­hin: Klei­ne Kin­der leben zum Teil noch in einer ganz­heit­lich erleb­ten, magi­schen und zau­ber­haf­ten Welt, bis sie „ver­nünf­tig“ wer­den. His­to­risch ver­läuft die Ent­wick­lung vom magi­schen zum immer ratio­na­le­ren Erle­ben, des­we­gen ste­hen auch die Mythen vor der Geschichts­schrei­bung, die immer ratio­na­ler wird. Das Erle­ben oder Emp­fin­den von magi­schen oder intui­ti­ven Zusam­men­hän­gen hat die Mensch­heit durch vie­le Jahr­tau­sen­de beglei­tet, man­che Erwach­se­ne haben noch heu­te die­se Fähig­keit. Erst die moder­ne wis­sen­schaft­li­che Sicht­wei­se hat sol­ches Erle­ben fast unsicht­bar wer­den lassen.

Alle Säu­ge­tie­re, mög­li­cher­wei­se sogar alle Wir­bel­tie­re, träu­men, höchst­wahr­schein­lich ähn­lich irra­tio­nal, magisch und zau­ber­haft wie wir. Das schließt ver­nünf­ti­ges Ver­hal­ten nicht aus. Sub­jek­tiv dürf­ten sie sich eher in einer Art magi­schen Welt befin­den. Der Warn­ruf eines Affen: „Ach­tung Löwe!“ hie­ße dann bes­ser über­setzt: „Ach­tung Löwengeist!“

Selbst wir abge­klär­ten Erwach­se­nen des 21. Jahr­hun­derts erle­ben in unse­ren ent­spann­tes­ten und glück­lichs­ten Momen­ten die Welt auch als irgend­wie magisch und zau­ber­haft oder haben zumin­dest eine Ahnung davon. Viel­leicht ist die­se Wahr­neh­mung ja die natür­li­che, und die nüch­ter­ne Ver­nunft zwar für vie­les nütz­lich, aber doch nur eine recht moder­ne Mög­lich­keit unse­res Bewusstseins.

II. Men­schen sind von allen Lebe­we­sen am meis­ten auf Lie­be angelegt

Säug­lin­ge haben ein Grund­be­dürf­nis: sie wol­len lie­ben. Zwei Bot­schaf­ten ver­mit­teln sie an die Mut­ter (und ande­re): Ich brau­che dich, bin total abhän­gig von dir. Und: Du bist die Welt für mich. Ich lie­be dich. Ich glau­be und ver­traue dir blind. Natür­lich bedür­fen sie auch der Nah­rung und der Für­sor­ge. Aber wenn bei­des auch nur eini­ger­ma­ßen stimmt, wer­den sie immer mehr Lie­be geben, als sie bekom­men. Kin­der tun vie­les, um es ihren Eltern recht und sie glück­lich zu machen (und so man­ches hat sich dabei schon nach­hal­tig über­for­dert). Die­ses bedin­gungs­lo­se Ja zum Leben und zur sozia­len Gemein­schaft, in die sie hin­ein­ge­bo­ren wer­den, ist bio­lo­gisch sinn­voll. Kein ande­res Tier­ba­by ist eine sol­che Last für die Mut­ter und das auch noch für eine der längs­ten Kind­heits­pha­sen, die es gibt. Men­schen­ba­bys kön­nen sich nicht mal am Fell der Mut­ter fest­kral­len wie Affen, son­dern müs­sen getra­gen wer­den. Die jah­re­lan­ge Unter­stüt­zung durch die Mut­ter und bei­der durch die Gemein­schaft ist aber überlebenswichtig.

Um die Bin­dung der Mut­ter und ande­rer Erwach­se­ner an das Kind her­zu­stel­len, arbei­tet die Natur mit ver­schie­de­nen Mecha­nis­men, z. B. dem Kind­chen-Sche­ma, aber auch mit der Lie­be des Kin­des. Ein Baby, das nur geliebt und ver­sorgt wer­den will, zu ver­las­sen, dürf­te einer Mut­ter viel leich­ter fal­len, als eines, das ihr etwas anbie­tet, auf das sie schon seit Kin­des­bei­nen auch ange­wie­sen, pro­gram­miert ist: (bedin­gungs­lo­se) Liebe.

Viel­leicht ist die­ser Mecha­nis­mus sogar gefühls­mä­ßig nach­voll­zieh­bar: Im Umgang mit klei­nen Kin­dern bringt uns das Kind­chen-Sche­ma dazu, sie „süß“ zu fin­den. Aber rich­tig für­sorg­lich macht uns ihr bedin­gungs­lo­ses Ver­trau­en, das aus ihren Augen spricht, ihre Liebe.

Ver­mut­lich gab es über Mil­lio­nen Jah­re der Homi­ni­den-Ent­wick­lung einen Wir­kungs­zu­sam­men­hang zwi­schen zuneh­men­der Auf­rich­tung, Ver­en­gung des weib­li­chen Beckens, frü­he­rer Geburt, län­ge­rer Kind­heits- und Abhän­gig­keits­pha­se, stär­ke­rer Bin­dung zwi­schen Mut­ter und Kind und grö­ße­rer Lie­bes­fä­hig­keit aller Indi­vi­du­en. Hara­ri beschreibt wesent­li­che Tei­le die­ser Wir­kung kurz und prä­zis auf den S. 18 ff (deut­sche Aus­ga­be). Aber wahr­schein­lich kann man auf die­se Wei­se auch begrün­den, wie die Lie­be in die Welt kam, eine die (weit) über die Bin­dun­gen bei ande­ren Säu­ge­tie­ren hin­aus­geht. Natür­lich sind auch älte­re Grund­struk­tu­ren des Ver­hal­tens von Wir­bel­tie­ren, wie z. B. Aggres­si­on oder Kon­kur­renz, wei­ter­hin wirk­sam und sinn­voll, aber sie wur­den stark über­formt. Empa­thie, Nächs­ten­lie­be, Für­sor­ge, Freund­lich­keit u. a. sind so über vie­le Gene­ra­tio­nen gewachsen.

Wahr­schein­lich ver­dan­ken wir nicht nur unse­re grö­ße­re sozia­le Form­bar­keit, son­dern auch unse­re grö­ße­re Sen­si­bi­li­tät und Emp­find­lich­keit der Tat­sa­che, dass wir Früh­ge­bur­ten sind.

Men­schen kön­nen Lie­be gegen­über ande­ren Lebe­we­sen und der gesam­ten Schöp­fung emp­fin­den. Und sie füh­len sich meis­tens auch am bes­ten, wenn sie das tun (kön­nen). Wenn die Bud­dhis­ten und die Mys­ti­ker aller Reli­gio­nen recht haben, fin­den unser Geist und Kör­per ihre Ruhe erst in einer abge­klär­ten Mil­de allen Din­gen gegen­über. (Im Bud­dhis­mus gehört die Lie­be zwar noch in den Bereich des Anhaf­tens. Das Lächeln des Bud­dhas weist aber dar­auf hin, dass die Erleuch­tung eine freund­li­che Gleich-Gül­tig­keit beinhal­tet.) (Gelas­se­ne) Lie­be wäre dann unse­re natür­li­che Bestim­mung, in der wir uns am wohls­ten fühlen.

(Ver­mut­lich füh­len sich Hyä­nen mit ihrem sehr hohen Tes­to­ste­ron-Spie­gel auch am wohls­ten beim Aus­le­ben ihrer extre­men Aggres­si­on. Mit unse­rer Lie­bes­fä­hig­keit, die uns zusam­men mit unse­rer Intel­li­genz schein­bar so sehr über die Tier­welt erhöht, sind wir genau­so nur ein beson­de­rer Spiel­ball der Evo­lu­ti­on wie sie.)

Wenn die­se The­se (der Bestim­mung zur Lie­be) stimmt, müss­ten sich alle Homi­ni­den gegen­über den noch nicht völ­lig auf­recht gehen­den Schim­pan­sen und Bono­bos durch eine grö­ße­re Für­sorg­lich­keit aus­zeich­nen. Das ist mei­nes Wis­sens für die Nean­der­ta­ler erwie­sen. Wei­ter­hin müss­ten Tötungs­de­lik­te zumin­dest inner­halb der Grup­pe noch gerin­ger sein als bei den Men­schen­af­fen, also prak­tisch nicht exis­tent. Auch töd­li­che Gewalt­tä­tig­kei­ten zwi­schen den Grup­pen dürf­ten gerin­ger sein als bei die­sen. Gibt es dar­über archäo­lo­gi­sche Befun­de? Gibt es Fun­de, die dar­auf hin­wei­sen, dass die Kogni­ti­ve Revo­lu­ti­on die Tötungs­de­lik­te (stark) erhöht hat?

Die Bestim­mung zur Lie­be dürf­te auch die Her­aus­bil­dung hier­ar­chi­scher Gesell­schaf­ten ermög­licht haben. Wenn man einen Gedan­ken von Sai Baba (in: Sai Baba sprich über  Psy­cho­the­ra­pie, Graf­rath bei Mün­chen 2000, S. 289ff) wei­ter­spinnt, gelang die Zäh­mung von Nutz­tie­ren nicht nur durch Aus­wahl und Züch­tung der zahms­ten Tie­re son­dern auch dadurch, dass die Men­schen ihr ange­bo­re­nes Ver­trau­en gegen­über der Mut­ter und Leit­tie­ren der Her­de miss­brauch­ten, indem sie sich selbst an deren Stel­le setz­te. Für die heu­ti­ge Mas­sen­tier­hal­tung gilt das viel­leicht kaum noch, in den vie­len Jahr­tau­sen­de Tier­hal­tung davor war ein über­mäch­ti­ger Mensch für das Nutz­tier meis­tens gegen­wär­tig. Die Zäh­mung von Wild­tie­ren gelang ja auch nur bei sol­chen Arten, die in ihrem Sozi­al­ver­hal­ten Rol­len vor­ge­se­hen hat­ten, in die der Mensch anstatt des natür­li­chen Part­ners schlüp­fen konn­te. Ver­mut­lich waren die ers­ten Zie­gen, Scha­fe und Rin­der am Feu­er der Men­schen übrig­ge­blie­be­ne Jung­tie­re, die Men­schen­kin­dern als Spiel­ge­fähr­ten dien­ten. Die Tier­kin­der akzep­tie­ren die stär­ke­ren und cle­ve­ren Men­schen als Mut­ter- und Leittierersatz.

Wahr­schein­lich geschah bei der Zäh­mung und Dis­zi­pli­nie­rung des homo sapi­ens im Pro­zess der Her­aus­bil­dung hier­ar­chi­scher Gesell­schaf­ten ein ähn­li­cher Miss­brauch natür­li­cher (Lie­bes-) Fähig­kei­ten. Als „Väter­chen“ Sta­lin starb, wein­ten Mil­lio­nen Sowjet­bür­ger, dar­un­ter auch Hun­dert­tau­sen­de Ter­ror­op­fer. Sicher­lich ist es nicht nur Furcht, die sozia­le Herr­schaft absi­chert, son­dern auch dem Men­schen ange­bo­re­ne Freund­lich­keit, Geduld und Lie­bes­fä­hig­keit, die ihn Din­ge ertra­gen lässt, die sich kein Wild­tier frei­wil­lig gefal­len las­sen wür­de. Wahr­schein­lich nei­gen Men­schen dazu, selbst ihre Unter­drü­cker irgend­wie (auch) zu lie­ben. Die Intel­lek­tu­el­len etwas weni­ger, dafür das ein­fa­che Volk umso mehr. Und bis ins 20. Jahr­hun­dert hin­ein war selbst in hoch­ent­wi­ckel­ten Gesell­schaf­ten sozia­le Herr­schaft immer auch als per­sön­li­che Herr­schaft im unmit­tel­ba­ren Lebens­um­feld zu erle­ben (z. B. als Guts- oder Dienstherr).

Yuval Noah Hara­ri: Sapi­ens. Eine kur­ze Geschich­te der Menschheit
Erwei­ter­te Taschen­buch­aus­ga­be von 2024

Junger Schimpanse in der Wilhelma

Jun­ger Schim­pan­se in der Wil­hel­ma, Stuttgart

III. Die Stein­zeit war die Zeit der Gro­ßen Mutter 

Auch wenn fast alle agra­ri­schen und indus­tri­el­len Gesell­schaf­ten patri­ar­cha­lisch waren und es sogar patri­ar­cha­li­sche Doku­men­te von 10.000 v. Chr. gibt (S. 181) spricht doch für die vie­len Jahr­tau­sen­de davor sehr viel mehr für eine Vor­rang­stel­lung der Frau­en als dagegen.

Eine aus­ge­präg­te sozia­le Herr­schafts­struk­tur gab es sicher vor der Kogni­ti­ven, mög­li­cher­wei­se sogar vor der Neo­li­thi­schen Revo­lu­ti­on nicht, ein­fach weil die Grup­pen zu klein und die Arbeits­tei­lung zu gering war. Es gab aber sicher Rang­un­ter­schie­de, wie sie auch bei Men­schen­af­fen­hor­den vor­kom­men. Dafür, dass dabei Frau­en kei­ne schlech­te Posi­ti­on hat­ten, spre­chen meh­re­re Punkte:

  1. Bei Expe­ri­men­ten mit Ach­sel­schweiß unter­halb der bewuss­ten Wahr­neh­mungs­gren­ze zeigt sich, dass nur ein Kör­per­ge­ruch von allen Pro­ban­den (Män­ner und Frau­en ver­schie­de­ner Alters­stu­fen) glei­cher­ma­ßen als ange­nehm emp­fun­den wird, näm­lich der von Frau­en im Alter von etwa 45–55 Jah­ren. Die ein­fachs­te Erklä­rung dafür ist, dass die Nähe zu ihnen mit dem bes­ten und sichers­ten Platz in der Grup­pe kom­bi­niert war – über so vie­le Jahr­tau­sen­de, dass dies gene­tisch codiert wurde.
  2. Archäo­lo­gi­sche Fun­de, die trotz der auch von Hara­ri ver­mu­te­ten Viel­falt der Stein­zeit-Kul­tu­ren erstaun­lich ein­heit­lich sind: Ange­fan­gen von der „Venus vom Hoh­len Fels“ (ca. 40.000 Jah­re) gibt es zumin­dest im euro­pä­isch-vor­der-asia­ti­schen Raum bis in die Anti­ke hin­ein eine unun­ter­bro­che­ne (?) Ket­te von soge­nann­ten Venus-Figu­ri­nen, wohl­be­leib­te weib­li­che Sta­tu­en, die in der Früh­zeit stets kopf- oder gesichts­los waren. Sie wur­den nur in der Nähe der Feu­er­stel­le gefun­den. (Die­sen erhal­te­nen Figu­ren aus Elfen­bein oder Kno­chen gin­gen sicher Tau­sen­de von Figu­ren aus Holz vor­aus, das viel leich­ter zu bear­bei­ten war.) Dar­stel­lun­gen von Tie­ren (Jagd- und Groß­wild) sind bei Wild­beu­tern eben­so alt und häu­fig, männ­li­che Figu­ren sind sehr sel­ten und eher jün­ge­ren Datums. Nach dem Über­gang zu Acker­bau und Vieh­zucht wird aus der Venus der Vor­zeit die Frucht­bar­keits­göt­tin, die Magna Mater.
  3. Mytho­lo­gi­sche (also ältes­te münd­li­che) Über­lie­fe­run­gen: Noch im anti­ken Grie­chen­land wur­de bei allen öffent­li­chen Opfern das ers­te stets Hes­tia, der Göt­tin des Herd­feu­ers, dar­ge­bracht. „Ihr wei­ßes, gestalt­lo­ses (!) Abbild, wahr­schein­lich auch ihr meist ver­brei­te­tes Wahr­bild war der Ompha­los oder Nabel­stein in Del­phi.“ (Robert von Ran­ke-Gra­ves: Grie­chi­sche Mytho­lo­gie, Rein­bek 1960, 11. Aufl. 2011, S. 13) Alle anti­ken Mythen las­sen sich deu­ten als Schil­de­rung des Über­gangs vom Matri­ar­chat zum Patri­ar­chat mit vie­len unter­schied­li­chen Zwi­schen­for­men. In der anti­ken Göt­ter­welt wur­de dann, bei männ­li­cher Vor­herr­schaft, ein gewis­ser Kom­pro­miss zwi­schen weib­li­chen und männ­li­chen Göt­tern gefun­den. Die­sel­be Ent­wick­lung fand im Nor­den Euro­pas statt (vgl. dazu Gise­la Bleibtreu-Ehrenberg).
  4. Grund­sätz­li­che Über­le­gun­gen: Bei allen noch in der Neu­zeit vor­kom­men­den Wild­beu­ter­grup­pen gab es zumin­dest eine gewis­se Arbeits­tei­lung mit zeit­wei­ser Tren­nung von Frau­en und Män­nern. Die Betreu­ung von (klei­nen) Kin­dern war aus­schließ­lich oder über­wie­gend Frau­en­ar­beit. Wei­ter­hin sind Män­ner durch­schnitt­lich etwas grö­ßer und stär­ker als Frau­en. Aus all dem folgt zwangs­läu­fig ein etwas unter­schied­li­cher Akti­ons­ra­di­us der bei­den Geschlech­ter. Frau­en dürf­ten näher am vor Raub­tie­ren und Käl­te schüt­zen­den (Haupt-) Feu­er geblie­ben sein. Dort dürf­ten sie eher das Sagen gehabt haben, das legen auch die archäo­lo­gi­schen und mytho­lo­gi­schen Befun­de nahe. Män­ner dürf­ten bei der (Großwild-)Jagd domi­nant gewe­sen sein.

Ein Patri­ar­chat kann es erst geben, wenn Vater­schaft bekannt ist. Die­se war aber den Früh­men­schen genau­so unbe­kannt wie heu­te den Men­schen­af­fen. Selbst die Erkennt­nis, dass (Hetero-)Sexualität, Schwan­ger­schaft und Geburt zusam­men­hän­gen, dürf­te ver­gleichs­wei­se jun­gen Datums sein. (Noch in anti­ken Mythen kön­nen Stu­ten vom Nord­wind und Frau­en beim Baden durch Was­ser­geis­ter geschwän­gert wer­den.) Mut­ter­schaft ist hin­ge­gen bei allen Säu­ge­tie­ren unmit­tel­bar und dau­er­haft erleb­bar. Es dürf­te vie­le Jahr­tau­sen­de gedau­ert haben, bis der Zusam­men­hang zwi­schen (Hete­ro-) Sexua­li­tät und Geburt All­ge­mein­wis­sen wur­de und auch dann war (bei mög­li­cher Pro­mis­kui­tät der Frau­en) Vater­schaft noch lan­ge nicht sicher und noch weni­ger sozi­al aner­kannt. (Die Unkennt­nis die­ses Zusam­men­hangs ver­hin­der­te sicher nicht, dass Väter und Kin­der eine beson­ders enge Bezie­hung in der Grup­pe ein­ge­hen konn­ten, weil sie sich ver­mut­lich stär­ker zuein­an­der hin­ge­zo­gen fühl­ten als zu ande­ren. (Gibt es Beob­ach­tun­gen zu „intui­ti­ver Vater­schaft“ bei Men­schen­af­fen?)

Frü­he Reli­gio­nen haben zwei Zwei­ge, die Ver­eh­rung der Ahnen und die Ver­eh­rung der Natur. Zumin­dest bis zum Zeit­punkt der sozia­len Aner­ken­nung von kon­kre­ter Vater­schaft konn­te es nur eine weib­li­che Ahnen­rei­he geben. Die Venus vom Hoh­len Fels und ihre vie­len Nach­fol­ge­rin­nen sind mög­li­cher­wei­se Dar­stel­lun­gen einer mythi­schen Ahn­frau, betont durch die Kopf- bzw. Gesichts­lo­sig­keit, viel­leicht aber auch Attri­bu­te der Wür­de der in ihrer Tra­di­ti­on ste­hen­den aktu­el­len Clanchefin.

Ein Teil der Natur­ge­wal­ten wur­de im Kampf gegen Raub- und Beu­te­tie­re am deut­lichs­ten erlebt. Ver­mut­lich sind die Tier­fi­gu­ren ein Ver­such, die­se Kräf­te magisch oder kul­tisch zu erfas­sen.  Es spricht jedoch vie­les dafür, dass die Natur ins­ge­samt eher mit dem Weib­li­chen als mit dem Männ­li­chen iden­ti­fi­ziert wur­de. Viel­leicht ist schon die Venus vom Hoh­len Fels eine, die Natur­göt­tin. Die spä­te­re Magna Mater war Göt­tin der Natur und aller ihrer Geschöp­fe. Noch die grie­chi­sche Arte­mis ist Her­rin der Wal­des und der Tie­re. Nach Ran­ke-Gra­ves wur­den erst im Über­gang zum Patri­ar­chat vie­le der ursprüng­lich weib­lich asso­zi­ier­ten Natur­phä­no­me­ne männ­lich. So blieb z. B. bei den Grie­chen und Römern der Mond weib­lich besetzt, die Son­ne wur­de männ­lich.  Damit wur­de die Welt zwei­ge­schlecht­lich und polar: ein­fachs­tes Bei­spiel: Mut­ter Erde und Vater Him­mel. Nur in einem ein­zi­gen Tem­pel welt­weit gelang es der männ­li­chen Pries­ter­kas­te, die Sta­tue der Göt­tin ganz hin­aus­zu­wer­fen, in dem von Jeru­sa­lem – der Ursprung der drei mono­the­is­ti­schen Reli­gio­nen. (Sind Wor­te wie Erde, Mate­rie, Mate­ri­al in allen Spra­chen weib­lich oder dem Müt­ter­li­chen ver­wandt?)

Die wich­tigs­ten Mys­te­ri­en im mensch­li­chen Leben sind bis heu­te Geburt und Tod. Beim erfreu­li­che­ren der bei­den, der Geburt, ist die Mut­ter unmit­tel­bar betei­ligt und Lebens­spen­de­rin. Der Tod wird zwar im euro­päi­schen Kul­tur­raum mit einem männ­li­chen Gerip­pe, dem Sen­sen­mann oder „Freund Hein“ ver­bild­licht, es gibt aber auch Hin­wei­se dar­auf, dass hier eben­falls etwas Weib­li­ches wirkt, wie Vor­stel­lun­gen vom Wie­der­ein­ge­hen in den Schoß von Mut­ter Erde. Nach der Mut­ter mit dem Kind ist die häu­figs­te Dar­stel­lung Mari­as, in deren Ver­eh­rung der alte Magna-Mater-Kult bis heu­te wei­ter­lebt, die Pie­tà, die Mut­ter mit dem toten Sohn auf dem Schoß. (Lie­gen Erd- bzw. Feu­er­be­stat­tun­gen unter­schied­li­che Todes­vor­stel­lun­gen zugrun­de?)

Auch die Lebens­er­fah­rung jedes Men­schen spricht für ein magi­sches oder kul­ti­sches Ehren­pri­mat der Frau. Die Mut­ter ist die ers­te „Gott­heit“ für jeden Säug­ling, ande­re „Göt­ter“ tre­ten erst spä­ter hin­zu. So wie das klei­ne Kind von der Mut­ter getra­gen wird (das Able­gen der Säug­lin­ge in Wägen oder ähn­li­chem ist ja erst neue­ren Datums), die ihm zunächst alles ist, wird der erwach­se­ne Mensch von Mut­ter Erde getra­gen, die ihm auch alles ist, jeden­falls wenn man ihre Pflan­zen und Tie­re hin­zu nimmt.

Eini­ge die­ser Aspek­te hat Her­mann Hes­se in sei­nem Gedicht „Ver­gäng­lich­keit“ verarbeitet:

(…)
Bald weht der Wind über mein brau­nes Grab.
Über das klei­ne Kind beugt sich die Mut­ter herab.
Ihre Augen will ich wie­der­se­hen, ihr Glück ist mein Stern.
Alles ande­re mag gehn und ver­wehn. Alles stirbt, alles stirbt gern.
Nur die ewi­ge Mut­ter bleibt, von der wir kamen.
Ihr spie­len­der Fin­ger schreibt in die flüch­ti­ge Luft unse­re Namen.

Die Über­ein­stim­mung des weib­li­chen Zyklus, urei­ge­nem weib­li­chem Erle­ben, mit den Mond­pha­sen, der nach der Son­nen­be­we­gung spek­ta­ku­lärs­ten regel­mä­ßi­gen Him­mels­be­we­gung, muss den Men­schen der Vor­zeit ohne Wis­sen, ohne Bil­der und Fil­me, wie ein Mys­te­ri­um erschie­nen sein. Lun­ar­sym­bo­lik ist schon in den ältes­ten bild­li­chen Dar­stel­lun­gen ent­hal­ten. Auch des­we­gen muss­ten Frau­en eine beson­de­re Ver­bin­dung zum Über­ir­di­schen haben.

Kul­ti­sche Ver­eh­rung von Frau­en ist grund­sätz­lich gut auch in einer patri­ar­cha­li­schen Gesell­schaft mög­lich. Bei­spie­le gibt es vie­le: die Göt­tin­nen der Anti­ke, der Mari­en­kult der ortho­do­xen und katho­li­schen Kir­che, die Ver­eh­rung weib­li­cher Gott­hei­ten im Hin­du­is­mus u.a. In allen die­sen Fäl­len gibt es aber auch männ­li­che Kult­bil­der, die gleich- oder über­ge­ord­net sind. Da die­se aber für die Vor­zeit  feh­len, ist es sehr unwahr­schein­lich, dass Frau­en sozi­al unter­ge­ord­net waren.

Die Neo­li­thi­sche Revo­lu­ti­on fand also vor „matrif­o­ka­lem“ Hin­ter­grund statt und hat zu einem Matri­ar­chat geführt, das teil­wei­se durch Män­ner-Opfer für die Frucht­bar­keit der Böden und des Viehs sorg­te (nach Ran­ke-Gra­ves). Der Über­gang zum Patri­ar­chat dürf­te zuerst bei noma­di­sie­ren­den Hir­ten­völ­kern gesche­hen sein, die dann die sess­haf­ten mit Pfer­den und Pfeil und Bogen über­rann­ten. In Krie­gen domi­nier­ten gene­rell die kör­per­lich über­le­ge­nen Män­nern, die Frau­en waren gezwun­gen, sich auf den Schutz ihrer Kin­der zu konzentrieren.

IV. Mit der Kogni­ti­ven Revo­lu­ti­on begann nicht nur der Lei­dens­weg des Pla­ne­ten son­dern auch des homo sapi­ens – Ein Ver­such über das Ego

„Men­schen sind die unglück­lichs­ten aller Tie­re“ (Krish­na­mur­ti). Eine Ket­te von Lei­den und Dumm­hei­ten, die wir uns selbst und dem Rest der Schöp­fung zufü­gen, zieht sich durch die Geschich­te. Das kann kein Zufall sein und ist weder intel­li­gent noch durch tie­ri­sches Erbe zu erklä­ren. Dass die frü­hen Jäger auch  Groß­wild jagen konn­ten, kann man mit Intel­li­genz erklä­ren. Dass sie auch die letz­ten Exem­pla­re für sie unge­fähr­li­cher Groß­tie­re aus­rot­te­ten, wie auf allen Kon­ti­nen­ten gesche­hen, kaum. Es muss in unse­rer Intel­li­genz etwas geben, das regel­mä­ßig in das Gegen­teil umschla­gen kann. In Anleh­nung an vie­le Mys­ti­ker möch­te ich die­sen Teil das Ego nen­nen, eine Instanz in unse­rem Bewusst­sein, die man viel­leicht kurz am bes­ten als „Ich will“ bezeich­nen kann. Wenn die Mensch­heit sich seit der Kogni­ti­ven Revo­lu­ti­on gene­tisch nicht mehr wesent­lich ver­än­dert hat, muss damals auch das Ego ent­stan­den sein, zumin­dest als Mög­lich­keit für jedes Gehirn. Das Ego ange­mes­sen zu beschrei­ben, dürf­te dem Men­schen am bes­ten gelin­gen, dem der Zustand sei­nes Bewusst­seins mit und ohne Ego glei­cher­ma­ßen ver­traut ist. Davon hat es höchst­wahr­schein­lich nicht vie­le gege­ben. Ande­rer­seits waren wir alle mal Kin­der, erle­ben fast täg­lich das Ego in unter­schied­li­chen Stär­ken und sei­ne Abwe­sen­heit jede Nacht zumin­dest im Tiefschlaf.

  1. Wie ent­steht das Ego?

(Dazu kön­nen Kin­der­psy­cho­lo­gen und Hirn­for­scher sicher eini­ges sagen.) Mir scheint klar, dass es beim Säug­ling noch nicht vor­han­den ist. Natür­lich haben auch sie Bedürf­nis­se, Cha­rak­ter, Indi­vi­dua­li­tät, auch eige­nen Wil­len. Das unter­schei­det sie übri­gens nicht von ande­ren Säu­ge­tie­ren. Die unun­ter­bro­che­ne Ket­te von mehr oder weni­ger gefühls­be­la­de­nen Gedan­ken, die den Rest-Orga­nis­mus (im Fol­gen­den ver­kürzt Kör­per genannt) tyran­ni­siert (Richard David  Precht), bil­det sich erst spä­ter her­aus. Den­ken ist schwer ohne Spra­che vor­stell­bar, und viel­leicht geschieht es im Ver­lauf des Sprach­er­werbs, in dem das Kind erst von sich in der 3. Per­son und dann erst als „ich“ spricht, dass ein dau­er­haf­tes Ich-Bewusst­sein entsteht.

Eine zwei­te Erklä­rungs­mög­lich­keit des Egos geht mei­nes Erach­tens über die mani­pu­la­ti­ven Mög­lich­kei­ten der Hand. Die Spiel­mög­lich­kei­ten von Wild­schwein­fer­keln sind über­schau­bar: sich gegen­sei­tig jagen, weg­schub­sen, besprin­gen und die Nase über­all rein­ste­cken. Das tun gleich weit ent­wi­ckel­te Men­schen­kin­der im Wald grob gesagt auch. Aber sie haben noch viel mehr Spiel­mög­lich­kei­ten: Äste ent­lau­ben, Stei­ne zer­schla­gen, mit Stö­cken oder Stei­nen wer­fen, bau­en und wie­der ein­rei­ßen u. a. m. Beim welt­weit belieb­ten Spiel im Sand­kas­ten oder mit Bau­klöt­zen erlebt das Kind, dass es Gebil­de bau­en und wie­der zer­stö­ren kann. Spaß machen kann bei­des. (Viel­leicht wer­den in die­ser Ent­wick­lungs­pha­se Macht und Machen, ein­schließ­lich Zer­stö­ren, im Gehirn mit Lust­ge­fühl gekop­pelt.) Das alles ver­dan­ken wir unse­rer Hand und dem Werk­zeug­ge­brauch, den sie ermög­licht. Unse­re Intel­li­genz ist des­we­gen kei­ne beschau­en­de oder sin­nie­ren­de, son­dern mani­pu­la­tiv, machend, und dürf­te sich dar­um in vie­lem z. B. von der der Wale unter­schei­den. Natür­lich gehö­ren zur mensch­li­chen Wach­heit auch das Beherr­schen der eige­nen Glie­der, das Beob­ach­ten der Umwelt und der Kon­takt mit Art­ge­nos­sen, wie bei allen sozi­al leben­den Säu­ge­tie­ren. Aber die Fähig­keit des Gestal­tens und Machens ist bei ihnen viel gerin­ger ausgeprägt.

Es ist sicher nicht nur in der deut­schen Spra­che so, dass alle Wör­ter, die Denk­pro­zes­se beschrei­ben ursprüng­lich hand-werk­li­che oder kör­per­li­che Vor­gän­ge bezeich­nen, wie z.B. ver-ste­hen, be-grei­fen, er-fas­sen. Ver­mut­lich gibt es auch nicht nur im Deut­schen einen Zusam­men­hang zwi­schen Machen und Macht. Machen gibt Macht über die Umwelt und des­halb ist das Erle­ben von Macht bei kei­nem Säu­ge­tier so groß wie bei homo sapiens.

Viel­fäl­ti­ge sozia­le  Pro­zes­se sor­gen eben­falls dafür, dass sich ab der spä­ten Kind­heit ein Ich her­aus­bil­det, das jeden­falls im wachen Zustand recht sta­bil ist. Die­ses Ich lässt uns emp­fin­den und sagen, dass wir einen Kör­per haben – nicht, dass wir einer sind. Es herrscht über den Kör­per in dem Sin­ne, dass es ver­sucht, mög­lichst alle bewuss­ten Vor­gän­ge über sei­ne Kom­man­do­zen­tra­le lau­fen zu las­sen. Gele­gent­li­ches spon­ta­nes Han­deln ist trotz­dem wei­ter­hin mög­lich. Es wird jetzt aber als etwas Beson­de­res erlebt, weil es die Aus­nah­me von der Regel, eine kur­ze Unter­bre­chung des nor­ma­len, eben kon­trol­lier­ten Han­dels, dar­stellt. Ich ver­mu­te, dass seit der Kogni­ti­ven Revo­lu­ti­on jeder (gesun­de) Mensch ein sol­ches Ich oder Ego hat­te, wenn auch kul­tu­rell und his­to­risch vie­ler­lei Aus­prä­gun­gen mög­lich waren und sind. Ganz sicher kann jedes Exem­plar des homo sapi­ens ein sol­ches Ego aus­bil­den (und damit z. B. in moder­nen Gesell­schaf­ten leben). Dass Ego-Bewusst­heit nicht die ein­zi­ge ist, zu der wir fähig sind, mer­ken wir im nor­ma­len All­tag nicht nur bei spon­ta­nen Hand­lun­gen son­dern auch dann, wenn wir sehr ent­spannt sind, z. B. wenn es im Pro­zess des mor­gend­li­chen Auf­wa­chens noch eine Wei­le dau­ert, bis die inne­re Ord­nung und Struk­tur des Ich-Bewusst­seins sich wie­der auf­baut, ähn­lich dem Hoch­fah­ren eines Betriebs­sys­tems am PC.

Venus, Figur aus dem Hohle Fels bei Schelklingen

Venus­fi­gur aus dem Hoh­le Fels bei Schel­k­lin­gen, Schwä­bi­sche Alb
Alter ca. 42.000 Jahre

Idol von den Kykladen

Idol von den Kykla­den, Alter ca. 4550 Jahre

2. Was kann das Ego?

Hara­ri schil­dert sehr ein­drück­lich, wie sich zu Beginn der Neu­zeit im Kampf um die Vor­herr­schaft auf dem Pla­ne­ten die Euro­pä­er gegen­über den Indern und Chi­ne­sen durch­setz­ten, nicht weil sie über mehr Res­sour­cen ver­füg­ten oder wei­ter ent­wi­ckelt waren, son­dern weil sie unru­hi­ger und gie­ri­ger waren: gie­ri­ger nach Wis­sen, Gold, Erobe­run­gen, Macht und Mis­sio­nie­rung. Ver­mut­lich hat sich ein ähn­li­cher Pro­zess mehr­fach in der Geschich­te abge­spielt und viel­leicht hat Hara­ri damit intui­tiv auch einen, viel­leicht sogar den wesent­li­chen Teil der Kogni­ti­ven Revo­lu­ti­on beschrie­ben. Viel­leicht waren die geis­ti­gen Fähig­kei­ten des homo sapi­ens gar nicht viel höher als die des Nean­der­ta­lers. Aber bei uns kam zum Poten­ti­al der Wil­le, um nicht zu sagen der Zwang, hin­zu, sie auch dau­er­haft zu benut­zen. Dass sich Werk­zeu­ge über 1 Mio. Jah­re prak­tisch nicht ver­än­dern, wie es beim homo erec­tus der Fall war, war mit sapi­ens nicht zu machen, dazu war sein Gehirn zu unruhig.

Ich möch­te die­sen Gedan­ken­gang an zwei Bei­spie­len ver­deut­li­chen, einem tech­no­lo­gi­schen und einem sozialen.

Tech­no­lo­gisch: Ver­mut­lich hat auch schon der Nean­der­ta­ler beob­ach­tet, dass Tie­re, die an stei­len Fels­wän­den abstürz­ten, unten als leich­te Beu­te zu holen waren. Aus die­ser Beob­ach­tung aber durch hart­nä­cki­ges Nach­den­ken, wochen­lan­ges Pla­nen, Aus­pro­bie­ren, Kom­mu­ni­ka­ti­on mit viel­leicht Hun­der­ten von Art­ge­nos­sen usw. sys­te­ma­ti­sche Hetz­jag­den ver­mut­lich erst gegen weni­ger wehr­haf­te Tie­re, dann schließ­lich sogar gegen Mam­muts zu machen, war homo nean­der­tha­len­sis nicht imstan­de. Viel­leicht ist es aber bes­ser gesagt, dass er es nicht woll­te oder nicht wol­len konn­te. (Hat nicht der Plan, Tei­le einer Mam­mut­her­de mit­tels Fackeln in Panik zu set­zen, sodass sie sich gegen­sei­tig über einen Fel­sen in den Tod drän­gen, schon etwas Böses? Was muss es für den sapi­ens nach voll­brach­ter Tat für ein Tri­umph­ge­fühl gewe­sen sein, sol­che gott­glei­chen und intel­li­gen­ten Rie­sen in den Tod getrie­ben zu haben? Fing damals die Gering­schät­zung der Mit­ge­schöp­fe an?)

Im Sozia­len: Wenn ein neu­es Weib­chen in eine Bono­bo-Grup­pe kommt, steigt bei den Männ­chen die sexu­el­le Erre­gung. Sie wer­den ver­su­chen, in die Nähe des Weib­chens zu kom­men und sei­ne Gunst zu erlan­gen. Käme es nun (was bei Bono­bos aller­dings unge­wöhn­lich ist) zu einer vor­über­ge­hen­den Abtren­nung der Männ­chen von die­sem Weib­chen, wür­de der Erre­gungs­zu­stand schnell wie­der absin­ken. Ist dage­gen ein Men­schen­mann ver­liebt, wird er auch in der Fer­ne stun­den- oder tage­lang an die Gelieb­te den­ken und sich Stra­te­gien der Annä­he­rung überlegen.

Ich glau­be, dass uns vor allem die­ser anhal­ten­de Wil­le von ande­ren Säu­ge­tie­ren und Homi­ni­den unter­schei­det. Er gibt unse­ren Hand­lun­gen eine Nach­drück­lich­keit und Mäch­tig­keit, die ein­ma­lig auf dem Pla­ne­ten ist.

Sicher­lich gibt es Natur­völ­ker, die nicht so unru­hig den­ken, füh­len und han­deln (müs­sen) wie die heu­ti­gen Indus­trie­na­tio­nen. Viel­leicht gilt der berühm­te Satz von Pas­cal, dass das gan­ze Elend der Mensch­heit daher rüh­re, dass kein Mensch eine hal­be Stun­de ruhig auf sei­nem Stuhl in einem Zim­mer sit­zen kön­ne, für sie noch nicht. Ver­mut­lich dürf­ten sich bei nähe­rer Betrach­tung aber auch bei ihnen Bewei­se für ein unru­hi­ges Ego fin­den lassen.

Unser Ver­hal­ten wird also nicht nur von ange­bo­re­nen Trie­ben und Instink­ten sowie von sozi­al Gelern­tem bestimmt, son­dern hat dar­über hin­aus eine (anhal­ten­de) Wil­lens­di­men­si­on. Wir kon­kur­rie­ren und koope­rie­ren wie alle sozi­al leben­den Säu­ge­tie­re, aber wir wol­len dabei auch gut oder bes­ser sein als ande­re und kön­nen die­se Absicht über lan­ge Zeit­räu­me ver­fol­gen. An einer Kar­rie­re kann man Jahr­zehn­te bas­teln. Geschwis­ter­kon­kur­renz kann sich noch im hohen Alter in jah­re­lan­gen Erb­schafts­strei­tig­kei­ten äußern usw. Auch die Mit­glie­der einer Schim­pan­sen-Grup­pe haben ihre sozia­len Rol­len, aber sie iden­ti­fi­zie­ren sich nicht damit, wol­len nicht gut in ihr sein oder sie gera­de im Gegen­teil nicht mehr ein­neh­men, son­dern durch eine ande­re erset­zen usw.

Dabei kön­nen wir unse­ren Wil­len der nicht-mensch­li­chen Umwelt rela­tiv leicht auf­zwin­gen, weil sie ihm auf lan­ge Stre­cken nichts Gleich­wer­ti­ges ent­ge­gen­set­zen kann (die Nutz­tie­re wer­den sich nie für ihr Lei­den bei uns rächen kön­nen). Im Umgang mit ande­ren Men­schen sto­ßen wir auf Mit­spie­ler, die ähn­lich gear­tet sind, und schei­tern viel öfter. Noch inter­es­san­ter ist die Fra­ge, was geschieht, wenn wir auch Bedürf­nis­se wie die nach Lie­be, Gebor­gen­heit, Glück, Freu­de und ähn­li­chem mit Wil­lens­en­er­gie auf­la­den, was unver­meid­lich geschieht.  Es scheint bestimm­te Zie­le zu geben, die gera­de durch das Wol­len immer weni­ger erreicht wer­den können.

Eine Funk­ti­ons­wei­se unse­res Egos ver­dient noch eine aus­führ­li­che­re Schil­de­rung, ich möch­te sie Refle­xi­vi­tät nen­nen. Das Ego kann Hand­lun­gen gedank­lich vor­weg neh­men, durch­spie­len und dann ent­schei­den. Im nor­ma­len „Geschäfts­ab­lauf“ unse­res All­tags wer­den stän­dig Ver­hal­tens­wei­sen im Bewusst­sein durch­ge­spielt und dann eine davon aus­ge­führt, die als Fol­ge wie­der neue Über­le­gun­gen in Gang setzt usw. Über­le­gen erfor­dert eine bestimm­te Distan­zie­rung von der unmit­tel­ba­ren Situa­ti­on, genau­er, die Tren­nung von Sub­jekt (Ich, der den­ke) und Objekt (das wor­über nach­ge­dacht wird). In die­ser Tren­nung erlebt das Den­ken sich als frei und sou­ve­rän, es selbst ist nicht Objekt son­dern Sub­jekt sei­ner Über­le­gun­gen, hat Macht, ver­schie­de­ne Vari­an­ten durch­zu­spie­len (selbst in Situa­tio­nen, in denen der Kör­per ohn­mäch­tig ist). Es kann immer wei­te­re Refle­xi­ons­ebe­nen eröff­nen, also z. B. eine Uni­ver­sal­ge­schich­te ersin­nen, sich von ihr distan­zie­ren, sie kri­ti­sie­ren, die­se Kri­tik wie­der kri­ti­sie­ren usw. Die­se Fähig­keit erleich­tert uns die Kor­rek­tur von Feh­lern und lässt uns immer neue Ver­su­che hin zu einer erfolg­rei­chen Lösung des Pro­blems unter­neh­men. Ich ver­mu­te, dass in der Tren­nung von Sub­jekt und Objekt die Mil­lio­nen Jah­re alte Erfah­rung der machen­den Hand und der benutz­ten Mate­rie zu einer Grund­struk­tur unse­res Den­kens geron­nen ist, dass sie eine Art Spie­ge­lung des Machens und der Macht der Hand dar­stellt.

Unser wil­lens­be­ton­tes Ver­hal­ten hat uns weit gebracht, zum erfolg­reichs­ten und wohl auch zahl­reichs­ten Säu­ge­tier wer­den las­sen. Wir haben uns die Erde unter­tan gemacht. Selbst in einem Bereich in dem wir über Jahr­tau­sen­de, wie alle Tie­re, ziem­lich macht­los waren, näm­lich dem von Krank­heit und Gesund­heit, haben wir inzwi­schen mäch­ti­ge Mög­lich­kei­ten und so kön­nen zumin­dest die Rei­che­ren unter uns ihrem Leben die eine oder ande­re Span­ne hin­zu­set­zen (z. B. durch eine Ope­ra­ti­on), was die Bibel noch für unmög­lich hielt. Aber – um auch mit Krish­na­mur­ti zu schlie­ßen: „Erfolg ist Brutalität“.

3. Was kann das Ego nicht?

Kurz gesagt: frei­wil­lig abschal­ten. Es neigt zu over-doing und dazu, sich auf­zu­blä­hen. Die For­men, in denen dies geschieht, sind sehr viel­fäl­tig, der zugrun­de­lie­gen­de Mecha­nis­mus ist immer der­sel­be. Das Ego hat sich vom Die­ner unse­res Kör­pers zu sei­nem Herrn auf­ge­schwun­gen und ver­lässt die­sen Platz sehr ungern. Das Ver­hält­nis zwi­schen Ego und Rest-Orga­nis­mus ist kei­nes der lie­be­vol­len Koope­ra­ti­on son­dern eine Art Kampf: Wie bei zwei mit­tel­al­ter­li­chen Rit­ter­hee­ren auf dem Schlacht­feld drängt die eine Sei­te mal die ande­re zurück, dann wie­der umge­kehrt usw. Kei­ne Par­tei kann die ande­re ganz besie­gen, aber Frie­den schlie­ßen sie auch nicht.

Wir kön­nen das am deut­lichs­ten im Pro­zess des Ein­schla­fens erle­ben. Im bes­ten Fall wird unser Wach­be­wusst­sein schnell abge­schal­tet und wir fal­len in Tief­schlaf. Häu­fig erle­ben wir aber auch das obi­ge Schlacht­ge­tüm­mel: Der Kör­per will schla­fen, wird aber vom Wach­be­wusst­sein, das nicht auf­hö­ren will, aktiv zu sein, dar­an gehin­dert usw. Auch wenn ein Teil des Egos schla­fen will, hilft uns das nicht wei­ter, oft im Gegen­teil. Der Schal­ter zum Ein­schla­fen kann nur von einer Instanz jen­seits unse­res Wil­lens umge­legt wer­den. Es erscheint manch­mal so, als ob es sinn­voll wäre, dass das Den­ken vorm Ein­schla­fen die Tages­er­eig­nis­se noch ver­ar­bei­tet, bevor der Schlaf an der Rei­he wäre. Manch­mal auch, als ob das Bewusst­sein nur Opfer einer Über­rei­zung durch die Tages­er­eig­nis­se wäre und, ähn­lich wie z.B. eine durch kör­per­li­che Anstren­gung über­reiz­te Seh­ne, ein­fach sei­ne Zeit braucht, um sich wie­der  zu beru­hi­gen. Aber hin­ter dem Den­ken und sei­nen Gefühls­an­tei­len steckt immer auch ein Den­ken- und Füh­len-Wol­len. Und Schlaf und Träu­men kön­nen die Tages­er­eig­nis­se viel bes­ser bewer­ten und ver­ar­bei­ten und tun dies ja in aller Regel end­lich auch. Bei die­ser Art des Ein­schla­fens wird deut­lich, dass das Ego, das dem Kör­per tags­über gute Diens­te geleis­tet hat, ihn nun stresst, ihm Kraft und Rege­ne­ra­ti­ons­fä­hig­keit raubt.

Im Wach­zu­stand ver­hin­dert oder erschwert das Ego alle die­je­ni­gen Erleb­nis­ebe­nen, zu denen Kon­trol­le und die Tren­nung von Sub­jekt und Objekt nicht pas­sen:  Gebor­gen­heit, Lie­be, Hin­ga­be, Selbst­ver­ges­sen­heit, „ganz­heit­li­ches Erle­ben“, bis hin zur „unio mys­ti­ca“ der Mys­ti­ker. Es ver­ab­so­lu­tiert sich sosehr, dass unse­re nor­ma­le Wahr­neh­mung  die ist, dass „ich“ einen Kör­per habe, nicht, dass „ich Kör­per“ auch über einen Geist ver­fü­ge, den ich benut­zen kann. Und selbst wenn wir Momen­te der erleb­ten Selbst­auf­ga­be, z. B. in der Lie­be haben, geschieht das bewuss­te Erle­ben und Reflek­tie­ren die­ser Erfah­run­gen schon wie­der im Ego-Bewusst­sein. Wir ent­kom­men unse­rem Ego genau­so wenig wie Goe­thes Tür­mer sei­nem Turm (im Faust), müs­sen schon dank­bar sein, wenn es soweit geschwächt ist, dass wir trau­ernd spü­ren, was uns durch das Ego alles an unmit­tel­ba­rem Erle­ben, das wir bei klei­nen Kin­dern benei­den, entgeht.

Vie­le Mys­ti­ker behaup­ten sinn­ge­mäß, dass unser nor­ma­les Leben nichts ande­res ist als eine Abfol­ge von Denk- und Gefühlstrips, die wir in Erman­ge­lung Bes­serns für die Wirk­lich­keit hal­ten. Das Ego ist so stark und unru­hig, dass es sich stän­dig auf irgend­ei­ner Wel­le selbst insze­niert. Nur sehr sel­ten, in gro­ßer Ruhe, manch­mal aber auch schock­ar­tig in Extrem­si­tua­tio­nen, wer­den eini­ge der Vor­hän­ge, die unser Ego vor die Wirk­lich­keit gescho­ben hat, bei­sei­te gerückt und wir ahnen, dass alles ganz anders sein könn­te, als wir es nor­ma­ler­wei­se emp­fin­den und erleben.

Die Ver­bun­den­heit des Egos mit Macht und Machen wird dar­an deut­lich, dass es sehr viel Ver­schie­de­nes den­ken kann, nur nicht, dass es nicht sou­ve­rän, nicht fähig zum akti­ven Han­deln ist. Wir kön­nen nicht erle­ben, dass wir gelebt, dass wir geat­met, ge-stoff­wech­selt  wer­den, nur dass wir leben, atmen und einen Stoff­wech­sel haben, obwohl der ers­te Halb­satz eher der Wahr­heit ent­spricht. Das Ego kann sich nicht pas­siv erle­ben, es wehrt sich mit allem, was ihm an neu­en Gedan­ken­gän­gen und Aus­flüch­ten zur Ver­fü­gung steht, gegen Erleb­nis­se der Passivität.

Das Ego will aktiv sein, ist fast stän­dig im Wach­zu­stand aktiv, kann ein Pro­blem nach dem ande­ren lösen. Aber es kann nicht ohne Pro­ble­me, ohne Lösungs­auf­ga­ben sein. Das ist der Ursprung für die bit­te­re All­tags­weis­heit, dass sich, wer kei­ne Pro­ble­me hat, wel­che macht.  Das­sel­be Spiel läuft mit Wün­schen ab. Wenn genug Res­sour­cen da sind, kann sich das Ego einen Wunsch (der oft aus dem Kör­per kommt, aber im Ego erlebt und dadurch ver­stärkt wird) nach dem ande­ren erfül­len, aber es kann nicht wunsch­los (glück­lich) sein, genau­so wenig wie ein­fach absichts­los da und zufrieden.

Es gibt in der Kind­heit eine Pha­se, in der selbst­ver­ges­se­nes und kon­trol­lier­tes Erle­ben und Han­deln sich noch abwech­seln. Und ver­mut­lich hat es auch in der Homi­ni­den-Ent­wick­lung eine Zeit gege­ben, in der macht­vol­les Wol­len und absichts­lo­ses Da-Sein noch mehr har­mo­nier­ten als beim heu­ti­gen (erwach­se­nen) homo sapi­ens. Nur haben sich im Ver­lauf der Evo­lu­ti­on eben die wil­lens­stär­ke­ren Muta­tio­nen durch­ge­setzt, weil sie die bes­se­re Nah­rungs­ver­sor­gung erreich­ten, sich stär­ker fort­pflanz­ten usw.

Krish­na­mur­ti weist noch auf eine wei­te­re Ein­schrän­kung durch unser Ego  hin: Jede Bewer­tung (einer Hand­lung, eines Men­schen, eines Objekts), die unser Gehirn vor­nimmt, geschieht auf dem Hin­ter­grund bis­he­ri­ger Erfah­run­gen, je kon­trol­lier­ter unser Den­ken ist, des­to stär­ker. Auf die­se Wei­se beherrscht immer die Ver­gan­gen­heit die Gegen­wart, wirk­lich etwas Neu­es, „Schöp­fung“ kann nur gesche­hen, wenn ohne Ego, also „unkon­trol­liert“ gehan­delt wird. (Die Tat­sa­che, dass spon­ta­ne Hand­lun­gen in aller Regel sinn­voll sind, oft sinn­vol­ler als die geplan­ten, zeigt, dass das Gehirn auch jen­seits des Egos über ver­nünf­ti­ge Rege­lungs­me­cha­nis­men ver­fügt. Gibt es nicht viel mehr spon­ta­ne Herz­lich­keit als spon­ta­ne Bosheit?)

Ähn­lich wie erlern­te Bewe­gun­gen durch stän­di­ge Wie­der­ho­lung rou­ti­ni­siert wer­den, prä­gen sich auch tau­send­fach wie­der­hol­te Gedan­ken- und Gefühls­re­gun­gen im Gehirn immer tie­fer ein. Sie wer­den viel leich­ter und schnel­ler wie­der­erlebt als neue, erschei­nen immer selbst­ver­ständ­li­cher und ver­nünf­ti­ger, wäh­rend es ande­re Regun­gen immer schwe­rer haben, vom Bewusst­sein akzep­tiert zu wer­den. So ent­steht unse­re Per­sön­lich­keit oder, wie es Wil­helm Reich aus­drück­te, unser „Cha­rak­t­er­pan­zer“. Eine Vari­an­te davon ist der Altersstarrsinn.

Starr­sin­nig kön­nen aber nicht nur Indi­vi­du­en son­dern auch Grup­pen und gan­ze Gesell­schaf­ten sein. Ihr nor­ma­ti­ves Regel­werk ist nichts ande­res als kol­lek­tiv rou­ti­ni­sier­te Bewer­tun­gen, die (fast) allen Betei­lig­ten durch die stän­di­ge Wie­der­ho­lung selbst­ver­ständ­lich und qua­si natür­lich erschei­nen. Skla­ve­rei war den Men­schen des Alter­tums das nor­mals­te von der Welt, nicht nur den Her­ren, son­dern auch den (meis­ten) Skla­ven. Mit ent­spre­chen­dem Abstand betrach­tet, haben alle Sozi­al­struk­tu­ren und Sys­te­me sozia­ler Ungleich­heit, die die Mensch­heit je her­vor­ge­bracht hat, etwas Absur­des und Ver­rück­tes. Den jewei­li­gen Mit­spie­lern erschei­nen sie in aller Regel ver­nünf­tig und alternativlos.

Die wei­ter oben erwähn­te Aus­rot­tung vie­ler Groß­wild­ar­ten auf allen Kon­ti­nen­ten durch homo sapi­ens fin­det hier mög­li­cher­weis eine ein­fa­che Erklä­rung: Es war üblich, die­se zu jagen, und die­ses Pro­gramm konn­te (ver­mut­lich trotz eini­ger war­nen­der Stim­men)  nicht gestoppt wer­den, bis auch das letz­te Rie­sen­faul­tier usw. tot war. Noch in jüngs­ter Zeit galt die Tötung eines Löwen durch einen jun­gen Mas­sai als Mut­pro­be, die er zu bestehen hat­te, um ein Mann zu wer­den, auch als kaum noch Löwen für die­ses Ritu­al zu Ver­fü­gung stan­den. Denk­bar ist natür­lich auch, dass die frü­hen Groß­wild­jä­ger die Fol­gen ihrer Hand­lun­gen ein­fach nicht über­schau­ten. Es war ihnen nicht klar, was sie anrich­te­ten. (Sie wären damit nicht wesent­lich düm­mer als homo sapi­ens heu­te, der auch kei­ne Ahnung davon hat, wel­che ein­zig­ar­ti­gen Fähig­kei­ten er mit den –zig Pflan­zen- und Tier­ar­ten, die jedes Jahr durch sein Han­deln aus­ge­rot­tet wer­den, end­gül­tig vernichtet.)

Rou­ti­ni­sie­rung von Hand­lun­gen und Bewer­tun­gen gibt es natür­lich auch schon im Tier­reich und auch homo sapi­ens ver­fügt sicher auch jen­seits des Egos dar­über. Unser Wil­lenspo­ten­ti­al gibt ihnen aber eine beson­de­re Här­te, die viel­leicht am schöns­ten mit der For­mu­lie­rung aus dem Tao-te-king beschrie­ben ist, dass das Leben weich und schwach in die Welt kommt und sie hart und stark wie­der ver­lässt.

4. Der Preis des Egos

Der Stress, den das Wol­len dem Kör­per berei­tet, ist kaum zu  über­schät­zen. Bei sen­si­bler Wahr­neh­mung wird deut­lich, dass jeder Gedan­ke, jede bewusst erleb­te Gefühls­re­gung mit kör­per­li­cher Anspan­nung ver­bun­den ist. Wil­lens­be­ton­te geis­ti­ge Anstren­gung laugt den Kör­per dabei noch mehr aus kör­per­li­che, weil die­ser sich im eige­nen Revier eher weh­ren kann. Die in Indus­trie­na­tio­nen mas­sen­haft ver­brei­te­ten Rücken­pro­ble­me sind weni­ger auf den auf­rech­ten Gang als auf har­tes, wil­lens­star­kes Funk­tio­nie­ren zurück­zu­füh­ren. (Da gibt es sicher viel psy­cho­so­ma­ti­sche Lite­ra­tur dazu.) Wir spre­chen von „eiser­nem“ Wil­len und „hart­nä­cki­gem“ Wol­len und bei­des ist kör­per­lich spür- und greif­bar, als z. T. extre­me Ver­span­nung von Hals, Schul­tern und Rücken.

Schon als einen ein­sam leben­den Robin­son Cru­soe betrach­tet zahlt homo sapi­ens also einen hohen Preis für sei­ne geis­ti­gen Fähig­kei­ten: see­lisch durch geis­ti­ge und emo­tio­na­le Unru­he und gro­ße Schwie­rig­kei­ten, glück­lich und zufrie­den zu sein, kör­per­lich durch Anspan­nun­gen, die sich in der Regel chronifizieren.

Kommt Robin­son in Gesell­schaft, kann dies zunächst ego-lin­dernd wir­ken. Bei Affen sind sozia­le Kör­per-Kon­tak­te der Aus­gleich für men­ta­len Stress. Er wird aber in eine hier­ar­chi­sche Gesell­schaft kom­men und damit auch unter den Egos sei­ner jewei­li­gen Obrig­keit (die auch ziem­lich anonym sein kann, wie im Finanz­ka­pi­ta­lis­mus unse­rer Tage) zu lei­den haben.

Es gibt erstaun­lich vie­le Par­al­le­len zwi­schen der Rol­le des Egos im Indi­vi­du­um und dem der Ober­schicht in einer Gesell­schaft. Bei­de hat­ten ursprüng­lich die Funk­ti­on dem Gesamt­sys­tem zu die­nen. In gewis­ser Wei­se tun sie dies immer auch noch, aber sie haben sich von Die­nern zu Herr­schern aufgeschwungen.

Ver­mut­lich stan­den am Anfang der Hier­ar­chien sozia­ler Ungleich­heit eine Art Ehren­pri­mat oder auf Zeit ange­leg­te Füh­rungs­auf­ga­ben. Eini­ge der Inhaber(innen) die­ser Posi­tio­nen fan­den Gefal­len an ihrer Macht, mehr­ten sie, wei­ger­ten sich, sie zurück­zu­ge­ben und mach­ten sie schließ­lich erb­lich. (Das glei­che Vor­ge­hen ist aktu­ell bei etli­chen, ursprüng­lich auf Zeit bestimm­ten Füh­rern an ver­schie­de­nen Ecken der Welt zu beob­ach­ten.) Eini­ge waren mit die­sem  Vor­ge­hen erfolg­reich und so ent­stan­den über Jahr­tau­sen­de die teils mons­trö­sen For­men per­sön­li­cher Herr­schaft. Wie bei unse­rem Ego auch hier der Über­gang von einer die­nen­den zu einer  beherr­schen­den, aus­beu­ten­den Rolle.

Sowohl dem indi­vi­du­el­len Ego als auch der gesell­schaft­li­chen Eli­te gelingt es, sich mit vie­ler­lei geis­ti­gen Manö­vern und Blend­werk als legi­tim, natur­ge­ge­ben und alter­na­tiv­los zu set­zen. Bei­spiel Gesell­schaft: Die angeb­li­che Abstam­mung anti­ker Köni­ge von Göt­tern und die irre­füh­ren­den Bezeich­nun­gen „Arbeit­ge­ber“ und „Arbeit­neh­mer“ haben bei­de die­sel­be Funk­ti­on der Ver­schleie­rung, Ver­wir­rung und Legi­ti­mie­rung von sozia­ler Herr­schaft und Aus­beu­tung. Bei­spiel Ein­zel­we­sen: Das Ego erfin­det lau­fend Grün­de, dass es wei­ter aktiv den­ken und füh­len muss. Selbst wenn es die Ein­sicht hat, dass es bes­ser still wäre, gau­kelt es uns vor, dass es dafür arbei­ten, also aktiv sein müsste.

Ober­schicht und Ego erfül­len bei­de auch wich­ti­ge und sinn­vol­le Auf­ga­ben für das Gesamt­sys­tem. Da sie sich aber nach Erfül­lung die­ser Mis­si­on nicht zurück­neh­men, son­dern von ihrer Macht nicht genug bekom­men kön­nen, sind sie bei­de auch im bes­ten Fall läs­ti­ge Beglei­ter, im mitt­le­ren Fall Stres­so­ren und im ungüns­tigs­ten Fall Zer­stö­rer des Gesamt­sys­tems. (Bei­spie­le: Ein Ego kann einen Men­schen zum Bei­spiel in eine töd­li­che Gefahr trei­ben, ein grö­ßen­wahn­sin­ni­ger Füh­rer, wie Hit­ler, einen hal­ben Kon­ti­nent ins Elend stürzen).

Für bei­de gilt auch, dass ihr eigent­li­ches Inter­es­se nicht das Wohl­be­fin­den des Gesamt­sys­tems, sei­ne Aus­wei­tung oder sein Wei­ter­le­ben ist (obwohl sie viel zu die­sen Zwe­cken bei­tra­gen kön­nen), son­dern allein ihre Macht und deren Wei­ter­le­ben. Kon­kret indi­vi­du­ell: Das eigent­li­che Ziel des Egos ist nicht das Wohl­be­fin­den des Kör­pers – sonst gäbe es kein näch­te­lan­ges Grübeln‑, nicht das Über­le­ben des Indi­vi­du­ums – sonst gäbe es kei­ne Sui­zi­de und Selbstmordattentate‑, und auch nicht das der Gat­tung Mensch – sonst gäbe es kei­ne Ver­hü­tung und Ent­halt­sam­keit. Allen die­sen Zwe­cken kann das Ego auch die­nen und tut es in der Regel auch, aber sein urei­gens­tes Inter­es­se ist (zumin­dest ab einem bestimm­ten Erre­gungs­zu­stand) das der fort­ge­setz­ten eige­nen Macht. Es kann zu einer Art geis­ti­gem Krebs wer­den, der zwar Teil des Kör­pers ist, aber nur am eige­nen Wuchern inter­es­siert ist.

Das von Hara­ri soge­nann­te Gil­ga­mesch-Pro­jekt, der Ver­such den Tod zu besie­gen, ist ein typi­scher Ego-Wunsch. Sei­ne Ver­wirk­li­chung wäre übri­gens ein Alp­traum für die Nach­ge­bo­re­nen und im Grun­de auch für das unsterb­li­che Indi­vi­du­um selbst. Jedes alte und schwa­che Tier will in Ruhe ster­ben. Auf­mun­te­run­gen zum Wei­ter­le­ben kom­men bei sozi­al leben­den Säu­ge­tie­ren eher von den Art­ge­nos­sen. Die meis­ten (nicht alle) alten und schwer­kran­ken Men­schen wol­len das auch. Nur ein Ego in der Blü­te sei­ner Macht plant sei­ne eige­ne Unsterblichkeit.

Unser Robin­son wird aber auch auf glei­cher Hier­ar­chie-Ebe­ne sozia­len Pro­zes­sen aus­ge­setzt sein, die ego-stär­kend wir­ken. Stark ver­ein­facht gesagt, kön­nen sich indi­vi­du­el­le Wil­lenspo­ten­tia­le zu einem gemein­sa­men Wunsch zusam­men­schlie­ßen oder sie kön­nen sich in gegen­sei­ti­ger Feind­se­lig­keit auf­schau­keln. Im ers­ten Fall beschließt z. B. eine Dorf­ge­mein­schaft (ohne Anwei­sung der Obrig­keit), gemein­sam einen Tem­pel zu bau­en. Im zwei­ten strei­ten sich z. B. Nach­barn jah­re­lang mit zuneh­men­der Erbit­te­rung um irgend­et­was. Die am meis­ten dra­ma­ti­schen Aus­wir­kun­gen haben Wil­lens­bün­de­lun­gen, wenn sich eine Grup­pe zusam­men­schließt, um feind­se­lig gegen ande­re Indi­vi­du­en oder Grup­pen vor­zu­ge­hen. So kön­nen Pogro­me und Krie­ge ent­ste­hen, die für fast alle Betei­lig­ten ent­we­der mit Tod oder Trau­ma­ti­sie­rung enden. Hier lässt sich ein­wen­den, dass es auch im Tier­reich schon Krie­ge gibt. Auch die („patri­ar­cha­li­schen“) Schim­pan­sen kön­nen im Gegen­satz zu den („matri­ar­cha­li­schen“) Bono­bos Krie­ge gegen Nach­bar­grup­pen füh­ren und sind sogar zum „Völ­ker­mord“ fähig. Auch dafür ist wohl schon stra­te­gi­sches Über­le­gen nötig. Aber die­se „Krie­ge“ haben aus mensch­li­cher Sicht noch etwas Spon­ta­nes, „gesche­hen ein­fach so“. Nur homo sapi­ens hat die Wil­lens­kraft, über Gene­ra­tio­nen wech­sel­sei­tig Blut­ra­che zu üben, jahr­hun­der­te­lang Feind­schaft zu schü­ren, wie z. B. gegen die Juden im mit­tel­al­ter­li­chen Euro­pa, oder jahr­zehn­te­lang gegen ein­an­der auf­zu­rüs­ten wie die „Erb­fein­de“ Deutsch­land und Frankreich.

Zum  Glück für die Mensch­heit gibt es indi­vi­du­ell und kol­lek­tiv nicht nur ego-stär­ken­de son­dern auch ego-schwä­chen­de Mecha­nis­men, denen es in guten Zei­ten gelingt, die Aus­beu­tung durch die „Obrig­keit“ in Gren­zen zu hal­ten. Beim Ein­schla­fen wird das Ego schließ­lich doch abge­schal­tet und der Kör­per kann sich erho­len und auch im Wach­zu­stand set­zen eige­ne kör­per­li­che und emo­tio­na­le Wider­stän­de sowie die der sozia­len Umge­bung in der Regel der aus­ufern­den Akti­vi­tät des Egos erfolg­reich Gren­zen. In Gesell­schaf­ten muss nor­ma­ler­wei­se die Ober­schicht so viel Rück­sicht auf die Beherrsch­ten neh­men, dass die­sen auch etwas Lebens­freu­de bleibt, sie nicht revol­tie­ren oder es nicht zum Kol­laps der Gesell­schaft kommt (sonst wäre die Geschich­te noch viel bru­ta­ler ver­lau­fen, als sie es ist).

Dau­er­haft sta­bil ist im oben zitier­ten mit­tel­al­ter­li­chen Schlacht­ge­tüm­mel aber kei­ne Stel­lung. Das Ego ist süch­tig nach sich selbst und sei­ner Macht oder kann es zumin­dest bei ent­spre­chen­der Sti­mu­lie­rung leicht werden.

Sei­ne Selbst­sucht äußert sich in sei­nem Wunsch, unter­hal­ten und sti­mu­liert zu wer­den. Der welt­wei­ten Ver­brei­tung und Nut­zung von Unter­hal­tungs­elek­tro­nik scheint kei­ne Gren­ze gesetzt zu sein. Sie hat unser Pri­vat- und Fami­li­en­le­ben mehr ver­än­dert als alle ande­ren Erfin­dun­gen der letz­ten 2.000 Jah­re. Auch Tie­re kön­nen Schwie­rig­kei­ten damit bekom­men, eines ihrer Orga­ne zu wenig zu benut­zen. Wenn sie nicht viel nagen, wach­sen z. B. Mäu­sen die Schnei­de­zäh­ne so stark, dass es ihnen den Kie­fer auf­reißt und sie ver­hun­gern.  Aber sie schei­nen ein Gleich­ge­wicht gefun­den zu haben, müs­sen nicht immer noch mehr nagen, wie es bei mensch­li­chen Kom­mu­ni­ka­ti­on und Unter­hal­tung der Fall zu sein  scheint. Eben das ist ein Zei­chen für Sucht, sie kann nicht gestillt wer­den, son­dern wird mit jeder Befrie­di­gung stär­ker. In der Regel sti­mu­liert andau­ern­de Unter­hal­tung das Ego noch mehr, macht sein Abschal­ten schwie­ri­ger, wäh­rend wei­che­re Regun­gen oft dar­un­ter verwahrlosen.

Sebas­ti­an Haff­ner schreibt irgend­wo, dass Macht die stärks­te Dro­ge sei. Das gilt ver­mut­lich nur für Men­schen, nicht für Tie­re. Die groß­ar­ti­gen bis grö­ßen­wahn­sin­ni­gen Pro­jek­te frü­he­rer abso­lu­ter Herr­scher rüh­ren nicht daher, dass die­se beson­ders schlech­te Cha­rak­te­re waren, son­dern dass sie den Ver­su­chun­gen ihrer Posi­ti­on erle­gen sind, wie ihnen (fast) jeder erlie­gen wür­de. Soweit sie übri­gens kein Ver­ant­wor­tungs­ge­fühl hat­ten, hielt sich ihr eige­nes Lei­den unter ihrem Ego in Gren­zen. Für Ihre Unter­ta­nen war es umso schlim­mer. (Natür­lich kom­men Macht­kämp­fe auch im Tier­reich vor. Brunf­t­i­ge Hir­sche kämp­fen bis zur Erschöp­fung mit Art­ge­nos­sen, männ­li­che Löwen ris­kie­ren ihr Leben um Rudel­füh­rer zu wer­den. Aber sie tun dies instinkt- und hor­mon­ge­steu­ert, nicht mit lang anhal­ten­dem Willen.)

Die Lust an der Macht ist in der Lage, homo sapi­ens alle Instink­te und Intui­tio­nen des Kör­pers und alle sozia­len Prä­gun­gen, die ihr ent­ge­gen­ste­hen, ver­ges­sen zu las­sen. Das geht nicht von jetzt auf nach­her, aber doch rela­tiv schnell. Jugend­li­che Mas­sen­mör­der im Kon­go erin­nern sich alle noch an ihren ers­ten Mord. Den meis­ten ging es danach tage­lang schlecht, vie­le muss­ten sich über­ge­ben. „Beim zwei­ten Mal ging es bes­ser. Beim drit­ten Mal ver­spür­ten sie ein Hoch­ge­fühl.“ („Der Mör­der in uns“, Prof. Tho­mas Elbert in der Stutt­gar­ter Zei­tung vom 30.1.15) Es gibt ver­mut­lich kei­ne noch so grau­sa­me Untat an Art­ge­nos­sen, zu dem die Macht­gier des Egos das an sich lie­bes­fä­higs­te und lie­bes­be­dürf­tigs­te Geschöpf des Pla­ne­ten nicht trei­ben könnte.

Die Macht­gier des Egos wen­det sich zwar häu­fig nach außen, kann sich aber auch nur auf den eige­nen Kör­per bezie­hen. Bei­spie­le wären extre­me Aske­se, exzes­si­ver wil­lens­be­ton­ter Sport oder auch Selbstmordattentate.

„Tri­umph des Wil­lens“ hieß ein berühmt gewor­de­ner Film von Hit­lers Lieb­lings-Regis­seu­rin  Leni Rie­fen­stahl. Exzes­se des Wil­lens kom­men ver­mut­lich in vie­len indi­vi­du­el­len Leben in gewis­ser Regel­mä­ßig­keit vor, teil­wei­se sind sie von außen erzwun­gen, wie z. B. durch Prü­fungs- oder Arbeits­druck, oft aber auch selbst pro­du­ziert. Von den kol­lek­ti­ven Wil­lens­exzes­sen war der Faschis­mus, ins­be­son­de­re der Natio­nal­so­zia­lis­mus für Euro­pa das bis­her ein­drück­lichs­te Bei­spiel. Man kann sich dar­über strei­ten, ob das Ego selbst schon „böse“ ist, der Tri­umph des Wil­lens ist in jedem Fall mit sehr viel Bösem verbunden.

5. Das Ego ist eine Illusion

Das mei­nen zumin­dest vie­le mys­ti­sche, hin­du­is­ti­sche und bud­dhis­ti­sche Tra­di­tio­nen, die ich nicht ange­mes­sen wie­der­ge­ben kann. Aber auch schon aus All­tags­er­fah­run­gen las­sen sich Argu­men­te für die­se The­se vorbringen.

Ers­tens: Unser Den­ken und Füh­len ist viel weni­ger frei, als uns lieb ist. Wir ahnen, manch­mal spü­ren wir es auch, dass Stim­mun­gen, Kör­per­be­find­lich­kei­ten, sozia­le Umge­bung und vie­les mehr, bestimm­te Gedan­ken und Gefüh­le (fast) zwin­gend nach sich zie­hen. Also ist selbst das Den­ken, das Han­deln umso mehr, oft nicht frei, nicht Sub­jekt, son­dern Objekt, dann „wer­den wir gedacht“. Wil­helm Busch dich­te­te so nett:

(…) Mein Stolz der wur­de klei­ner. Ich ahn­te mit Verdruss,
es kann doch unser­ei­ner nur den­ken, was er muss.

Zwei­tens: Auch die sub­jek­ti­ve Wahr­neh­mung, dass ich lebe, hand­le, mich bewe­ge, wie ich will, ist höchs­tens die hal­be, ver­mut­lich aber noch weni­ger Wahr­heit. Die meis­ten wesent­li­chen Lebens­voll­zü­ge gesche­hen ohne unse­ren Wil­len: Geburt und Tod, Stoff­wech­sel, Erkran­kung und Gesun­dung usw. Wir wer­den viel mehr gelebt, als dass wir wil­lent­lich leben. Die Natur wickelt unser Leben nicht wesent­lich anders ab als das eines Ein­zellers oder einer Ein­tags­flie­ge. Nur unser Bewusst­sein wehrt sich nor­ma­ler­wei­se mit allem, was ihm zur Ver­fü­gung steht, gegen die­ses Erle­ben der eige­nen Ohnmacht.

Drit­tens: Die Erfah­rung des ganz­heit­li­chen, nicht in Sub­jekt-Objekt-Ver­hält­nis­se getrenn­ten Lebens ist uns nicht völ­lig fremd. Wir erken­nen sie noch in jedem Tier, in jedem Kind. Und in glück­li­chen, ent­spann­ten Momen­ten erle­ben wir uns auch kurz­zei­tig genau­so „eins“ mit allem, wie wir es aus „grau­er Vor­zeit“ noch erinnern.

Das Ego half uns – trotz aller „Kol­la­te­ral­schä­den“-, von weit­ge­hend wehr­lo­sen Wesen in der Mit­te der Nah­rungs­ket­te zu Beherr­schern des Pla­ne­ten auf­zu­stei­gen. Den Illu­si­ons­cha­rak­ter des Egos zu erken­nen und zu erle­ben, könn­te not­wen­dig sein, ihn wenigs­tens für uns bewohn­bar zu erhalten.

Per­sön­li­che Nachbemerkung

Die­ser Text (ursprüng­lich ver­fasst als Brief an Yuval Hara­ri) hat mich über Mona­te beschäf­tigt. Oft wehr­te sich mein inne­rer Stein­zeit­mensch dage­gen, woll­te ein­fach leben und nicht ange­strengt nach­den­ken. Ein­mal ent­stand im Halb­schlaf der Satz „Intel­lek­tua­li­tät ist Faschis­mus“. Das mein­te sicher­lich nicht Den­ken an sich, son­dern nur das wil­lens­be­ton­te, ange­streng­te Den­ken und das klug sein wol­len. Die Insti­tu­tio­nen, in denen unser Ego in die­se intel­lek­tu­el­le Rich­tung sti­mu­liert wird, sind Schu­len und Uni­ver­si­tä­ten. In Kinos, Fuß­ball­sta­di­en, Fern­seh­fil­men, soge­nann­ten sozia­len Netz­wer­ken u. a. wird dage­gen mehr die emo­tio­na­le Sei­te unse­res Egos gepuscht.

Bis­her hat­ten alle Reli­gio­nen neben vie­lem Unheil, das sie selbst anrich­te­ten oder legi­ti­mier­ten, immer auch die Bot­schaft, dass wir abhän­gi­ge, sterb­li­che Geschöp­fe sind, die gar nicht viel wis­sen. Auch vie­le ernst­haf­te moder­ne Wis­sen­schaft­ler ver­tre­ten im Prin­zip die­se Ansicht. In der vul­gä­ren Wis­sen­schaft- und Tech­nik­gläu­big­keit unse­rer Tage spielt dage­gen die Ehr­furcht vor der Mys­te­ri­um der Schöp­fung (der Mate­rie), die seit Jahr­tau­sen­den auf dem Rück­zug ist, kei­ne gro­ße Rol­le. Unse­re eige­nen (Wil­lens-) Fähig­kei­ten fei­ern wir dage­gen umso hef­ti­ger. Dass wir im Ego auch einen „a prio­ri“ ein­ge­bau­ten lebens­feind­li­chen Aspekt unse­rer Intel­li­genz erken­nen, geschieht wahr­schein­lich im All­tag der klei­nen Leu­te gar nicht so sel­ten, für Wis­sen­schaft, Tech­nik, Poli­tik und zuneh­men­dem Maße auch Kul­tur, Kunst und sogar Reli­gi­on ist dies eher ein Randthema.

Solan­ge wir (frei nach Pau­lus) mensch­li­che Weis­heit und mensch­lich pro­du­zier­te Emo­tio­na­li­tät höher schät­zen als gött­li­che (= natür­li­che) Tor­heit wer­den wir zwar immer mäch­ti­ger wer­den, jede Men­ge teils segens- teils fluch­be­la­de­ne Erfin­dun­gen bewerk­stel­li­gen, aber kaum Ruhe, Frie­den und Glück fin­den – mit der Ten­denz, immer mehr zum Krebs­ge­schwür am Pla­ne­ten und an unse­rem eige­nen Kör­per zu werden.