Reflexionen im Anschluss an Yuval Hararis Bestseller
Gastbeitrag von Wilfried Eißler
I. Schimpansen glauben an Geister, weil Träumen älter als Denken
II. Menschen sind von allen Lebewesen am meisten auf Liebe angelegt
III. Die Steinzeit war die Zeit der Großen Mutter
IV. Mit der Kognitiven Revolution begann nicht nur der Leidensweg des Planeten, sondern auch des homo sapiens – Ein Versuch über das Ego
- Wie entsteht das Ego?
- Was kann das Ego?
- Was kann das Ego nicht?
- Der Preis des Egos
- Das Ego ist eine Illusion
Persönliche Nachbemerkung
I. Schimpansen glauben an Geister, weil Träumen älter ist als Denken
Harari nennt als wesentliches Ergebnis der Kognitiven Revolution die Fähigkeit des homo sapiens, sich Dinge vorzustellen, die nicht existieren, und darüber zu kommunizieren. Aber ist die Vorstellungskraft nicht viel älter als die Kommunikationsfähigkeit?
Träume beinhalten häufig nicht existierende Dinge, sind widersprüchlich, irrational, magisch und voller Zauber. Und nach allem, was wir wissen, ist Träumen älter als rationales Denken. Lebensgeschichtlich: Wir haben schon im Mutterleib begonnen zu träumen, einer vergleichsweise reizarmen Umgebung. Ich glaube kaum, dass es dort die Funktion hat, als die wir Erwachsene es erleben, nämlich als Verarbeitung von Tageserleben. Es scheint eine grundlegende Arbeitsweise des Gehirns zu sein. Auch als Erwachsene müssen wir träumen, um nicht verrückt zu werden. Weiterhin: Kleine Kinder leben zum Teil noch in einer ganzheitlich erlebten, magischen und zauberhaften Welt, bis sie „vernünftig“ werden. Historisch verläuft die Entwicklung vom magischen zum immer rationaleren Erleben, deswegen stehen auch die Mythen vor der Geschichtsschreibung, die immer rationaler wird. Das Erleben oder Empfinden von magischen oder intuitiven Zusammenhängen hat die Menschheit durch viele Jahrtausende begleitet, manche Erwachsene haben noch heute diese Fähigkeit. Erst die moderne wissenschaftliche Sichtweise hat solches Erleben fast unsichtbar werden lassen.
Alle Säugetiere, möglicherweise sogar alle Wirbeltiere, träumen, höchstwahrscheinlich ähnlich irrational, magisch und zauberhaft wie wir. Das schließt vernünftiges Verhalten nicht aus. Subjektiv dürften sie sich eher in einer Art magischen Welt befinden. Der Warnruf eines Affen: „Achtung Löwe!“ hieße dann besser übersetzt: „Achtung Löwengeist!“
Selbst wir abgeklärten Erwachsenen des 21. Jahrhunderts erleben in unseren entspanntesten und glücklichsten Momenten die Welt auch als irgendwie magisch und zauberhaft oder haben zumindest eine Ahnung davon. Vielleicht ist diese Wahrnehmung ja die natürliche, und die nüchterne Vernunft zwar für vieles nützlich, aber doch nur eine recht moderne Möglichkeit unseres Bewusstseins.
II. Menschen sind von allen Lebewesen am meisten auf Liebe angelegt
Säuglinge haben ein Grundbedürfnis: sie wollen lieben. Zwei Botschaften vermitteln sie an die Mutter (und andere): Ich brauche dich, bin total abhängig von dir. Und: Du bist die Welt für mich. Ich liebe dich. Ich glaube und vertraue dir blind. Natürlich bedürfen sie auch der Nahrung und der Fürsorge. Aber wenn beides auch nur einigermaßen stimmt, werden sie immer mehr Liebe geben, als sie bekommen. Kinder tun vieles, um es ihren Eltern recht und sie glücklich zu machen (und so manches hat sich dabei schon nachhaltig überfordert). Dieses bedingungslose Ja zum Leben und zur sozialen Gemeinschaft, in die sie hineingeboren werden, ist biologisch sinnvoll. Kein anderes Tierbaby ist eine solche Last für die Mutter und das auch noch für eine der längsten Kindheitsphasen, die es gibt. Menschenbabys können sich nicht mal am Fell der Mutter festkrallen wie Affen, sondern müssen getragen werden. Die jahrelange Unterstützung durch die Mutter und beider durch die Gemeinschaft ist aber überlebenswichtig.
Um die Bindung der Mutter und anderer Erwachsener an das Kind herzustellen, arbeitet die Natur mit verschiedenen Mechanismen, z. B. dem Kindchen-Schema, aber auch mit der Liebe des Kindes. Ein Baby, das nur geliebt und versorgt werden will, zu verlassen, dürfte einer Mutter viel leichter fallen, als eines, das ihr etwas anbietet, auf das sie schon seit Kindesbeinen auch angewiesen, programmiert ist: (bedingungslose) Liebe.
Vielleicht ist dieser Mechanismus sogar gefühlsmäßig nachvollziehbar: Im Umgang mit kleinen Kindern bringt uns das Kindchen-Schema dazu, sie „süß“ zu finden. Aber richtig fürsorglich macht uns ihr bedingungsloses Vertrauen, das aus ihren Augen spricht, ihre Liebe.
Vermutlich gab es über Millionen Jahre der Hominiden-Entwicklung einen Wirkungszusammenhang zwischen zunehmender Aufrichtung, Verengung des weiblichen Beckens, früherer Geburt, längerer Kindheits- und Abhängigkeitsphase, stärkerer Bindung zwischen Mutter und Kind und größerer Liebesfähigkeit aller Individuen. Harari beschreibt wesentliche Teile dieser Wirkung kurz und präzis auf den S. 18 ff (deutsche Ausgabe). Aber wahrscheinlich kann man auf diese Weise auch begründen, wie die Liebe in die Welt kam, eine die (weit) über die Bindungen bei anderen Säugetieren hinausgeht. Natürlich sind auch ältere Grundstrukturen des Verhaltens von Wirbeltieren, wie z. B. Aggression oder Konkurrenz, weiterhin wirksam und sinnvoll, aber sie wurden stark überformt. Empathie, Nächstenliebe, Fürsorge, Freundlichkeit u. a. sind so über viele Generationen gewachsen.
Wahrscheinlich verdanken wir nicht nur unsere größere soziale Formbarkeit, sondern auch unsere größere Sensibilität und Empfindlichkeit der Tatsache, dass wir Frühgeburten sind.
Menschen können Liebe gegenüber anderen Lebewesen und der gesamten Schöpfung empfinden. Und sie fühlen sich meistens auch am besten, wenn sie das tun (können). Wenn die Buddhisten und die Mystiker aller Religionen recht haben, finden unser Geist und Körper ihre Ruhe erst in einer abgeklärten Milde allen Dingen gegenüber. (Im Buddhismus gehört die Liebe zwar noch in den Bereich des Anhaftens. Das Lächeln des Buddhas weist aber darauf hin, dass die Erleuchtung eine freundliche Gleich-Gültigkeit beinhaltet.) (Gelassene) Liebe wäre dann unsere natürliche Bestimmung, in der wir uns am wohlsten fühlen.
(Vermutlich fühlen sich Hyänen mit ihrem sehr hohen Testosteron-Spiegel auch am wohlsten beim Ausleben ihrer extremen Aggression. Mit unserer Liebesfähigkeit, die uns zusammen mit unserer Intelligenz scheinbar so sehr über die Tierwelt erhöht, sind wir genauso nur ein besonderer Spielball der Evolution wie sie.)
Wenn diese These (der Bestimmung zur Liebe) stimmt, müssten sich alle Hominiden gegenüber den noch nicht völlig aufrecht gehenden Schimpansen und Bonobos durch eine größere Fürsorglichkeit auszeichnen. Das ist meines Wissens für die Neandertaler erwiesen. Weiterhin müssten Tötungsdelikte zumindest innerhalb der Gruppe noch geringer sein als bei den Menschenaffen, also praktisch nicht existent. Auch tödliche Gewalttätigkeiten zwischen den Gruppen dürften geringer sein als bei diesen. Gibt es darüber archäologische Befunde? Gibt es Funde, die darauf hinweisen, dass die Kognitive Revolution die Tötungsdelikte (stark) erhöht hat?
Die Bestimmung zur Liebe dürfte auch die Herausbildung hierarchischer Gesellschaften ermöglicht haben. Wenn man einen Gedanken von Sai Baba (in: Sai Baba sprich über Psychotherapie, Grafrath bei München 2000, S. 289ff) weiterspinnt, gelang die Zähmung von Nutztieren nicht nur durch Auswahl und Züchtung der zahmsten Tiere sondern auch dadurch, dass die Menschen ihr angeborenes Vertrauen gegenüber der Mutter und Leittieren der Herde missbrauchten, indem sie sich selbst an deren Stelle setzte. Für die heutige Massentierhaltung gilt das vielleicht kaum noch, in den vielen Jahrtausende Tierhaltung davor war ein übermächtiger Mensch für das Nutztier meistens gegenwärtig. Die Zähmung von Wildtieren gelang ja auch nur bei solchen Arten, die in ihrem Sozialverhalten Rollen vorgesehen hatten, in die der Mensch anstatt des natürlichen Partners schlüpfen konnte. Vermutlich waren die ersten Ziegen, Schafe und Rinder am Feuer der Menschen übriggebliebene Jungtiere, die Menschenkindern als Spielgefährten dienten. Die Tierkinder akzeptieren die stärkeren und cleveren Menschen als Mutter- und Leittierersatz.
Wahrscheinlich geschah bei der Zähmung und Disziplinierung des homo sapiens im Prozess der Herausbildung hierarchischer Gesellschaften ein ähnlicher Missbrauch natürlicher (Liebes-) Fähigkeiten. Als „Väterchen“ Stalin starb, weinten Millionen Sowjetbürger, darunter auch Hunderttausende Terroropfer. Sicherlich ist es nicht nur Furcht, die soziale Herrschaft absichert, sondern auch dem Menschen angeborene Freundlichkeit, Geduld und Liebesfähigkeit, die ihn Dinge ertragen lässt, die sich kein Wildtier freiwillig gefallen lassen würde. Wahrscheinlich neigen Menschen dazu, selbst ihre Unterdrücker irgendwie (auch) zu lieben. Die Intellektuellen etwas weniger, dafür das einfache Volk umso mehr. Und bis ins 20. Jahrhundert hinein war selbst in hochentwickelten Gesellschaften soziale Herrschaft immer auch als persönliche Herrschaft im unmittelbaren Lebensumfeld zu erleben (z. B. als Guts- oder Dienstherr).
Yuval Noah Harari: Sapiens. Eine kurze Geschichte der Menschheit
Erweiterte Taschenbuchausgabe von 2024
Junger Schimpanse in der Wilhelma, Stuttgart
III. Die Steinzeit war die Zeit der Großen Mutter
Auch wenn fast alle agrarischen und industriellen Gesellschaften patriarchalisch waren und es sogar patriarchalische Dokumente von 10.000 v. Chr. gibt (S. 181) spricht doch für die vielen Jahrtausende davor sehr viel mehr für eine Vorrangstellung der Frauen als dagegen.
Eine ausgeprägte soziale Herrschaftsstruktur gab es sicher vor der Kognitiven, möglicherweise sogar vor der Neolithischen Revolution nicht, einfach weil die Gruppen zu klein und die Arbeitsteilung zu gering war. Es gab aber sicher Rangunterschiede, wie sie auch bei Menschenaffenhorden vorkommen. Dafür, dass dabei Frauen keine schlechte Position hatten, sprechen mehrere Punkte:
- Bei Experimenten mit Achselschweiß unterhalb der bewussten Wahrnehmungsgrenze zeigt sich, dass nur ein Körpergeruch von allen Probanden (Männer und Frauen verschiedener Altersstufen) gleichermaßen als angenehm empfunden wird, nämlich der von Frauen im Alter von etwa 45–55 Jahren. Die einfachste Erklärung dafür ist, dass die Nähe zu ihnen mit dem besten und sichersten Platz in der Gruppe kombiniert war – über so viele Jahrtausende, dass dies genetisch codiert wurde.
- Archäologische Funde, die trotz der auch von Harari vermuteten Vielfalt der Steinzeit-Kulturen erstaunlich einheitlich sind: Angefangen von der „Venus vom Hohlen Fels“ (ca. 40.000 Jahre) gibt es zumindest im europäisch-vorder-asiatischen Raum bis in die Antike hinein eine ununterbrochene (?) Kette von sogenannten Venus-Figurinen, wohlbeleibte weibliche Statuen, die in der Frühzeit stets kopf- oder gesichtslos waren. Sie wurden nur in der Nähe der Feuerstelle gefunden. (Diesen erhaltenen Figuren aus Elfenbein oder Knochen gingen sicher Tausende von Figuren aus Holz voraus, das viel leichter zu bearbeiten war.) Darstellungen von Tieren (Jagd- und Großwild) sind bei Wildbeutern ebenso alt und häufig, männliche Figuren sind sehr selten und eher jüngeren Datums. Nach dem Übergang zu Ackerbau und Viehzucht wird aus der Venus der Vorzeit die Fruchtbarkeitsgöttin, die Magna Mater.
- Mythologische (also älteste mündliche) Überlieferungen: Noch im antiken Griechenland wurde bei allen öffentlichen Opfern das erste stets Hestia, der Göttin des Herdfeuers, dargebracht. „Ihr weißes, gestaltloses (!) Abbild, wahrscheinlich auch ihr meist verbreitetes Wahrbild war der Omphalos oder Nabelstein in Delphi.“ (Robert von Ranke-Graves: Griechische Mythologie, Reinbek 1960, 11. Aufl. 2011, S. 13) Alle antiken Mythen lassen sich deuten als Schilderung des Übergangs vom Matriarchat zum Patriarchat mit vielen unterschiedlichen Zwischenformen. In der antiken Götterwelt wurde dann, bei männlicher Vorherrschaft, ein gewisser Kompromiss zwischen weiblichen und männlichen Göttern gefunden. Dieselbe Entwicklung fand im Norden Europas statt (vgl. dazu Gisela Bleibtreu-Ehrenberg).
- Grundsätzliche Überlegungen: Bei allen noch in der Neuzeit vorkommenden Wildbeutergruppen gab es zumindest eine gewisse Arbeitsteilung mit zeitweiser Trennung von Frauen und Männern. Die Betreuung von (kleinen) Kindern war ausschließlich oder überwiegend Frauenarbeit. Weiterhin sind Männer durchschnittlich etwas größer und stärker als Frauen. Aus all dem folgt zwangsläufig ein etwas unterschiedlicher Aktionsradius der beiden Geschlechter. Frauen dürften näher am vor Raubtieren und Kälte schützenden (Haupt-) Feuer geblieben sein. Dort dürften sie eher das Sagen gehabt haben, das legen auch die archäologischen und mythologischen Befunde nahe. Männer dürften bei der (Großwild-)Jagd dominant gewesen sein.
Ein Patriarchat kann es erst geben, wenn Vaterschaft bekannt ist. Diese war aber den Frühmenschen genauso unbekannt wie heute den Menschenaffen. Selbst die Erkenntnis, dass (Hetero-)Sexualität, Schwangerschaft und Geburt zusammenhängen, dürfte vergleichsweise jungen Datums sein. (Noch in antiken Mythen können Stuten vom Nordwind und Frauen beim Baden durch Wassergeister geschwängert werden.) Mutterschaft ist hingegen bei allen Säugetieren unmittelbar und dauerhaft erlebbar. Es dürfte viele Jahrtausende gedauert haben, bis der Zusammenhang zwischen (Hetero-) Sexualität und Geburt Allgemeinwissen wurde und auch dann war (bei möglicher Promiskuität der Frauen) Vaterschaft noch lange nicht sicher und noch weniger sozial anerkannt. (Die Unkenntnis dieses Zusammenhangs verhinderte sicher nicht, dass Väter und Kinder eine besonders enge Beziehung in der Gruppe eingehen konnten, weil sie sich vermutlich stärker zueinander hingezogen fühlten als zu anderen. (Gibt es Beobachtungen zu „intuitiver Vaterschaft“ bei Menschenaffen?)
Frühe Religionen haben zwei Zweige, die Verehrung der Ahnen und die Verehrung der Natur. Zumindest bis zum Zeitpunkt der sozialen Anerkennung von konkreter Vaterschaft konnte es nur eine weibliche Ahnenreihe geben. Die Venus vom Hohlen Fels und ihre vielen Nachfolgerinnen sind möglicherweise Darstellungen einer mythischen Ahnfrau, betont durch die Kopf- bzw. Gesichtslosigkeit, vielleicht aber auch Attribute der Würde der in ihrer Tradition stehenden aktuellen Clanchefin.
Ein Teil der Naturgewalten wurde im Kampf gegen Raub- und Beutetiere am deutlichsten erlebt. Vermutlich sind die Tierfiguren ein Versuch, diese Kräfte magisch oder kultisch zu erfassen. Es spricht jedoch vieles dafür, dass die Natur insgesamt eher mit dem Weiblichen als mit dem Männlichen identifiziert wurde. Vielleicht ist schon die Venus vom Hohlen Fels eine, die Naturgöttin. Die spätere Magna Mater war Göttin der Natur und aller ihrer Geschöpfe. Noch die griechische Artemis ist Herrin der Waldes und der Tiere. Nach Ranke-Graves wurden erst im Übergang zum Patriarchat viele der ursprünglich weiblich assoziierten Naturphänomene männlich. So blieb z. B. bei den Griechen und Römern der Mond weiblich besetzt, die Sonne wurde männlich. Damit wurde die Welt zweigeschlechtlich und polar: einfachstes Beispiel: Mutter Erde und Vater Himmel. Nur in einem einzigen Tempel weltweit gelang es der männlichen Priesterkaste, die Statue der Göttin ganz hinauszuwerfen, in dem von Jerusalem – der Ursprung der drei monotheistischen Religionen. (Sind Worte wie Erde, Materie, Material in allen Sprachen weiblich oder dem Mütterlichen verwandt?)
Die wichtigsten Mysterien im menschlichen Leben sind bis heute Geburt und Tod. Beim erfreulicheren der beiden, der Geburt, ist die Mutter unmittelbar beteiligt und Lebensspenderin. Der Tod wird zwar im europäischen Kulturraum mit einem männlichen Gerippe, dem Sensenmann oder „Freund Hein“ verbildlicht, es gibt aber auch Hinweise darauf, dass hier ebenfalls etwas Weibliches wirkt, wie Vorstellungen vom Wiedereingehen in den Schoß von Mutter Erde. Nach der Mutter mit dem Kind ist die häufigste Darstellung Marias, in deren Verehrung der alte Magna-Mater-Kult bis heute weiterlebt, die Pietà, die Mutter mit dem toten Sohn auf dem Schoß. (Liegen Erd- bzw. Feuerbestattungen unterschiedliche Todesvorstellungen zugrunde?)
Auch die Lebenserfahrung jedes Menschen spricht für ein magisches oder kultisches Ehrenprimat der Frau. Die Mutter ist die erste „Gottheit“ für jeden Säugling, andere „Götter“ treten erst später hinzu. So wie das kleine Kind von der Mutter getragen wird (das Ablegen der Säuglinge in Wägen oder ähnlichem ist ja erst neueren Datums), die ihm zunächst alles ist, wird der erwachsene Mensch von Mutter Erde getragen, die ihm auch alles ist, jedenfalls wenn man ihre Pflanzen und Tiere hinzu nimmt.
Einige dieser Aspekte hat Hermann Hesse in seinem Gedicht „Vergänglichkeit“ verarbeitet:
(…)
Bald weht der Wind über mein braunes Grab.
Über das kleine Kind beugt sich die Mutter herab.
Ihre Augen will ich wiedersehen, ihr Glück ist mein Stern.
Alles andere mag gehn und verwehn. Alles stirbt, alles stirbt gern.
Nur die ewige Mutter bleibt, von der wir kamen.
Ihr spielender Finger schreibt in die flüchtige Luft unsere Namen.
Die Übereinstimmung des weiblichen Zyklus, ureigenem weiblichem Erleben, mit den Mondphasen, der nach der Sonnenbewegung spektakulärsten regelmäßigen Himmelsbewegung, muss den Menschen der Vorzeit ohne Wissen, ohne Bilder und Filme, wie ein Mysterium erschienen sein. Lunarsymbolik ist schon in den ältesten bildlichen Darstellungen enthalten. Auch deswegen mussten Frauen eine besondere Verbindung zum Überirdischen haben.
Kultische Verehrung von Frauen ist grundsätzlich gut auch in einer patriarchalischen Gesellschaft möglich. Beispiele gibt es viele: die Göttinnen der Antike, der Marienkult der orthodoxen und katholischen Kirche, die Verehrung weiblicher Gottheiten im Hinduismus u.a. In allen diesen Fällen gibt es aber auch männliche Kultbilder, die gleich- oder übergeordnet sind. Da diese aber für die Vorzeit fehlen, ist es sehr unwahrscheinlich, dass Frauen sozial untergeordnet waren.
Die Neolithische Revolution fand also vor „matrifokalem“ Hintergrund statt und hat zu einem Matriarchat geführt, das teilweise durch Männer-Opfer für die Fruchtbarkeit der Böden und des Viehs sorgte (nach Ranke-Graves). Der Übergang zum Patriarchat dürfte zuerst bei nomadisierenden Hirtenvölkern geschehen sein, die dann die sesshaften mit Pferden und Pfeil und Bogen überrannten. In Kriegen dominierten generell die körperlich überlegenen Männern, die Frauen waren gezwungen, sich auf den Schutz ihrer Kinder zu konzentrieren.
IV. Mit der Kognitiven Revolution begann nicht nur der Leidensweg des Planeten sondern auch des homo sapiens – Ein Versuch über das Ego
„Menschen sind die unglücklichsten aller Tiere“ (Krishnamurti). Eine Kette von Leiden und Dummheiten, die wir uns selbst und dem Rest der Schöpfung zufügen, zieht sich durch die Geschichte. Das kann kein Zufall sein und ist weder intelligent noch durch tierisches Erbe zu erklären. Dass die frühen Jäger auch Großwild jagen konnten, kann man mit Intelligenz erklären. Dass sie auch die letzten Exemplare für sie ungefährlicher Großtiere ausrotteten, wie auf allen Kontinenten geschehen, kaum. Es muss in unserer Intelligenz etwas geben, das regelmäßig in das Gegenteil umschlagen kann. In Anlehnung an viele Mystiker möchte ich diesen Teil das Ego nennen, eine Instanz in unserem Bewusstsein, die man vielleicht kurz am besten als „Ich will“ bezeichnen kann. Wenn die Menschheit sich seit der Kognitiven Revolution genetisch nicht mehr wesentlich verändert hat, muss damals auch das Ego entstanden sein, zumindest als Möglichkeit für jedes Gehirn. Das Ego angemessen zu beschreiben, dürfte dem Menschen am besten gelingen, dem der Zustand seines Bewusstseins mit und ohne Ego gleichermaßen vertraut ist. Davon hat es höchstwahrscheinlich nicht viele gegeben. Andererseits waren wir alle mal Kinder, erleben fast täglich das Ego in unterschiedlichen Stärken und seine Abwesenheit jede Nacht zumindest im Tiefschlaf.
- Wie entsteht das Ego?
(Dazu können Kinderpsychologen und Hirnforscher sicher einiges sagen.) Mir scheint klar, dass es beim Säugling noch nicht vorhanden ist. Natürlich haben auch sie Bedürfnisse, Charakter, Individualität, auch eigenen Willen. Das unterscheidet sie übrigens nicht von anderen Säugetieren. Die ununterbrochene Kette von mehr oder weniger gefühlsbeladenen Gedanken, die den Rest-Organismus (im Folgenden verkürzt Körper genannt) tyrannisiert (Richard David Precht), bildet sich erst später heraus. Denken ist schwer ohne Sprache vorstellbar, und vielleicht geschieht es im Verlauf des Spracherwerbs, in dem das Kind erst von sich in der 3. Person und dann erst als „ich“ spricht, dass ein dauerhaftes Ich-Bewusstsein entsteht.
Eine zweite Erklärungsmöglichkeit des Egos geht meines Erachtens über die manipulativen Möglichkeiten der Hand. Die Spielmöglichkeiten von Wildschweinferkeln sind überschaubar: sich gegenseitig jagen, wegschubsen, bespringen und die Nase überall reinstecken. Das tun gleich weit entwickelte Menschenkinder im Wald grob gesagt auch. Aber sie haben noch viel mehr Spielmöglichkeiten: Äste entlauben, Steine zerschlagen, mit Stöcken oder Steinen werfen, bauen und wieder einreißen u. a. m. Beim weltweit beliebten Spiel im Sandkasten oder mit Bauklötzen erlebt das Kind, dass es Gebilde bauen und wieder zerstören kann. Spaß machen kann beides. (Vielleicht werden in dieser Entwicklungsphase Macht und Machen, einschließlich Zerstören, im Gehirn mit Lustgefühl gekoppelt.) Das alles verdanken wir unserer Hand und dem Werkzeuggebrauch, den sie ermöglicht. Unsere Intelligenz ist deswegen keine beschauende oder sinnierende, sondern manipulativ, machend, und dürfte sich darum in vielem z. B. von der der Wale unterscheiden. Natürlich gehören zur menschlichen Wachheit auch das Beherrschen der eigenen Glieder, das Beobachten der Umwelt und der Kontakt mit Artgenossen, wie bei allen sozial lebenden Säugetieren. Aber die Fähigkeit des Gestaltens und Machens ist bei ihnen viel geringer ausgeprägt.
Es ist sicher nicht nur in der deutschen Sprache so, dass alle Wörter, die Denkprozesse beschreiben ursprünglich hand-werkliche oder körperliche Vorgänge bezeichnen, wie z.B. ver-stehen, be-greifen, er-fassen. Vermutlich gibt es auch nicht nur im Deutschen einen Zusammenhang zwischen Machen und Macht. Machen gibt Macht über die Umwelt und deshalb ist das Erleben von Macht bei keinem Säugetier so groß wie bei homo sapiens.
Vielfältige soziale Prozesse sorgen ebenfalls dafür, dass sich ab der späten Kindheit ein Ich herausbildet, das jedenfalls im wachen Zustand recht stabil ist. Dieses Ich lässt uns empfinden und sagen, dass wir einen Körper haben – nicht, dass wir einer sind. Es herrscht über den Körper in dem Sinne, dass es versucht, möglichst alle bewussten Vorgänge über seine Kommandozentrale laufen zu lassen. Gelegentliches spontanes Handeln ist trotzdem weiterhin möglich. Es wird jetzt aber als etwas Besonderes erlebt, weil es die Ausnahme von der Regel, eine kurze Unterbrechung des normalen, eben kontrollierten Handels, darstellt. Ich vermute, dass seit der Kognitiven Revolution jeder (gesunde) Mensch ein solches Ich oder Ego hatte, wenn auch kulturell und historisch vielerlei Ausprägungen möglich waren und sind. Ganz sicher kann jedes Exemplar des homo sapiens ein solches Ego ausbilden (und damit z. B. in modernen Gesellschaften leben). Dass Ego-Bewusstheit nicht die einzige ist, zu der wir fähig sind, merken wir im normalen Alltag nicht nur bei spontanen Handlungen sondern auch dann, wenn wir sehr entspannt sind, z. B. wenn es im Prozess des morgendlichen Aufwachens noch eine Weile dauert, bis die innere Ordnung und Struktur des Ich-Bewusstseins sich wieder aufbaut, ähnlich dem Hochfahren eines Betriebssystems am PC.
Venusfigur aus dem Hohle Fels bei Schelklingen, Schwäbische Alb
Alter ca. 42.000 Jahre
Idol von den Kykladen, Alter ca. 4550 Jahre
2. Was kann das Ego?
Harari schildert sehr eindrücklich, wie sich zu Beginn der Neuzeit im Kampf um die Vorherrschaft auf dem Planeten die Europäer gegenüber den Indern und Chinesen durchsetzten, nicht weil sie über mehr Ressourcen verfügten oder weiter entwickelt waren, sondern weil sie unruhiger und gieriger waren: gieriger nach Wissen, Gold, Eroberungen, Macht und Missionierung. Vermutlich hat sich ein ähnlicher Prozess mehrfach in der Geschichte abgespielt und vielleicht hat Harari damit intuitiv auch einen, vielleicht sogar den wesentlichen Teil der Kognitiven Revolution beschrieben. Vielleicht waren die geistigen Fähigkeiten des homo sapiens gar nicht viel höher als die des Neandertalers. Aber bei uns kam zum Potential der Wille, um nicht zu sagen der Zwang, hinzu, sie auch dauerhaft zu benutzen. Dass sich Werkzeuge über 1 Mio. Jahre praktisch nicht verändern, wie es beim homo erectus der Fall war, war mit sapiens nicht zu machen, dazu war sein Gehirn zu unruhig.
Ich möchte diesen Gedankengang an zwei Beispielen verdeutlichen, einem technologischen und einem sozialen.
Technologisch: Vermutlich hat auch schon der Neandertaler beobachtet, dass Tiere, die an steilen Felswänden abstürzten, unten als leichte Beute zu holen waren. Aus dieser Beobachtung aber durch hartnäckiges Nachdenken, wochenlanges Planen, Ausprobieren, Kommunikation mit vielleicht Hunderten von Artgenossen usw. systematische Hetzjagden vermutlich erst gegen weniger wehrhafte Tiere, dann schließlich sogar gegen Mammuts zu machen, war homo neanderthalensis nicht imstande. Vielleicht ist es aber besser gesagt, dass er es nicht wollte oder nicht wollen konnte. (Hat nicht der Plan, Teile einer Mammutherde mittels Fackeln in Panik zu setzen, sodass sie sich gegenseitig über einen Felsen in den Tod drängen, schon etwas Böses? Was muss es für den sapiens nach vollbrachter Tat für ein Triumphgefühl gewesen sein, solche gottgleichen und intelligenten Riesen in den Tod getrieben zu haben? Fing damals die Geringschätzung der Mitgeschöpfe an?)
Im Sozialen: Wenn ein neues Weibchen in eine Bonobo-Gruppe kommt, steigt bei den Männchen die sexuelle Erregung. Sie werden versuchen, in die Nähe des Weibchens zu kommen und seine Gunst zu erlangen. Käme es nun (was bei Bonobos allerdings ungewöhnlich ist) zu einer vorübergehenden Abtrennung der Männchen von diesem Weibchen, würde der Erregungszustand schnell wieder absinken. Ist dagegen ein Menschenmann verliebt, wird er auch in der Ferne stunden- oder tagelang an die Geliebte denken und sich Strategien der Annäherung überlegen.
Ich glaube, dass uns vor allem dieser anhaltende Wille von anderen Säugetieren und Hominiden unterscheidet. Er gibt unseren Handlungen eine Nachdrücklichkeit und Mächtigkeit, die einmalig auf dem Planeten ist.
Sicherlich gibt es Naturvölker, die nicht so unruhig denken, fühlen und handeln (müssen) wie die heutigen Industrienationen. Vielleicht gilt der berühmte Satz von Pascal, dass das ganze Elend der Menschheit daher rühre, dass kein Mensch eine halbe Stunde ruhig auf seinem Stuhl in einem Zimmer sitzen könne, für sie noch nicht. Vermutlich dürften sich bei näherer Betrachtung aber auch bei ihnen Beweise für ein unruhiges Ego finden lassen.
Unser Verhalten wird also nicht nur von angeborenen Trieben und Instinkten sowie von sozial Gelerntem bestimmt, sondern hat darüber hinaus eine (anhaltende) Willensdimension. Wir konkurrieren und kooperieren wie alle sozial lebenden Säugetiere, aber wir wollen dabei auch gut oder besser sein als andere und können diese Absicht über lange Zeiträume verfolgen. An einer Karriere kann man Jahrzehnte basteln. Geschwisterkonkurrenz kann sich noch im hohen Alter in jahrelangen Erbschaftsstreitigkeiten äußern usw. Auch die Mitglieder einer Schimpansen-Gruppe haben ihre sozialen Rollen, aber sie identifizieren sich nicht damit, wollen nicht gut in ihr sein oder sie gerade im Gegenteil nicht mehr einnehmen, sondern durch eine andere ersetzen usw.
Dabei können wir unseren Willen der nicht-menschlichen Umwelt relativ leicht aufzwingen, weil sie ihm auf lange Strecken nichts Gleichwertiges entgegensetzen kann (die Nutztiere werden sich nie für ihr Leiden bei uns rächen können). Im Umgang mit anderen Menschen stoßen wir auf Mitspieler, die ähnlich geartet sind, und scheitern viel öfter. Noch interessanter ist die Frage, was geschieht, wenn wir auch Bedürfnisse wie die nach Liebe, Geborgenheit, Glück, Freude und ähnlichem mit Willensenergie aufladen, was unvermeidlich geschieht. Es scheint bestimmte Ziele zu geben, die gerade durch das Wollen immer weniger erreicht werden können.
Eine Funktionsweise unseres Egos verdient noch eine ausführlichere Schilderung, ich möchte sie Reflexivität nennen. Das Ego kann Handlungen gedanklich vorweg nehmen, durchspielen und dann entscheiden. Im normalen „Geschäftsablauf“ unseres Alltags werden ständig Verhaltensweisen im Bewusstsein durchgespielt und dann eine davon ausgeführt, die als Folge wieder neue Überlegungen in Gang setzt usw. Überlegen erfordert eine bestimmte Distanzierung von der unmittelbaren Situation, genauer, die Trennung von Subjekt (Ich, der denke) und Objekt (das worüber nachgedacht wird). In dieser Trennung erlebt das Denken sich als frei und souverän, es selbst ist nicht Objekt sondern Subjekt seiner Überlegungen, hat Macht, verschiedene Varianten durchzuspielen (selbst in Situationen, in denen der Körper ohnmächtig ist). Es kann immer weitere Reflexionsebenen eröffnen, also z. B. eine Universalgeschichte ersinnen, sich von ihr distanzieren, sie kritisieren, diese Kritik wieder kritisieren usw. Diese Fähigkeit erleichtert uns die Korrektur von Fehlern und lässt uns immer neue Versuche hin zu einer erfolgreichen Lösung des Problems unternehmen. Ich vermute, dass in der Trennung von Subjekt und Objekt die Millionen Jahre alte Erfahrung der machenden Hand und der benutzten Materie zu einer Grundstruktur unseres Denkens geronnen ist, dass sie eine Art Spiegelung des Machens und der Macht der Hand darstellt.
Unser willensbetontes Verhalten hat uns weit gebracht, zum erfolgreichsten und wohl auch zahlreichsten Säugetier werden lassen. Wir haben uns die Erde untertan gemacht. Selbst in einem Bereich in dem wir über Jahrtausende, wie alle Tiere, ziemlich machtlos waren, nämlich dem von Krankheit und Gesundheit, haben wir inzwischen mächtige Möglichkeiten und so können zumindest die Reicheren unter uns ihrem Leben die eine oder andere Spanne hinzusetzen (z. B. durch eine Operation), was die Bibel noch für unmöglich hielt. Aber – um auch mit Krishnamurti zu schließen: „Erfolg ist Brutalität“.
3. Was kann das Ego nicht?
Kurz gesagt: freiwillig abschalten. Es neigt zu over-doing und dazu, sich aufzublähen. Die Formen, in denen dies geschieht, sind sehr vielfältig, der zugrundeliegende Mechanismus ist immer derselbe. Das Ego hat sich vom Diener unseres Körpers zu seinem Herrn aufgeschwungen und verlässt diesen Platz sehr ungern. Das Verhältnis zwischen Ego und Rest-Organismus ist keines der liebevollen Kooperation sondern eine Art Kampf: Wie bei zwei mittelalterlichen Ritterheeren auf dem Schlachtfeld drängt die eine Seite mal die andere zurück, dann wieder umgekehrt usw. Keine Partei kann die andere ganz besiegen, aber Frieden schließen sie auch nicht.
Wir können das am deutlichsten im Prozess des Einschlafens erleben. Im besten Fall wird unser Wachbewusstsein schnell abgeschaltet und wir fallen in Tiefschlaf. Häufig erleben wir aber auch das obige Schlachtgetümmel: Der Körper will schlafen, wird aber vom Wachbewusstsein, das nicht aufhören will, aktiv zu sein, daran gehindert usw. Auch wenn ein Teil des Egos schlafen will, hilft uns das nicht weiter, oft im Gegenteil. Der Schalter zum Einschlafen kann nur von einer Instanz jenseits unseres Willens umgelegt werden. Es erscheint manchmal so, als ob es sinnvoll wäre, dass das Denken vorm Einschlafen die Tagesereignisse noch verarbeitet, bevor der Schlaf an der Reihe wäre. Manchmal auch, als ob das Bewusstsein nur Opfer einer Überreizung durch die Tagesereignisse wäre und, ähnlich wie z.B. eine durch körperliche Anstrengung überreizte Sehne, einfach seine Zeit braucht, um sich wieder zu beruhigen. Aber hinter dem Denken und seinen Gefühlsanteilen steckt immer auch ein Denken- und Fühlen-Wollen. Und Schlaf und Träumen können die Tagesereignisse viel besser bewerten und verarbeiten und tun dies ja in aller Regel endlich auch. Bei dieser Art des Einschlafens wird deutlich, dass das Ego, das dem Körper tagsüber gute Dienste geleistet hat, ihn nun stresst, ihm Kraft und Regenerationsfähigkeit raubt.
Im Wachzustand verhindert oder erschwert das Ego alle diejenigen Erlebnisebenen, zu denen Kontrolle und die Trennung von Subjekt und Objekt nicht passen: Geborgenheit, Liebe, Hingabe, Selbstvergessenheit, „ganzheitliches Erleben“, bis hin zur „unio mystica“ der Mystiker. Es verabsolutiert sich sosehr, dass unsere normale Wahrnehmung die ist, dass „ich“ einen Körper habe, nicht, dass „ich Körper“ auch über einen Geist verfüge, den ich benutzen kann. Und selbst wenn wir Momente der erlebten Selbstaufgabe, z. B. in der Liebe haben, geschieht das bewusste Erleben und Reflektieren dieser Erfahrungen schon wieder im Ego-Bewusstsein. Wir entkommen unserem Ego genauso wenig wie Goethes Türmer seinem Turm (im Faust), müssen schon dankbar sein, wenn es soweit geschwächt ist, dass wir trauernd spüren, was uns durch das Ego alles an unmittelbarem Erleben, das wir bei kleinen Kindern beneiden, entgeht.
Viele Mystiker behaupten sinngemäß, dass unser normales Leben nichts anderes ist als eine Abfolge von Denk- und Gefühlstrips, die wir in Ermangelung Besserns für die Wirklichkeit halten. Das Ego ist so stark und unruhig, dass es sich ständig auf irgendeiner Welle selbst inszeniert. Nur sehr selten, in großer Ruhe, manchmal aber auch schockartig in Extremsituationen, werden einige der Vorhänge, die unser Ego vor die Wirklichkeit geschoben hat, beiseite gerückt und wir ahnen, dass alles ganz anders sein könnte, als wir es normalerweise empfinden und erleben.
Die Verbundenheit des Egos mit Macht und Machen wird daran deutlich, dass es sehr viel Verschiedenes denken kann, nur nicht, dass es nicht souverän, nicht fähig zum aktiven Handeln ist. Wir können nicht erleben, dass wir gelebt, dass wir geatmet, ge-stoffwechselt werden, nur dass wir leben, atmen und einen Stoffwechsel haben, obwohl der erste Halbsatz eher der Wahrheit entspricht. Das Ego kann sich nicht passiv erleben, es wehrt sich mit allem, was ihm an neuen Gedankengängen und Ausflüchten zur Verfügung steht, gegen Erlebnisse der Passivität.
Das Ego will aktiv sein, ist fast ständig im Wachzustand aktiv, kann ein Problem nach dem anderen lösen. Aber es kann nicht ohne Probleme, ohne Lösungsaufgaben sein. Das ist der Ursprung für die bittere Alltagsweisheit, dass sich, wer keine Probleme hat, welche macht. Dasselbe Spiel läuft mit Wünschen ab. Wenn genug Ressourcen da sind, kann sich das Ego einen Wunsch (der oft aus dem Körper kommt, aber im Ego erlebt und dadurch verstärkt wird) nach dem anderen erfüllen, aber es kann nicht wunschlos (glücklich) sein, genauso wenig wie einfach absichtslos da und zufrieden.
Es gibt in der Kindheit eine Phase, in der selbstvergessenes und kontrolliertes Erleben und Handeln sich noch abwechseln. Und vermutlich hat es auch in der Hominiden-Entwicklung eine Zeit gegeben, in der machtvolles Wollen und absichtsloses Da-Sein noch mehr harmonierten als beim heutigen (erwachsenen) homo sapiens. Nur haben sich im Verlauf der Evolution eben die willensstärkeren Mutationen durchgesetzt, weil sie die bessere Nahrungsversorgung erreichten, sich stärker fortpflanzten usw.
Krishnamurti weist noch auf eine weitere Einschränkung durch unser Ego hin: Jede Bewertung (einer Handlung, eines Menschen, eines Objekts), die unser Gehirn vornimmt, geschieht auf dem Hintergrund bisheriger Erfahrungen, je kontrollierter unser Denken ist, desto stärker. Auf diese Weise beherrscht immer die Vergangenheit die Gegenwart, wirklich etwas Neues, „Schöpfung“ kann nur geschehen, wenn ohne Ego, also „unkontrolliert“ gehandelt wird. (Die Tatsache, dass spontane Handlungen in aller Regel sinnvoll sind, oft sinnvoller als die geplanten, zeigt, dass das Gehirn auch jenseits des Egos über vernünftige Regelungsmechanismen verfügt. Gibt es nicht viel mehr spontane Herzlichkeit als spontane Bosheit?)
Ähnlich wie erlernte Bewegungen durch ständige Wiederholung routinisiert werden, prägen sich auch tausendfach wiederholte Gedanken- und Gefühlsregungen im Gehirn immer tiefer ein. Sie werden viel leichter und schneller wiedererlebt als neue, erscheinen immer selbstverständlicher und vernünftiger, während es andere Regungen immer schwerer haben, vom Bewusstsein akzeptiert zu werden. So entsteht unsere Persönlichkeit oder, wie es Wilhelm Reich ausdrückte, unser „Charakterpanzer“. Eine Variante davon ist der Altersstarrsinn.
Starrsinnig können aber nicht nur Individuen sondern auch Gruppen und ganze Gesellschaften sein. Ihr normatives Regelwerk ist nichts anderes als kollektiv routinisierte Bewertungen, die (fast) allen Beteiligten durch die ständige Wiederholung selbstverständlich und quasi natürlich erscheinen. Sklaverei war den Menschen des Altertums das normalste von der Welt, nicht nur den Herren, sondern auch den (meisten) Sklaven. Mit entsprechendem Abstand betrachtet, haben alle Sozialstrukturen und Systeme sozialer Ungleichheit, die die Menschheit je hervorgebracht hat, etwas Absurdes und Verrücktes. Den jeweiligen Mitspielern erscheinen sie in aller Regel vernünftig und alternativlos.
Die weiter oben erwähnte Ausrottung vieler Großwildarten auf allen Kontinenten durch homo sapiens findet hier möglicherweis eine einfache Erklärung: Es war üblich, diese zu jagen, und dieses Programm konnte (vermutlich trotz einiger warnender Stimmen) nicht gestoppt werden, bis auch das letzte Riesenfaultier usw. tot war. Noch in jüngster Zeit galt die Tötung eines Löwen durch einen jungen Massai als Mutprobe, die er zu bestehen hatte, um ein Mann zu werden, auch als kaum noch Löwen für dieses Ritual zu Verfügung standen. Denkbar ist natürlich auch, dass die frühen Großwildjäger die Folgen ihrer Handlungen einfach nicht überschauten. Es war ihnen nicht klar, was sie anrichteten. (Sie wären damit nicht wesentlich dümmer als homo sapiens heute, der auch keine Ahnung davon hat, welche einzigartigen Fähigkeiten er mit den –zig Pflanzen- und Tierarten, die jedes Jahr durch sein Handeln ausgerottet werden, endgültig vernichtet.)
Routinisierung von Handlungen und Bewertungen gibt es natürlich auch schon im Tierreich und auch homo sapiens verfügt sicher auch jenseits des Egos darüber. Unser Willenspotential gibt ihnen aber eine besondere Härte, die vielleicht am schönsten mit der Formulierung aus dem Tao-te-king beschrieben ist, dass das Leben weich und schwach in die Welt kommt und sie hart und stark wieder verlässt.
4. Der Preis des Egos
Der Stress, den das Wollen dem Körper bereitet, ist kaum zu überschätzen. Bei sensibler Wahrnehmung wird deutlich, dass jeder Gedanke, jede bewusst erlebte Gefühlsregung mit körperlicher Anspannung verbunden ist. Willensbetonte geistige Anstrengung laugt den Körper dabei noch mehr aus körperliche, weil dieser sich im eigenen Revier eher wehren kann. Die in Industrienationen massenhaft verbreiteten Rückenprobleme sind weniger auf den aufrechten Gang als auf hartes, willensstarkes Funktionieren zurückzuführen. (Da gibt es sicher viel psychosomatische Literatur dazu.) Wir sprechen von „eisernem“ Willen und „hartnäckigem“ Wollen und beides ist körperlich spür- und greifbar, als z. T. extreme Verspannung von Hals, Schultern und Rücken.
Schon als einen einsam lebenden Robinson Crusoe betrachtet zahlt homo sapiens also einen hohen Preis für seine geistigen Fähigkeiten: seelisch durch geistige und emotionale Unruhe und große Schwierigkeiten, glücklich und zufrieden zu sein, körperlich durch Anspannungen, die sich in der Regel chronifizieren.
Kommt Robinson in Gesellschaft, kann dies zunächst ego-lindernd wirken. Bei Affen sind soziale Körper-Kontakte der Ausgleich für mentalen Stress. Er wird aber in eine hierarchische Gesellschaft kommen und damit auch unter den Egos seiner jeweiligen Obrigkeit (die auch ziemlich anonym sein kann, wie im Finanzkapitalismus unserer Tage) zu leiden haben.
Es gibt erstaunlich viele Parallelen zwischen der Rolle des Egos im Individuum und dem der Oberschicht in einer Gesellschaft. Beide hatten ursprünglich die Funktion dem Gesamtsystem zu dienen. In gewisser Weise tun sie dies immer auch noch, aber sie haben sich von Dienern zu Herrschern aufgeschwungen.
Vermutlich standen am Anfang der Hierarchien sozialer Ungleichheit eine Art Ehrenprimat oder auf Zeit angelegte Führungsaufgaben. Einige der Inhaber(innen) dieser Positionen fanden Gefallen an ihrer Macht, mehrten sie, weigerten sich, sie zurückzugeben und machten sie schließlich erblich. (Das gleiche Vorgehen ist aktuell bei etlichen, ursprünglich auf Zeit bestimmten Führern an verschiedenen Ecken der Welt zu beobachten.) Einige waren mit diesem Vorgehen erfolgreich und so entstanden über Jahrtausende die teils monströsen Formen persönlicher Herrschaft. Wie bei unserem Ego auch hier der Übergang von einer dienenden zu einer beherrschenden, ausbeutenden Rolle.
Sowohl dem individuellen Ego als auch der gesellschaftlichen Elite gelingt es, sich mit vielerlei geistigen Manövern und Blendwerk als legitim, naturgegeben und alternativlos zu setzen. Beispiel Gesellschaft: Die angebliche Abstammung antiker Könige von Göttern und die irreführenden Bezeichnungen „Arbeitgeber“ und „Arbeitnehmer“ haben beide dieselbe Funktion der Verschleierung, Verwirrung und Legitimierung von sozialer Herrschaft und Ausbeutung. Beispiel Einzelwesen: Das Ego erfindet laufend Gründe, dass es weiter aktiv denken und fühlen muss. Selbst wenn es die Einsicht hat, dass es besser still wäre, gaukelt es uns vor, dass es dafür arbeiten, also aktiv sein müsste.
Oberschicht und Ego erfüllen beide auch wichtige und sinnvolle Aufgaben für das Gesamtsystem. Da sie sich aber nach Erfüllung dieser Mission nicht zurücknehmen, sondern von ihrer Macht nicht genug bekommen können, sind sie beide auch im besten Fall lästige Begleiter, im mittleren Fall Stressoren und im ungünstigsten Fall Zerstörer des Gesamtsystems. (Beispiele: Ein Ego kann einen Menschen zum Beispiel in eine tödliche Gefahr treiben, ein größenwahnsinniger Führer, wie Hitler, einen halben Kontinent ins Elend stürzen).
Für beide gilt auch, dass ihr eigentliches Interesse nicht das Wohlbefinden des Gesamtsystems, seine Ausweitung oder sein Weiterleben ist (obwohl sie viel zu diesen Zwecken beitragen können), sondern allein ihre Macht und deren Weiterleben. Konkret individuell: Das eigentliche Ziel des Egos ist nicht das Wohlbefinden des Körpers – sonst gäbe es kein nächtelanges Grübeln‑, nicht das Überleben des Individuums – sonst gäbe es keine Suizide und Selbstmordattentate‑, und auch nicht das der Gattung Mensch – sonst gäbe es keine Verhütung und Enthaltsamkeit. Allen diesen Zwecken kann das Ego auch dienen und tut es in der Regel auch, aber sein ureigenstes Interesse ist (zumindest ab einem bestimmten Erregungszustand) das der fortgesetzten eigenen Macht. Es kann zu einer Art geistigem Krebs werden, der zwar Teil des Körpers ist, aber nur am eigenen Wuchern interessiert ist.
Das von Harari sogenannte Gilgamesch-Projekt, der Versuch den Tod zu besiegen, ist ein typischer Ego-Wunsch. Seine Verwirklichung wäre übrigens ein Alptraum für die Nachgeborenen und im Grunde auch für das unsterbliche Individuum selbst. Jedes alte und schwache Tier will in Ruhe sterben. Aufmunterungen zum Weiterleben kommen bei sozial lebenden Säugetieren eher von den Artgenossen. Die meisten (nicht alle) alten und schwerkranken Menschen wollen das auch. Nur ein Ego in der Blüte seiner Macht plant seine eigene Unsterblichkeit.
Unser Robinson wird aber auch auf gleicher Hierarchie-Ebene sozialen Prozessen ausgesetzt sein, die ego-stärkend wirken. Stark vereinfacht gesagt, können sich individuelle Willenspotentiale zu einem gemeinsamen Wunsch zusammenschließen oder sie können sich in gegenseitiger Feindseligkeit aufschaukeln. Im ersten Fall beschließt z. B. eine Dorfgemeinschaft (ohne Anweisung der Obrigkeit), gemeinsam einen Tempel zu bauen. Im zweiten streiten sich z. B. Nachbarn jahrelang mit zunehmender Erbitterung um irgendetwas. Die am meisten dramatischen Auswirkungen haben Willensbündelungen, wenn sich eine Gruppe zusammenschließt, um feindselig gegen andere Individuen oder Gruppen vorzugehen. So können Pogrome und Kriege entstehen, die für fast alle Beteiligten entweder mit Tod oder Traumatisierung enden. Hier lässt sich einwenden, dass es auch im Tierreich schon Kriege gibt. Auch die („patriarchalischen“) Schimpansen können im Gegensatz zu den („matriarchalischen“) Bonobos Kriege gegen Nachbargruppen führen und sind sogar zum „Völkermord“ fähig. Auch dafür ist wohl schon strategisches Überlegen nötig. Aber diese „Kriege“ haben aus menschlicher Sicht noch etwas Spontanes, „geschehen einfach so“. Nur homo sapiens hat die Willenskraft, über Generationen wechselseitig Blutrache zu üben, jahrhundertelang Feindschaft zu schüren, wie z. B. gegen die Juden im mittelalterlichen Europa, oder jahrzehntelang gegen einander aufzurüsten wie die „Erbfeinde“ Deutschland und Frankreich.
Zum Glück für die Menschheit gibt es individuell und kollektiv nicht nur ego-stärkende sondern auch ego-schwächende Mechanismen, denen es in guten Zeiten gelingt, die Ausbeutung durch die „Obrigkeit“ in Grenzen zu halten. Beim Einschlafen wird das Ego schließlich doch abgeschaltet und der Körper kann sich erholen und auch im Wachzustand setzen eigene körperliche und emotionale Widerstände sowie die der sozialen Umgebung in der Regel der ausufernden Aktivität des Egos erfolgreich Grenzen. In Gesellschaften muss normalerweise die Oberschicht so viel Rücksicht auf die Beherrschten nehmen, dass diesen auch etwas Lebensfreude bleibt, sie nicht revoltieren oder es nicht zum Kollaps der Gesellschaft kommt (sonst wäre die Geschichte noch viel brutaler verlaufen, als sie es ist).
Dauerhaft stabil ist im oben zitierten mittelalterlichen Schlachtgetümmel aber keine Stellung. Das Ego ist süchtig nach sich selbst und seiner Macht oder kann es zumindest bei entsprechender Stimulierung leicht werden.
Seine Selbstsucht äußert sich in seinem Wunsch, unterhalten und stimuliert zu werden. Der weltweiten Verbreitung und Nutzung von Unterhaltungselektronik scheint keine Grenze gesetzt zu sein. Sie hat unser Privat- und Familienleben mehr verändert als alle anderen Erfindungen der letzten 2.000 Jahre. Auch Tiere können Schwierigkeiten damit bekommen, eines ihrer Organe zu wenig zu benutzen. Wenn sie nicht viel nagen, wachsen z. B. Mäusen die Schneidezähne so stark, dass es ihnen den Kiefer aufreißt und sie verhungern. Aber sie scheinen ein Gleichgewicht gefunden zu haben, müssen nicht immer noch mehr nagen, wie es bei menschlichen Kommunikation und Unterhaltung der Fall zu sein scheint. Eben das ist ein Zeichen für Sucht, sie kann nicht gestillt werden, sondern wird mit jeder Befriedigung stärker. In der Regel stimuliert andauernde Unterhaltung das Ego noch mehr, macht sein Abschalten schwieriger, während weichere Regungen oft darunter verwahrlosen.
Sebastian Haffner schreibt irgendwo, dass Macht die stärkste Droge sei. Das gilt vermutlich nur für Menschen, nicht für Tiere. Die großartigen bis größenwahnsinnigen Projekte früherer absoluter Herrscher rühren nicht daher, dass diese besonders schlechte Charaktere waren, sondern dass sie den Versuchungen ihrer Position erlegen sind, wie ihnen (fast) jeder erliegen würde. Soweit sie übrigens kein Verantwortungsgefühl hatten, hielt sich ihr eigenes Leiden unter ihrem Ego in Grenzen. Für Ihre Untertanen war es umso schlimmer. (Natürlich kommen Machtkämpfe auch im Tierreich vor. Brunftige Hirsche kämpfen bis zur Erschöpfung mit Artgenossen, männliche Löwen riskieren ihr Leben um Rudelführer zu werden. Aber sie tun dies instinkt- und hormongesteuert, nicht mit lang anhaltendem Willen.)
Die Lust an der Macht ist in der Lage, homo sapiens alle Instinkte und Intuitionen des Körpers und alle sozialen Prägungen, die ihr entgegenstehen, vergessen zu lassen. Das geht nicht von jetzt auf nachher, aber doch relativ schnell. Jugendliche Massenmörder im Kongo erinnern sich alle noch an ihren ersten Mord. Den meisten ging es danach tagelang schlecht, viele mussten sich übergeben. „Beim zweiten Mal ging es besser. Beim dritten Mal verspürten sie ein Hochgefühl.“ („Der Mörder in uns“, Prof. Thomas Elbert in der Stuttgarter Zeitung vom 30.1.15) Es gibt vermutlich keine noch so grausame Untat an Artgenossen, zu dem die Machtgier des Egos das an sich liebesfähigste und liebesbedürftigste Geschöpf des Planeten nicht treiben könnte.
Die Machtgier des Egos wendet sich zwar häufig nach außen, kann sich aber auch nur auf den eigenen Körper beziehen. Beispiele wären extreme Askese, exzessiver willensbetonter Sport oder auch Selbstmordattentate.
„Triumph des Willens“ hieß ein berühmt gewordener Film von Hitlers Lieblings-Regisseurin Leni Riefenstahl. Exzesse des Willens kommen vermutlich in vielen individuellen Leben in gewisser Regelmäßigkeit vor, teilweise sind sie von außen erzwungen, wie z. B. durch Prüfungs- oder Arbeitsdruck, oft aber auch selbst produziert. Von den kollektiven Willensexzessen war der Faschismus, insbesondere der Nationalsozialismus für Europa das bisher eindrücklichste Beispiel. Man kann sich darüber streiten, ob das Ego selbst schon „böse“ ist, der Triumph des Willens ist in jedem Fall mit sehr viel Bösem verbunden.
5. Das Ego ist eine Illusion
Das meinen zumindest viele mystische, hinduistische und buddhistische Traditionen, die ich nicht angemessen wiedergeben kann. Aber auch schon aus Alltagserfahrungen lassen sich Argumente für diese These vorbringen.
Erstens: Unser Denken und Fühlen ist viel weniger frei, als uns lieb ist. Wir ahnen, manchmal spüren wir es auch, dass Stimmungen, Körperbefindlichkeiten, soziale Umgebung und vieles mehr, bestimmte Gedanken und Gefühle (fast) zwingend nach sich ziehen. Also ist selbst das Denken, das Handeln umso mehr, oft nicht frei, nicht Subjekt, sondern Objekt, dann „werden wir gedacht“. Wilhelm Busch dichtete so nett:
(…) Mein Stolz der wurde kleiner. Ich ahnte mit Verdruss,
es kann doch unsereiner nur denken, was er muss.
Zweitens: Auch die subjektive Wahrnehmung, dass ich lebe, handle, mich bewege, wie ich will, ist höchstens die halbe, vermutlich aber noch weniger Wahrheit. Die meisten wesentlichen Lebensvollzüge geschehen ohne unseren Willen: Geburt und Tod, Stoffwechsel, Erkrankung und Gesundung usw. Wir werden viel mehr gelebt, als dass wir willentlich leben. Die Natur wickelt unser Leben nicht wesentlich anders ab als das eines Einzellers oder einer Eintagsfliege. Nur unser Bewusstsein wehrt sich normalerweise mit allem, was ihm zur Verfügung steht, gegen dieses Erleben der eigenen Ohnmacht.
Drittens: Die Erfahrung des ganzheitlichen, nicht in Subjekt-Objekt-Verhältnisse getrennten Lebens ist uns nicht völlig fremd. Wir erkennen sie noch in jedem Tier, in jedem Kind. Und in glücklichen, entspannten Momenten erleben wir uns auch kurzzeitig genauso „eins“ mit allem, wie wir es aus „grauer Vorzeit“ noch erinnern.
Das Ego half uns – trotz aller „Kollateralschäden“-, von weitgehend wehrlosen Wesen in der Mitte der Nahrungskette zu Beherrschern des Planeten aufzusteigen. Den Illusionscharakter des Egos zu erkennen und zu erleben, könnte notwendig sein, ihn wenigstens für uns bewohnbar zu erhalten.
Persönliche Nachbemerkung
Dieser Text (ursprünglich verfasst als Brief an Yuval Harari) hat mich über Monate beschäftigt. Oft wehrte sich mein innerer Steinzeitmensch dagegen, wollte einfach leben und nicht angestrengt nachdenken. Einmal entstand im Halbschlaf der Satz „Intellektualität ist Faschismus“. Das meinte sicherlich nicht Denken an sich, sondern nur das willensbetonte, angestrengte Denken und das klug sein wollen. Die Institutionen, in denen unser Ego in diese intellektuelle Richtung stimuliert wird, sind Schulen und Universitäten. In Kinos, Fußballstadien, Fernsehfilmen, sogenannten sozialen Netzwerken u. a. wird dagegen mehr die emotionale Seite unseres Egos gepuscht.
Bisher hatten alle Religionen neben vielem Unheil, das sie selbst anrichteten oder legitimierten, immer auch die Botschaft, dass wir abhängige, sterbliche Geschöpfe sind, die gar nicht viel wissen. Auch viele ernsthafte moderne Wissenschaftler vertreten im Prinzip diese Ansicht. In der vulgären Wissenschaft- und Technikgläubigkeit unserer Tage spielt dagegen die Ehrfurcht vor der Mysterium der Schöpfung (der Materie), die seit Jahrtausenden auf dem Rückzug ist, keine große Rolle. Unsere eigenen (Willens-) Fähigkeiten feiern wir dagegen umso heftiger. Dass wir im Ego auch einen „a priori“ eingebauten lebensfeindlichen Aspekt unserer Intelligenz erkennen, geschieht wahrscheinlich im Alltag der kleinen Leute gar nicht so selten, für Wissenschaft, Technik, Politik und zunehmendem Maße auch Kultur, Kunst und sogar Religion ist dies eher ein Randthema.
Solange wir (frei nach Paulus) menschliche Weisheit und menschlich produzierte Emotionalität höher schätzen als göttliche (= natürliche) Torheit werden wir zwar immer mächtiger werden, jede Menge teils segens- teils fluchbeladene Erfindungen bewerkstelligen, aber kaum Ruhe, Frieden und Glück finden – mit der Tendenz, immer mehr zum Krebsgeschwür am Planeten und an unserem eigenen Körper zu werden.
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