Refle­xio­nen im Anschluss an Yuval Har­a­ris Bestseller

Gast­bei­trag von Wil­fried Eißler

I. Schim­pan­sen glau­ben an Geis­ter, weil Träu­men älter als Denken

II. Men­schen sind von allen Lebe­we­sen am meis­ten auf Lie­be angelegt

III. Die Stein­zeit war die Zeit der Gro­ßen Mutter

IV. Mit der Kogni­ti­ven Revo­lu­ti­on begann nicht nur der Lei­dens­weg des Pla­ne­ten, son­dern auch des homo sapi­ens – Ein Ver­such über das Ego

  1. Wie ent­steht das Ego?
  2. Was kann das Ego?
  3. Was kann das Ego nicht?
  4. Der Preis des Egos
  5. Das Ego ist eine Illusion

Per­sön­li­che Nachbemerkung

I. Schim­pan­sen glau­ben an Geis­ter, weil Träu­men älter ist als Denken

Hara­ri nennt als wesent­li­ches Ergeb­nis der Kogni­ti­ven Revo­lu­ti­on die Fähig­keit des homo sapi­ens, sich Din­ge vor­zu­stel­len, die nicht exis­tie­ren, und dar­über zu kom­mu­ni­zie­ren. Aber ist die Vor­stel­lungs­kraft nicht viel älter als die Kommunikationsfähigkeit?

Träu­me beinhal­ten häu­fig nicht exis­tie­ren­de Din­ge, sind wider­sprüch­lich, irra­tio­nal, magisch und vol­ler Zau­ber. Und nach allem, was wir wis­sen, ist Träu­men älter als ratio­na­les Den­ken. Lebens­ge­schicht­lich: Wir haben schon im Mut­ter­leib begon­nen zu träu­men, einer ver­gleichs­wei­se reiz­ar­men Umge­bung. Ich glau­be kaum, dass es dort die Funk­ti­on hat, als die wir Erwach­se­ne es erle­ben, näm­lich als Ver­ar­bei­tung  von Tages­er­le­ben. Es scheint eine grund­le­gen­de Arbeits­wei­se des Gehirns zu sein. Auch als Erwach­se­ne müs­sen wir träu­men, um nicht ver­rückt zu wer­den. Wei­ter­hin: Klei­ne Kin­der leben zum Teil noch in einer ganz­heit­lich erleb­ten, magi­schen und zau­ber­haf­ten Welt, bis sie „ver­nünf­tig“ wer­den. His­to­risch ver­läuft die Ent­wick­lung vom magi­schen zum immer ratio­na­le­ren Erle­ben, des­we­gen ste­hen auch die Mythen vor der Geschichts­schrei­bung, die immer ratio­na­ler wird. Das Erle­ben oder Emp­fin­den von magi­schen oder intui­ti­ven Zusam­men­hän­gen hat die Mensch­heit durch vie­le Jahr­tau­sen­de beglei­tet, man­che Erwach­se­ne haben noch heu­te die­se Fähig­keit. Erst die moder­ne wis­sen­schaft­li­che Sicht­wei­se hat sol­ches Erle­ben fast unsicht­bar wer­den lassen.

Alle Säu­ge­tie­re, mög­li­cher­wei­se sogar alle Wir­bel­tie­re, träu­men, höchst­wahr­schein­lich ähn­lich irra­tio­nal, magisch und zau­ber­haft wie wir. Das schließt ver­nünf­ti­ges Ver­hal­ten nicht aus. Sub­jek­tiv dürf­ten sie sich eher in einer Art magi­schen Welt befin­den. Der Warn­ruf eines Affen: „Ach­tung Löwe!“ hie­ße dann bes­ser über­setzt: „Ach­tung Löwengeist!“

Selbst wir abge­klär­ten Erwach­se­nen des 21. Jahr­hun­derts erle­ben in unse­ren ent­spann­tes­ten und glück­lichs­ten Momen­ten die Welt auch als irgend­wie magisch und zau­ber­haft oder haben zumin­dest eine Ahnung davon. Viel­leicht ist die­se Wahr­neh­mung ja die natür­li­che, und die nüch­ter­ne Ver­nunft zwar für vie­les nütz­lich, aber doch nur eine recht moder­ne Mög­lich­keit unse­res Bewusstseins.

II. Men­schen sind von allen Lebe­we­sen am meis­ten auf Lie­be angelegt

Säug­lin­ge haben ein Grund­be­dürf­nis: sie wol­len lie­ben. Zwei Bot­schaf­ten ver­mit­teln sie an die Mut­ter (und ande­re): Ich brau­che dich, bin total abhän­gig von dir. Und: Du bist die Welt für mich. Ich lie­be dich. Ich glau­be und ver­traue dir blind. Natür­lich bedür­fen sie auch der Nah­rung und der Für­sor­ge. Aber wenn bei­des auch nur eini­ger­ma­ßen stimmt, wer­den sie immer mehr Lie­be geben, als sie bekom­men. Kin­der tun vie­les, um es ihren Eltern recht und sie glück­lich zu machen (und so man­ches hat sich dabei schon nach­hal­tig über­for­dert). Die­ses bedin­gungs­lo­se Ja zum Leben und zur sozia­len Gemein­schaft, in die sie hin­ein­ge­bo­ren wer­den, ist bio­lo­gisch sinn­voll. Kein ande­res Tier­ba­by ist eine sol­che Last für die Mut­ter und das auch noch für eine der längs­ten Kind­heits­pha­sen, die es gibt. Men­schen­ba­bys kön­nen sich nicht mal am Fell der Mut­ter fest­kral­len wie Affen, son­dern müs­sen getra­gen wer­den. Die jah­re­lan­ge Unter­stüt­zung durch die Mut­ter und bei­der durch die Gemein­schaft ist aber überlebenswichtig.

Um die Bin­dung der Mut­ter und ande­rer Erwach­se­ner an das Kind her­zu­stel­len, arbei­tet die Natur mit ver­schie­de­nen Mecha­nis­men, z. B. dem Kind­chen-Sche­ma, aber auch mit der Lie­be des Kin­des. Ein Baby, das nur geliebt und ver­sorgt wer­den will, zu ver­las­sen, dürf­te einer Mut­ter viel leich­ter fal­len, als eines, das ihr etwas anbie­tet, auf das sie schon seit Kin­des­bei­nen auch ange­wie­sen, pro­gram­miert ist: (bedin­gungs­lo­se) Liebe.

Viel­leicht ist die­ser Mecha­nis­mus sogar gefühls­mä­ßig nach­voll­zieh­bar: Im Umgang mit klei­nen Kin­dern bringt uns das Kind­chen-Sche­ma dazu, sie „süß“ zu fin­den. Aber rich­tig für­sorg­lich macht uns ihr bedin­gungs­lo­ses Ver­trau­en, das aus ihren Augen spricht, ihre Liebe.

Ver­mut­lich gab es über Mil­lio­nen Jah­re der Homi­ni­den-Ent­wick­lung einen Wir­kungs­zu­sam­men­hang zwi­schen zuneh­men­der Auf­rich­tung, Ver­en­gung des weib­li­chen Beckens, frü­he­rer Geburt, län­ge­rer Kind­heits- und Abhän­gig­keits­pha­se, stär­ke­rer Bin­dung zwi­schen Mut­ter und Kind und grö­ße­rer Lie­bes­fä­hig­keit aller Indi­vi­du­en. Hara­ri beschreibt wesent­li­che Tei­le die­ser Wir­kung kurz und prä­zis auf den S. 18 ff (deut­sche Aus­ga­be). Aber wahr­schein­lich kann man auf die­se Wei­se auch begrün­den, wie die Lie­be in die Welt kam, eine die (weit) über die Bin­dun­gen bei ande­ren Säu­ge­tie­ren hin­aus­geht. Natür­lich sind auch älte­re Grund­struk­tu­ren des Ver­hal­tens von Wir­bel­tie­ren, wie z. B. Aggres­si­on oder Kon­kur­renz, wei­ter­hin wirk­sam und sinn­voll, aber sie wur­den stark über­formt. Empa­thie, Nächs­ten­lie­be, Für­sor­ge, Freund­lich­keit u. a. sind so über vie­le Gene­ra­tio­nen gewachsen.

Wahr­schein­lich ver­dan­ken wir nicht nur unse­re grö­ße­re sozia­le Form­bar­keit, son­dern auch unse­re grö­ße­re Sen­si­bi­li­tät und Emp­find­lich­keit der Tat­sa­che, dass wir Früh­ge­bur­ten sind.

Men­schen kön­nen Lie­be gegen­über ande­ren Lebe­we­sen und der gesam­ten Schöp­fung emp­fin­den. Und sie füh­len sich meis­tens auch am bes­ten, wenn sie das tun (kön­nen). Wenn die Bud­dhis­ten und die Mys­ti­ker aller Reli­gio­nen recht haben, fin­den unser Geist und Kör­per ihre Ruhe erst in einer abge­klär­ten Mil­de allen Din­gen gegen­über. (Im Bud­dhis­mus gehört die Lie­be zwar noch in den Bereich des Anhaf­tens. Das Lächeln des Bud­dhas weist aber dar­auf hin, dass die Erleuch­tung eine freund­li­che Gleich-Gül­tig­keit beinhal­tet.) (Gelas­se­ne) Lie­be wäre dann unse­re natür­li­che Bestim­mung, in der wir uns am wohls­ten fühlen.

(Ver­mut­lich füh­len sich Hyä­nen mit ihrem sehr hohen Tes­to­ste­ron-Spie­gel auch am wohls­ten beim Aus­le­ben ihrer extre­men Aggres­si­on. Mit unse­rer Lie­bes­fä­hig­keit, die uns zusam­men mit unse­rer Intel­li­genz schein­bar so sehr über die Tier­welt erhöht, sind wir genau­so nur ein beson­de­rer Spiel­ball der Evo­lu­ti­on wie sie.)

Wenn die­se The­se (der Bestim­mung zur Lie­be) stimmt, müss­ten sich alle Homi­ni­den gegen­über den noch nicht völ­lig auf­recht gehen­den Schim­pan­sen und Bono­bos durch eine grö­ße­re Für­sorg­lich­keit aus­zeich­nen. Das ist mei­nes Wis­sens für die Nean­der­ta­ler erwie­sen. Wei­ter­hin müss­ten Tötungs­de­lik­te zumin­dest inner­halb der Grup­pe noch gerin­ger sein als bei den Men­schen­af­fen, also prak­tisch nicht exis­tent. Auch töd­li­che Gewalt­tä­tig­kei­ten zwi­schen den Grup­pen dürf­ten gerin­ger sein als bei die­sen. Gibt es dar­über archäo­lo­gi­sche Befun­de? Gibt es Fun­de, die dar­auf hin­wei­sen, dass die Kogni­ti­ve Revo­lu­ti­on die Tötungs­de­lik­te (stark) erhöht hat?

Die Bestim­mung zur Lie­be dürf­te auch die Her­aus­bil­dung hier­ar­chi­scher Gesell­schaf­ten ermög­licht haben. Wenn man einen Gedan­ken von Sai Baba (in: Sai Baba sprich über  Psy­cho­the­ra­pie, Graf­rath bei Mün­chen 2000, S. 289ff) wei­ter­spinnt, gelang die Zäh­mung von Nutz­tie­ren nicht nur durch Aus­wahl und Züch­tung der zahms­ten Tie­re son­dern auch dadurch, dass die Men­schen ihr ange­bo­re­nes Ver­trau­en gegen­über der Mut­ter und Leit­tie­ren der Her­de miss­brauch­ten, indem sie sich selbst an deren Stel­le setz­te. Für die heu­ti­ge Mas­sen­tier­hal­tung gilt das viel­leicht kaum noch, in den vie­len Jahr­tau­sen­de Tier­hal­tung davor war ein über­mäch­ti­ger Mensch für das Nutz­tier meis­tens gegen­wär­tig. Die Zäh­mung von Wild­tie­ren gelang ja auch nur bei sol­chen Arten, die in ihrem Sozi­al­ver­hal­ten Rol­len vor­ge­se­hen hat­ten, in die der Mensch anstatt des natür­li­chen Part­ners schlüp­fen konn­te. Ver­mut­lich waren die ers­ten Zie­gen, Scha­fe und Rin­der am Feu­er der Men­schen übrig­ge­blie­be­ne Jung­tie­re, die Men­schen­kin­dern als Spiel­ge­fähr­ten dien­ten. Die Tier­kin­der akzep­tie­ren die stär­ke­ren und cle­ve­ren Men­schen als Mut­ter- und Leittierersatz.

Wahr­schein­lich geschah bei der Zäh­mung und Dis­zi­pli­nie­rung des homo sapi­ens im Pro­zess der Her­aus­bil­dung hier­ar­chi­scher Gesell­schaf­ten ein ähn­li­cher Miss­brauch natür­li­cher (Lie­bes-) Fähig­kei­ten. Als „Väter­chen“ Sta­lin starb, wein­ten Mil­lio­nen Sowjet­bür­ger, dar­un­ter auch Hun­dert­tau­sen­de Ter­ror­op­fer. Sicher­lich ist es nicht nur Furcht, die sozia­le Herr­schaft absi­chert, son­dern auch dem Men­schen ange­bo­re­ne Freund­lich­keit, Geduld und Lie­bes­fä­hig­keit, die ihn Din­ge ertra­gen lässt, die sich kein Wild­tier frei­wil­lig gefal­len las­sen wür­de. Wahr­schein­lich nei­gen Men­schen dazu, selbst ihre Unter­drü­cker irgend­wie (auch) zu lie­ben. Die Intel­lek­tu­el­len etwas weni­ger, dafür das ein­fa­che Volk umso mehr. Und bis ins 20. Jahr­hun­dert hin­ein war selbst in hoch­ent­wi­ckel­ten Gesell­schaf­ten sozia­le Herr­schaft immer auch als per­sön­li­che Herr­schaft im unmit­tel­ba­ren Lebens­um­feld zu erle­ben (z. B. als Guts- oder Dienstherr).

Yuval Noah Hara­ri: Sapi­ens. Eine kur­ze Geschich­te der Menschheit
Erwei­ter­te Taschen­buch­aus­ga­be von 2024

Junger Schimpanse in der Wilhelma

Jun­ger Schim­pan­se in der Wil­hel­ma, Stuttgart

III. Die Stein­zeit war die Zeit der Gro­ßen Mutter 

Auch wenn fast alle agra­ri­schen und indus­tri­el­len Gesell­schaf­ten patri­ar­cha­lisch waren und es sogar patri­ar­cha­li­sche Doku­men­te von 10.000 v. Chr. gibt (S. 181) spricht doch für die vie­len Jahr­tau­sen­de davor sehr viel mehr für eine Vor­rang­stel­lung der Frau­en als dagegen.

Eine aus­ge­präg­te sozia­le Herr­schafts­struk­tur gab es sicher vor der Kogni­ti­ven, mög­li­cher­wei­se sogar vor der Neo­li­thi­schen Revo­lu­ti­on nicht, ein­fach weil die Grup­pen zu klein und die Arbeits­tei­lung zu gering war. Es gab aber sicher Rang­un­ter­schie­de, wie sie auch bei Men­schen­af­fen­hor­den vor­kom­men. Dafür, dass dabei Frau­en kei­ne schlech­te Posi­ti­on hat­ten, spre­chen meh­re­re Punkte:

  1. Bei Expe­ri­men­ten mit Ach­sel­schweiß unter­halb der bewuss­ten Wahr­neh­mungs­gren­ze zeigt sich, dass nur ein Kör­per­ge­ruch von allen Pro­ban­den (Män­ner und Frau­en ver­schie­de­ner Alters­stu­fen) glei­cher­ma­ßen als ange­nehm emp­fun­den wird, näm­lich der von Frau­en im Alter von etwa 45–55 Jah­ren. Die ein­fachs­te Erklä­rung dafür ist, dass die Nähe zu ihnen mit dem bes­ten und sichers­ten Platz in der Grup­pe kom­bi­niert war – über so vie­le Jahr­tau­sen­de, dass dies gene­tisch codiert wurde.
  2. Archäo­lo­gi­sche Fun­de, die trotz der auch von Hara­ri ver­mu­te­ten Viel­falt der Stein­zeit-Kul­tu­ren erstaun­lich ein­heit­lich sind: Ange­fan­gen von der „Venus vom Hoh­len Fels“ (ca. 40.000 Jah­re) gibt es zumin­dest im euro­pä­isch-vor­der-asia­ti­schen Raum bis in die Anti­ke hin­ein eine unun­ter­bro­che­ne (?) Ket­te von soge­nann­ten Venus-Figu­ri­nen, wohl­be­leib­te weib­li­che Sta­tu­en, die in der Früh­zeit stets kopf- oder gesichts­los waren. Sie wur­den nur in der Nähe der Feu­er­stel­le gefun­den. (Die­sen erhal­te­nen Figu­ren aus Elfen­bein oder Kno­chen gin­gen sicher Tau­sen­de von Figu­ren aus Holz vor­aus, das viel leich­ter zu bear­bei­ten war.) Dar­stel­lun­gen von Tie­ren (Jagd- und Groß­wild) sind bei Wild­beu­tern eben­so alt und häu­fig, männ­li­che Figu­ren sind sehr sel­ten und eher jün­ge­ren Datums. Nach dem Über­gang zu Acker­bau und Vieh­zucht wird aus der Venus der Vor­zeit die Frucht­bar­keits­göt­tin, die Magna Mater.
  3. Mytho­lo­gi­sche (also ältes­te münd­li­che) Über­lie­fe­run­gen: Noch im anti­ken Grie­chen­land wur­de bei allen öffent­li­chen Opfern das ers­te stets Hes­tia, der Göt­tin des Herd­feu­ers, dar­ge­bracht. „Ihr wei­ßes, gestalt­lo­ses (!) Abbild, wahr­schein­lich auch ihr meist ver­brei­te­tes Wahr­bild war der Ompha­los oder Nabel­stein in Del­phi.“ (Robert von Ran­ke-Gra­ves: Grie­chi­sche Mytho­lo­gie, Rein­bek 1960, 11. Aufl. 2011, S. 13) Alle anti­ken Mythen las­sen sich deu­ten als Schil­de­rung des Über­gangs vom Matri­ar­chat zum Patri­ar­chat mit vie­len unter­schied­li­chen Zwi­schen­for­men. In der anti­ken Göt­ter­welt wur­de dann, bei männ­li­cher Vor­herr­schaft, ein gewis­ser Kom­pro­miss zwi­schen weib­li­chen und männ­li­chen Göt­tern gefun­den. Die­sel­be Ent­wick­lung fand im Nor­den Euro­pas statt (vgl. dazu Gise­la Bleibtreu-Ehrenberg).
  4. Grund­sätz­li­che Über­le­gun­gen: Bei allen noch in der Neu­zeit vor­kom­men­den Wild­beu­ter­grup­pen gab es zumin­dest eine gewis­se Arbeits­tei­lung mit zeit­wei­ser Tren­nung von Frau­en und Män­nern. Die Betreu­ung von (klei­nen) Kin­dern war aus­schließ­lich oder über­wie­gend Frau­en­ar­beit. Wei­ter­hin sind Män­ner durch­schnitt­lich etwas grö­ßer und stär­ker als Frau­en. Aus all dem folgt zwangs­läu­fig ein etwas unter­schied­li­cher Akti­ons­ra­di­us der bei­den Geschlech­ter. Frau­en dürf­ten näher am vor Raub­tie­ren und Käl­te schüt­zen­den (Haupt-) Feu­er geblie­ben sein. Dort dürf­ten sie eher das Sagen gehabt haben, das legen auch die archäo­lo­gi­schen und mytho­lo­gi­schen Befun­de nahe. Män­ner dürf­ten bei der (Großwild-)Jagd domi­nant gewe­sen sein.

Ein Patri­ar­chat kann es erst geben, wenn Vater­schaft bekannt ist. Die­se war aber den Früh­men­schen genau­so unbe­kannt wie heu­te den Men­schen­af­fen. Selbst die Erkennt­nis, dass (Hetero-)Sexualität, Schwan­ger­schaft und Geburt zusam­men­hän­gen, dürf­te ver­gleichs­wei­se jun­gen Datums sein. (Noch in anti­ken Mythen kön­nen Stu­ten vom Nord­wind und Frau­en beim Baden durch Was­ser­geis­ter geschwän­gert wer­den.) Mut­ter­schaft ist hin­ge­gen bei allen Säu­ge­tie­ren unmit­tel­bar und dau­er­haft erleb­bar. Es dürf­te vie­le Jahr­tau­sen­de gedau­ert haben, bis der Zusam­men­hang zwi­schen (Hete­ro-) Sexua­li­tät und Geburt All­ge­mein­wis­sen wur­de und auch dann war (bei mög­li­cher Pro­mis­kui­tät der Frau­en) Vater­schaft noch lan­ge nicht sicher und noch weni­ger sozi­al aner­kannt. (Die Unkennt­nis die­ses Zusam­men­hangs ver­hin­der­te sicher nicht, dass Väter und Kin­der eine beson­ders enge Bezie­hung in der Grup­pe ein­ge­hen konn­ten, weil sie sich ver­mut­lich stär­ker zuein­an­der hin­ge­zo­gen fühl­ten als zu ande­ren. (Gibt es Beob­ach­tun­gen zu „intui­ti­ver Vater­schaft“ bei Men­schen­af­fen?)

Frü­he Reli­gio­nen haben zwei Zwei­ge, die Ver­eh­rung der Ahnen und die Ver­eh­rung der Natur. Zumin­dest bis zum Zeit­punkt der sozia­len Aner­ken­nung von kon­kre­ter Vater­schaft konn­te es nur eine weib­li­che Ahnen­rei­he geben. Die Venus vom Hoh­len Fels und ihre vie­len Nach­fol­ge­rin­nen sind mög­li­cher­wei­se Dar­stel­lun­gen einer mythi­schen Ahn­frau, betont durch die Kopf- bzw. Gesichts­lo­sig­keit, viel­leicht aber auch Attri­bu­te der Wür­de der in ihrer Tra­di­ti­on ste­hen­den aktu­el­len Clanchefin.

Ein Teil der Natur­ge­wal­ten wur­de im Kampf gegen Raub- und Beu­te­tie­re am deut­lichs­ten erlebt. Ver­mut­lich sind die Tier­fi­gu­ren ein Ver­such, die­se Kräf­te magisch oder kul­tisch zu erfas­sen.  Es spricht jedoch vie­les dafür, dass die Natur ins­ge­samt eher mit dem Weib­li­chen als mit dem Männ­li­chen iden­ti­fi­ziert wur­de. Viel­leicht ist schon die Venus vom Hoh­len Fels eine, die Natur­göt­tin. Die spä­te­re Magna Mater war Göt­tin der Natur und aller ihrer Geschöp­fe. Noch die grie­chi­sche Arte­mis ist Her­rin der Wal­des und der Tie­re. Nach Ran­ke-Gra­ves wur­den erst im Über­gang zum Patri­ar­chat vie­le der ursprüng­lich weib­lich asso­zi­ier­ten Natur­phä­no­me­ne männ­lich. So blieb z. B. bei den Grie­chen und Römern der Mond weib­lich besetzt, die Son­ne wur­de männ­lich.  Damit wur­de die Welt zwei­ge­schlecht­lich und polar: ein­fachs­tes Bei­spiel: Mut­ter Erde und Vater Him­mel. Nur in einem ein­zi­gen Tem­pel welt­weit gelang es der männ­li­chen Pries­ter­kas­te, die Sta­tue der Göt­tin ganz hin­aus­zu­wer­fen, in dem von Jeru­sa­lem – der Ursprung der drei mono­the­is­ti­schen Reli­gio­nen. (Sind Wor­te wie Erde, Mate­rie, Mate­ri­al in allen Spra­chen weib­lich oder dem Müt­ter­li­chen ver­wandt?)

Die wich­tigs­ten Mys­te­ri­en im mensch­li­chen Leben sind bis heu­te Geburt und Tod. Beim erfreu­li­che­ren der bei­den, der Geburt, ist die Mut­ter unmit­tel­bar betei­ligt und Lebens­spen­de­rin. Der Tod wird zwar im euro­päi­schen Kul­tur­raum mit einem männ­li­chen Gerip­pe, dem Sen­sen­mann oder „Freund Hein“ ver­bild­licht, es gibt aber auch Hin­wei­se dar­auf, dass hier eben­falls etwas Weib­li­ches wirkt, wie Vor­stel­lun­gen vom Wie­der­ein­ge­hen in den Schoß von Mut­ter Erde. Nach der Mut­ter mit dem Kind ist die häu­figs­te Dar­stel­lung Mari­as, in deren Ver­eh­rung der alte Magna-Mater-Kult bis heu­te wei­ter­lebt, die Pie­tà, die Mut­ter mit dem toten Sohn auf dem Schoß. (Lie­gen Erd- bzw. Feu­er­be­stat­tun­gen unter­schied­li­che Todes­vor­stel­lun­gen zugrun­de?)

Auch die Lebens­er­fah­rung jedes Men­schen spricht für ein magi­sches oder kul­ti­sches Ehren­pri­mat der Frau. Die Mut­ter ist die ers­te „Gott­heit“ für jeden Säug­ling, ande­re „Göt­ter“ tre­ten erst spä­ter hin­zu. So wie das klei­ne Kind von der Mut­ter getra­gen wird (das Able­gen der Säug­lin­ge in Wägen oder ähn­li­chem ist ja erst neue­ren Datums), die ihm zunächst alles ist, wird der erwach­se­ne Mensch von Mut­ter Erde getra­gen, die ihm auch alles ist, jeden­falls wenn man ihre Pflan­zen und Tie­re hin­zu nimmt.

Eini­ge die­ser Aspek­te hat Her­mann Hes­se in sei­nem Gedicht „Ver­gäng­lich­keit“ verarbeitet:

(…)
Bald weht der Wind über mein brau­nes Grab.
Über das klei­ne Kind beugt sich die Mut­ter herab.
Ihre Augen will ich wie­der­se­hen, ihr Glück ist mein Stern.
Alles ande­re mag gehn und ver­wehn. Alles stirbt, alles stirbt gern.
Nur die ewi­ge Mut­ter bleibt, von der wir kamen.
Ihr spie­len­der Fin­ger schreibt in die flüch­ti­ge Luft unse­re Namen.

Die Über­ein­stim­mung des weib­li­chen Zyklus, urei­ge­nem weib­li­chem Erle­ben, mit den Mond­pha­sen, der nach der Son­nen­be­we­gung spek­ta­ku­lärs­ten regel­mä­ßi­gen Him­mels­be­we­gung, muss den Men­schen der Vor­zeit ohne Wis­sen, ohne Bil­der und Fil­me, wie ein Mys­te­ri­um erschie­nen sein. Lun­ar­sym­bo­lik ist schon in den ältes­ten bild­li­chen Dar­stel­lun­gen ent­hal­ten. Auch des­we­gen muss­ten Frau­en eine beson­de­re Ver­bin­dung zum Über­ir­di­schen haben.

Kul­ti­sche Ver­eh­rung von Frau­en ist grund­sätz­lich gut auch in einer patri­ar­cha­li­schen Gesell­schaft mög­lich. Bei­spie­le gibt es vie­le: die Göt­tin­nen der Anti­ke, der Mari­en­kult der ortho­do­xen und katho­li­schen Kir­che, die Ver­eh­rung weib­li­cher Gott­hei­ten im Hin­du­is­mus u.a. In allen die­sen Fäl­len gibt es aber auch männ­li­che Kult­bil­der, die gleich- oder über­ge­ord­net sind. Da die­se aber für die Vor­zeit  feh­len, ist es sehr unwahr­schein­lich, dass Frau­en sozi­al unter­ge­ord­net waren.

Die Neo­li­thi­sche Revo­lu­ti­on fand also vor „matrif­o­ka­lem“ Hin­ter­grund statt und hat zu einem Matri­ar­chat geführt, das teil­wei­se durch Män­ner-Opfer für die Frucht­bar­keit der Böden und des Viehs sorg­te (nach Ran­ke-Gra­ves). Der Über­gang zum Patri­ar­chat dürf­te zuerst bei noma­di­sie­ren­den Hir­ten­völ­kern gesche­hen sein, die dann die sess­haf­ten mit Pfer­den und Pfeil und Bogen über­rann­ten. In Krie­gen domi­nier­ten gene­rell die kör­per­lich über­le­ge­nen Män­ner, die Frau­en waren gezwun­gen, sich auf den Schutz ihrer Kin­der zu kon­zen­trie­ren. Die Patri­ar­cha­li­sie­rung wur­de so ins­be­son­de­re durch Krie­ge geför­dert, die schon immer Garan­ten für Ver­ro­hung waren.

IV. Mit der Kogni­ti­ven Revo­lu­ti­on begann nicht nur der Lei­dens­weg des Pla­ne­ten son­dern auch des homo sapi­ens – Ein Ver­such über das Ego

„Men­schen sind die unglück­lichs­ten aller Tie­re“ (Krish­na­mur­ti). Eine Ket­te von Lei­den und Dumm­hei­ten, die wir uns selbst und dem Rest der Schöp­fung zufü­gen, zieht sich durch die Geschich­te. Das kann kein Zufall sein und ist weder intel­li­gent noch durch tie­ri­sches Erbe zu erklä­ren. Dass die frü­hen Jäger auch  Groß­wild jagen konn­ten, kann man mit Intel­li­genz erklä­ren. Dass sie auch die letz­ten Exem­pla­re für sie unge­fähr­li­cher Groß­tie­re aus­rot­te­ten, wie auf allen Kon­ti­nen­ten gesche­hen, kaum. Es muss in unse­rer Intel­li­genz etwas geben, das regel­mä­ßig in das Gegen­teil umschla­gen kann. In Anleh­nung an vie­le Mys­ti­ker möch­te ich die­sen Teil das Ego nen­nen, eine Instanz in unse­rem Bewusst­sein, die man viel­leicht kurz am bes­ten als „Ich will“ bezeich­nen kann. Wenn die Mensch­heit sich seit der Kogni­ti­ven Revo­lu­ti­on gene­tisch nicht mehr wesent­lich ver­än­dert hat, muss damals auch das Ego ent­stan­den sein, zumin­dest als Mög­lich­keit für jedes Gehirn. Das Ego ange­mes­sen zu beschrei­ben, dürf­te dem Men­schen am bes­ten gelin­gen, dem der Zustand sei­nes Bewusst­seins mit und ohne Ego glei­cher­ma­ßen ver­traut ist. Davon hat es höchst­wahr­schein­lich nicht vie­le gege­ben. Ande­rer­seits waren wir alle mal Kin­der, erle­ben fast täg­lich das Ego in unter­schied­li­chen Stär­ken und sei­ne Abwe­sen­heit jede Nacht zumin­dest im Tiefschlaf.

Venus, Figur aus dem Hohle Fels bei Schelklingen

Venus­fi­gur aus dem Hoh­le Fels bei Schel­k­lin­gen, Schwä­bi­sche Alb
Alter ca. 42.000 Jahre

Idol von den Kykladen

Idol von den Kykla­den, Alter ca. 4550 Jahre

Per­sön­li­che Nachbemerkung

Die­ser Text (inklu­si­ve der Refle­xio­nen über das Ego ursprüng­lich ver­fasst als Brief an Yuval Hara­ri) hat mich über Mona­te beschäf­tigt. Oft wehr­te sich mein inne­rer Stein­zeit­mensch dage­gen, woll­te ein­fach leben und nicht ange­strengt nach­den­ken. Ein­mal ent­stand im Halb­schlaf der Satz „Intel­lek­tua­li­tät ist Faschis­mus“. Das mein­te sicher­lich nicht Den­ken an sich, son­dern nur das wil­lens­be­ton­te, ange­streng­te Den­ken und das klug sein wol­len. Die Insti­tu­tio­nen, in denen unser Ego in die­se intel­lek­tu­el­le Rich­tung sti­mu­liert wird, sind Schu­len und Uni­ver­si­tä­ten. In Kinos, Fuß­ball­sta­di­en, Fern­seh­fil­men, soge­nann­ten sozia­len Netz­wer­ken u. a. wird dage­gen mehr die emo­tio­na­le Sei­te unse­res Egos gepuscht.

Bis­her hat­ten alle Reli­gio­nen neben vie­lem Unheil, das sie selbst anrich­te­ten oder legi­ti­mier­ten, immer auch die Bot­schaft, dass wir abhän­gi­ge, sterb­li­che Geschöp­fe sind, die gar nicht viel wis­sen. Auch vie­le ernst­haf­te moder­ne Wis­sen­schaft­ler ver­tre­ten im Prin­zip die­se Ansicht. In der vul­gä­ren Wis­sen­schaft- und Tech­nik­gläu­big­keit unse­rer Tage spielt dage­gen die Ehr­furcht vor der Mys­te­ri­um der Schöp­fung (der Mate­rie), die seit Jahr­tau­sen­den auf dem Rück­zug ist, kei­ne gro­ße Rol­le. Unse­re eige­nen (Wil­lens-) Fähig­kei­ten fei­ern wir dage­gen umso hef­ti­ger. Dass wir im Ego auch einen „a prio­ri“ ein­ge­bau­ten lebens­feind­li­chen Aspekt unse­rer Intel­li­genz erken­nen, geschieht wahr­schein­lich im All­tag der klei­nen Leu­te gar nicht so sel­ten, für Wis­sen­schaft, Tech­nik, Poli­tik und zuneh­men­dem Maße auch Kul­tur, Kunst und sogar Reli­gi­on ist dies eher ein Randthema.

Solan­ge wir (frei nach Pau­lus) mensch­li­che Weis­heit und mensch­lich pro­du­zier­te Emo­tio­na­li­tät höher schät­zen als gött­li­che (= natür­li­che) Tor­heit wer­den wir zwar immer mäch­ti­ger wer­den, jede Men­ge teils segens- teils fluch­be­la­de­ne Erfin­dun­gen bewerk­stel­li­gen, aber kaum Ruhe, Frie­den und Glück fin­den – mit der Ten­denz, immer mehr zum Krebs­ge­schwür am Pla­ne­ten und an unse­rem eige­nen Kör­per zu werden.