Homo sapiens‘ Glanz und Elend – ein Versuch über das Ego
Gastbeitrag von Wilfried Eißler - Universalhistorische Reflexionen im Anschluss an Yuval Hararis Buch Sapiens. Eine kurze Geschichte der Menschheit
„Menschen sind die unglücklichsten aller Tiere“ (Krishnamurti). Eine Kette von Leiden und Dummheiten, die wir uns selbst und dem Rest der Schöpfung zufügen, zieht sich durch die Geschichte. Das kann kein Zufall sein und ist weder intelligent noch durch tierisches Erbe zu erklären. Dass die frühen Jäger auch Großwild jagen konnten, kann man mit Intelligenz erklären. Dass sie auch die letzten Exemplare für sie ungefährlicher Großtiere ausrotteten, wie auf allen Kontinenten geschehen, kaum. Es muss in unserer Intelligenz etwas geben, das regelmäßig in das Gegenteil umschlagen kann. In Anlehnung an viele Mystiker möchte ich diesen Teil das Ego nennen, eine Instanz in unserem Bewusstsein, die man vielleicht kurz am besten als „Ich will“ bezeichnen kann. Wenn die Menschheit sich seit der Kognitiven Revolution genetisch nicht mehr wesentlich verändert hat, muss damals auch das Ego entstanden sein, zumindest als Möglichkeit für jedes Gehirn. Das Ego angemessen zu beschreiben, dürfte dem Menschen am besten gelingen, dem der Zustand seines Bewusstseins mit und ohne Ego gleichermaßen vertraut ist. Es wird nicht viele Menschen geben, für die das zutrifft. Andererseits waren wir alle mal Kinder, erleben fast täglich das Ego in unterschiedlichen Stärken und seine Abwesenheit jede Nacht zumindest im Tiefschlaf.
- Wie entsteht das Ego?
Mir scheint klar, dass das Ego beim Säugling noch nicht vorhanden ist. Natürlich haben auch Säuglinge Bedürfnisse, Charakter, Individualität, auch eigenes Wollen. Das unterscheidet sie übrigens nicht von anderen Säugetieren. Die ununterbrochene Kette von mehr oder weniger gefühlsbeladenen Gedanken, die den Rest-Organismus (im Folgenden verkürzt Körper genannt) „tyrannisiert“ (Richard David Precht), bildet sich erst später heraus. Denken ist schwer ohne Sprache vorstellbar, und vielleicht geschieht es im Verlauf des Spracherwerbs, in dem das Kind erst von sich in der 3. Person und dann erst als „ich“ spricht, dass ein dauerhaftes Ich-Bewusstsein entsteht.
Eine zweite Erklärungsmöglichkeit des Egos geht meines Erachtens über die manipulativen Möglichkeiten der Hand. Die Spielmöglichkeiten von Wildschweinferkeln sind überschaubar: sich gegenseitig jagen, wegschubsen, bespringen und die Nase überall reinstecken. Das tun gleich weit entwickelte Menschenkinder im Wald grob gesagt auch. Aber sie haben noch viel mehr Spielmöglichkeiten: Äste entlauben, Steine zerschlagen, mit Stöcken oder Steinen werfen, bauen und wieder einreißen u. a. m. Beim weltweit beliebten Spiel im Sandkasten oder mit Bauklötzen erlebt das Kind, dass es Gebilde bauen und wieder zerstören kann. Spaß machen kann beides. (Vielleicht werden in dieser Entwicklungsphase Macht und Machen, einschließlich Zerstören, im Gehirn mit Lustgefühl gekoppelt.) Das alles verdanken wir unserer Hand und dem Werkzeuggebrauch, den sie ermöglicht. Unsere Intelligenz ist deswegen keine beschauende oder sinnierende, sondern manipulativ, machend, und dürfte sich darum in vielem z. B. von der der Wale unterscheiden. Natürlich gehören zur menschlichen Wachheit auch das Beherrschen der eigenen Glieder, das Beobachten der Umwelt und der Kontakt mit Artgenossen, wie bei allen sozial lebenden Säugetieren. Aber die Fähigkeit des Gestaltens und Machens ist bei ihnen viel geringer ausgeprägt.
Es ist sicher nicht nur in der deutschen Sprache so, dass alle Wörter, die Denkprozesse beschreiben ursprünglich hand-werkliche oder körperliche Vorgänge bezeichnen, wie z.B. ver-stehen, be-greifen, er-fassen. Vermutlich gibt es auch nicht nur im Deutschen einen Zusammenhang zwischen Machen und Macht. Machen gibt Macht über die Umwelt und deshalb ist das Erleben von Macht bei keinem Säugetier so groß wie bei homo sapiens.
Vielfältige soziale Prozesse sorgen ebenfalls dafür, dass sich ab der späten Kindheit ein Ich herausbildet, das jedenfalls im wachen Zustand recht stabil ist. Dieses Ich lässt uns empfinden und sagen, dass wir einen Körper haben – nicht, dass wir einer sind. Es herrscht über den Körper in dem Sinne, dass es versucht, möglichst alle bewussten Vorgänge über seine Kommandozentrale laufen zu lassen. Gelegentliches spontanes Handeln ist trotzdem weiterhin möglich. Es wird jetzt aber als etwas Besonderes erlebt, weil es die Ausnahme von der Regel, eine kurze Unterbrechung des normalen, eben kontrollierten Handels, darstellt. Ich vermute, dass seit der Kognitiven Revolution jeder (gesunde) Mensch ein solches Ich oder Ego hatte, wenn auch kulturell und historisch vielerlei Ausprägungen möglich waren und sind. Ganz sicher kann jedes Exemplar des homo sapiens ein solches Ego ausbilden (und damit z. B. in modernen Gesellschaften leben). Dass Ego-Bewusstheit nicht die einzige ist, zu der wir fähig sind, merken wir im normalen Alltag nicht nur bei spontanen Handlungen sondern auch dann, wenn wir sehr entspannt sind, z. B. wenn es im Prozess des morgendlichen Aufwachens noch eine Weile dauert, bis die innere Ordnung und Struktur des Ich-Bewusstseins sich wieder aufbaut, ähnlich dem Hochfahren eines Betriebssystems am PC.
2. Was kann das Ego?
Yuval Harari schildert in seiner Kurzen Geschichte der Menschheit sehr eindrücklich, wie sich zu Beginn der Neuzeit im Kampf um die Vorherrschaft auf dem Planeten die Europäer gegenüber den Indern und Chinesen durchsetzten, nicht weil sie über mehr Ressourcen verfügten oder weiter entwickelt waren, sondern weil sie unruhiger und gieriger waren: gieriger nach Wissen, Gold, Eroberungen, Macht und Missionierung. Vermutlich hat sich ein ähnlicher Prozess mehrfach in der Geschichte abgespielt und vielleicht hat Harari damit intuitiv auch einen, vielleicht sogar den wesentlichen Teil der Kognitiven Revolution beschrieben. Vielleicht waren die geistigen Fähigkeiten des Homo sapiens gar nicht viel höher als die des Neandertalers. Aber bei uns kam zum Potential der Wille, um nicht zu sagen der Zwang, hinzu, sie auch dauerhaft zu benutzen. Dass sich Werkzeuge über 1 Mio. Jahre praktisch nicht verändern, wie es bei Homo erectus der Fall war, war mit Sapiens nicht zu machen, dazu war sein Gehirn zu unruhig.
Ich möchte diesen Gedankengang an zwei Beispielen verdeutlichen, einem technologischen und einem sozialen.
Technologisch: Vermutlich hat auch schon der Neandertaler beobachtet, dass Tiere, die an steilen Felswänden abstürzten, unten als leichte Beute zu holen waren. Aus dieser Beobachtung jedoch durch hartnäckiges Nachdenken, wochenlanges Planen, Ausprobieren, Kommunikation mit Hunderten von Artgenossen usw. systematische Hetzjagden – vermutlich erst gegen weniger wehrhafte Tiere, dann schließlich sogar gegen Mammuts – zu machen, war Homo neanderthalensis nicht imstande. Vielleicht ist es aber besser gesagt, dass er es nicht wollte oder nicht wollen konnte. (Hat nicht der Plan, Teile einer Mammutherde mittels Fackeln in Panik zu setzen, sodass sie sich gegenseitig über einen Felsen in den Tod drängen, schon etwas „Böses“? Was muss es für den Sapiens nach vollbrachter Tat für ein Triumphgefühl gewesen sein, solche gottgleichen und intelligenten Riesen in den Tod getrieben zu haben? Fing damals die Geringschätzung der Mitgeschöpfe an?)
Im Sozialen: Wenn ein neues Weibchen in eine Bonobo-Gruppe kommt, steigt bei den Männchen die sexuelle Erregung. Sie werden versuchen, in die Nähe des Weibchens zu kommen und seine Gunst zu erlangen. Käme es nun (was bei Bonobos allerdings ungewöhnlich ist) zu einer vorübergehenden Abtrennung der Männchen von diesem Weibchen, würde der Erregungszustand schnell wieder absinken. Ist dagegen ein Menschenmann verliebt, wird er auch in der Ferne stunden- oder tagelang an die Geliebte denken und sich Strategien der Annäherung überlegen.
Ich glaube, dass uns vor allem dieser anhaltende Wille von anderen Säugetieren und Hominiden unterscheidet. Er gibt unseren Handlungen eine Nachdrücklichkeit und Mächtigkeit, die einmalig auf dem Planeten ist.
Sicherlich gibt es Naturvölker, die nicht so unruhig denken, fühlen und handeln (müssen) wie die Menschen der heutigen Industrienationen. Vielleicht gilt der berühmte Satz von Blaise Pascal, dass das ganze Elend der Menschheit daher rühre, dass kein Mensch eine halbe Stunde ruhig auf seinem Stuhl in einem Zimmer sitzen könne, für sie noch nicht. Vermutlich dürften sich bei näherer Betrachtung aber auch bei ihnen Beweise für ein unruhiges Ego finden lassen.
Unser Verhalten wird also nicht nur von angeborenen Trieben und Instinkten sowie von sozial Gelerntem bestimmt, sondern hat darüber hinaus eine (anhaltende) Willensdimension. Wir konkurrieren und kooperieren wie alle sozial lebenden Säugetiere, aber wir wollen dabei auch gut oder besser sein als andere und können diese Absicht über lange Zeiträume verfolgen. An einer Karriere kann man Jahrzehnte basteln. Geschwisterkonkurrenz kann sich noch im hohen Alter in jahrelangen Erbschaftsstreitigkeiten äußern usw. Auch die Mitglieder einer Schimpansen-Gruppe haben ihre sozialen Rollen, aber sie identifizieren sich nicht damit, wollen nicht gut in ihr sein oder sie gerade im Gegenteil nicht mehr einnehmen, sondern durch eine andere ersetzen usw.
Dabei können wir unseren Willen der nicht-menschlichen Umwelt relativ leicht aufzwingen, weil sie ihm auf lange Strecken nichts Gleichwertiges entgegensetzen kann (die Nutztiere werden sich nie für ihr Leiden bei uns rächen können). Im Umgang mit anderen Menschen stoßen wir auf Mitspieler, die ähnlich geartet sind, und scheitern viel öfter. Noch interessanter ist die Frage, was geschieht, wenn wir auch Bedürfnisse wie die nach Liebe, Geborgenheit, Glück, Freude und ähnlichem mit Willensenergie aufladen, was unvermeidlich geschieht. Es scheint Ziele zu geben, die gerade durch das Wollen immer weniger erreicht werden können.
Eine Funktionsweise unseres Egos verdient noch eine ausführlichere Schilderung, ich möchte sie Reflexivität nennen. Das Ego kann Handlungen gedanklich vorweg nehmen, durchspielen und dann entscheiden. Im normalen „Geschäftsablauf“ unseres Alltags werden ständig Verhaltensweisen im Bewusstsein durchgespielt und dann eine davon ausgeführt, die als Folge wieder neue Überlegungen in Gang setzt usw. Überlegen erfordert eine bestimmte Distanzierung von der unmittelbaren Situation, genauer, die Trennung von Subjekt (Ich, der ich denke) und Objekt (das worüber nachgedacht wird). In dieser Trennung erlebt das Denken sich als frei und souverän, es selbst ist nicht Objekt sondern Subjekt seiner Überlegungen, hat Macht, verschiedene Varianten durchzuspielen (selbst in Situationen, in denen der Körper ohnmächtig ist). Es kann immer weitere Reflexionsebenen eröffnen, also z. B. eine Universalgeschichte ersinnen, sich von ihr distanzieren, sie kritisieren, diese Kritik wieder kritisieren usw. Diese Fähigkeit erleichtert uns die Korrektur von Fehlern und lässt uns immer neue Versuche hin zu einer erfolgreichen Lösung des Problems unternehmen. Ich vermute, dass in der Trennung von Subjekt und Objekt die Millionen Jahre alte Erfahrung der machenden Hand und der benutzten Materie zu einer Grundstruktur unseres Denkens geronnen ist, dass sie eine Art Spiegelung des Machens und der Macht der Hand darstellt.
Unser willensbetontes Verhalten hat uns weit gebracht, zum erfolgreichsten und wohl auch zahlreichsten Säugetier werden lassen. Wir haben uns die Erde untertan gemacht. Selbst in einem Bereich in dem wir über Jahrtausende, wie alle Tiere, ziemlich machtlos waren, nämlich dem von Krankheit und Gesundheit, haben wir inzwischen mächtige Möglichkeiten und so können zumindest die Reicheren unter uns ihrem Leben die eine oder andere Spanne hinzusetzen (z. B. durch eine Operation), was die Bibel noch für unmöglich hielt. Aber – um auch mit Krishnamurti zu schließen: „Erfolg ist Brutalität“.
3. Was kann das Ego nicht?
Kurz gesagt: freiwillig abschalten. Es neigt zu over-doing und dazu, sich aufzublähen. Die Formen, in denen dies geschieht, sind sehr vielfältig, der zugrundeliegende Mechanismus ist immer derselbe. Das Ego hat sich vom Diener unseres Körpers zu seinem Herrn aufgeschwungen und verlässt diesen Platz sehr ungern. Das Verhältnis zwischen Ego und Rest-Organismus ist keines der liebevollen Kooperation sondern eine Art Kampf: Wie bei zwei mittelalterlichen Ritterheeren auf dem Schlachtfeld drängt die eine Seite mal die andere zurück, dann wieder umgekehrt usw. Keine Partei kann die andere ganz besiegen, aber Frieden schließen sie auch nicht.
Wir können das am deutlichsten im Prozess des Einschlafens erleben. Im besten Fall wird unser Wachbewusstsein schnell abgeschaltet und wir fallen in Tiefschlaf. Häufig erleben wir aber auch das obige Schlachtgetümmel: Der Körper will schlafen, wird aber vom Wachbewusstsein, das nicht aufhören will, aktiv zu sein, daran gehindert usw. Auch wenn ein Teil des Egos schlafen will, hilft uns das nicht weiter, oft im Gegenteil. Der Schalter zum Einschlafen kann nur von einer Instanz jenseits unseres Willens umgelegt werden. Es erscheint manchmal so, als ob es sinnvoll wäre, dass das Denken vorm Einschlafen die Tagesereignisse noch verarbeitet, bevor der Schlaf an der Reihe wäre. Manchmal auch, als ob das Bewusstsein nur Opfer einer Überreizung durch die Tagesereignisse wäre und, ähnlich wie z.B. eine durch körperliche Anstrengung überreizte Sehne, einfach seine Zeit braucht, um sich wieder zu beruhigen. Aber hinter dem Denken und seinen Gefühlsanteilen steckt immer auch ein Denken- und Fühlen-Wollen. Und Schlaf und Träumen können die Tagesereignisse viel besser bewerten und verarbeiten und tun dies ja in aller Regel endlich auch. Bei dieser Art des Einschlafens wird deutlich, dass das Ego, das dem Körper tagsüber gute Dienste geleistet hat, ihn nun stresst, ihm Kraft und Regenerationsfähigkeit raubt.
Im Wachzustand verhindert oder erschwert das Ego alle diejenigen Erlebnisebenen, zu denen Kontrolle und die Trennung von Subjekt und Objekt nicht passen: Geborgenheit, Liebe, Hingabe, Selbstvergessenheit, „ganzheitliches Erleben“, bis hin zur unio mystica der Mystiker. Es verabsolutiert sich sosehr, dass unsere normale Wahrnehmung die ist, dass „ich“ einen Körper habe, nicht, dass „ich Körper“ auch über einen Geist verfüge, den ich benutzen kann. Und selbst wenn wir Momente der erlebten Selbstaufgabe, z. B. in der Liebe haben, geschieht das bewusste Erleben und Reflektieren dieser Erfahrungen schon wieder im Ego-Bewusstsein. Wir entkommen unserem Ego genauso wenig wie Goethes Türmer seinem Turm (im Faust), müssen schon dankbar sein, wenn es soweit geschwächt ist, dass wir trauernd spüren, was uns durch das Ego alles an unmittelbarem Erleben, das wir bei kleinen Kindern beneiden, entgeht.
Viele Mystiker behaupten sinngemäß, dass unser normales Leben nichts anderes ist als eine Abfolge von Denk- und Gefühlstrips, die wir in Ermangelung Besserns für die Wirklichkeit halten. Das Ego ist so stark und unruhig, dass es sich ständig auf irgendeiner Welle selbst inszeniert. Nur sehr selten, in großer Ruhe, manchmal aber auch schockartig in Extremsituationen, werden einige der Vorhänge, die unser Ego vor die Wirklichkeit geschoben hat, beiseite gerückt und wir ahnen, dass alles ganz anders sein könnte, als wir es normalerweise empfinden und erleben.
Die Verbundenheit des Egos mit Macht und Machen wird daran deutlich, dass es sehr viel Verschiedenes denken kann, nur nicht, dass es nicht souverän, nicht fähig zum aktiven Handeln ist. Wir können nicht erleben, dass wir gelebt, dass wir geatmet, ge-stoffwechselt werden, nur dass wir leben, atmen und einen Stoffwechsel haben, obwohl der erste Halbsatz eher der Wahrheit entspricht. Das Ego kann sich nicht passiv erleben, es wehrt sich mit allem, was ihm an neuen Gedankengängen und Ausflüchten zur Verfügung steht, gegen Erlebnisse der Passivität.
Das Ego will aktiv sein, ist fast ständig im Wachzustand aktiv, kann ein Problem nach dem anderen lösen. Aber es kann nicht ohne Probleme, ohne Lösungsaufgaben sein. Das ist der Ursprung für die bittere Alltagsweisheit, dass sich, wer keine Probleme hat, welche macht. Dasselbe Spiel läuft mit Wünschen ab. Wenn genug Ressourcen da sind, kann sich das Ego einen Wunsch (der oft aus dem Körper kommt, aber im Ego erlebt und dadurch verstärkt wird) nach dem anderen erfüllen, aber es kann nicht wunschlos (glücklich) sein, genauso wenig wie einfach absichtslos da und zufrieden.
Es gibt in der Kindheit eine Phase, in der selbstvergessenes und kontrolliertes Erleben und Handeln sich noch abwechseln. Und vermutlich hat es auch in der Hominiden-Entwicklung eine Zeit gegeben, in der machtvolles Wollen und absichtsloses Da-Sein noch mehr harmonierten als beim heutigen (erwachsenen) Homo sapiens. Nur haben sich im Verlauf der Evolution eben die willensstärkeren Mutationen durchgesetzt, weil sie die bessere Nahrungsversorgung erreichten, sich stärker fortpflanzten usw.
Krishnamurti weist noch auf eine weitere Einschränkung durch unser Ego hin: Jede Bewertung (einer Handlung, eines Menschen, eines Objekts), die unser Gehirn vornimmt, geschieht auf dem Hintergrund bisheriger Erfahrungen, je kontrollierter unser Denken ist, desto stärker. Auf diese Weise beherrscht immer die Vergangenheit die Gegenwart, wirklich etwas Neues, „Schöpfung“ kann nur geschehen, wenn ohne Ego, also „unkontrolliert“ gehandelt wird. (Die Tatsache, dass spontane Handlungen in aller Regel sinnvoll sind, oft sinnvoller als die geplanten, zeigt, dass das Gehirn auch jenseits des Egos über vernünftige Regelungsmechanismen verfügt. Gibt es nicht viel mehr spontane Herzlichkeit als spontane Bosheit?)
Ähnlich wie erlernte Bewegungen durch ständige Wiederholung routinisiert werden, prägen sich auch tausendfach wiederholte Gedanken- und Gefühlsregungen im Gehirn immer tiefer ein. Sie werden viel leichter und schneller wiedererlebt als neue, erscheinen immer selbstverständlicher und vernünftiger, während es andere Regungen immer schwerer haben, vom Bewusstsein akzeptiert zu werden. So entsteht unsere Persönlichkeit oder, wie es Wilhelm Reich ausdrückte, unser „Charakterpanzer“. Eine Variante davon ist der Altersstarrsinn.
Starrsinnig können aber nicht nur Individuen sondern auch Gruppen und ganze Gesellschaften sein. Ihr normatives Regelwerk ist nichts anderes als kollektiv routinisierte Bewertungen, die (fast) allen Beteiligten durch die ständige Wiederholung selbstverständlich und quasi natürlich erscheinen. Sklaverei war den Menschen des Altertums das normalste von der Welt, nicht nur den Herren, sondern auch den (meisten) Sklaven. Mit entsprechendem Abstand betrachtet, haben alle Sozialstrukturen und Systeme sozialer Ungleichheit, die die Menschheit je hervorgebracht hat, etwas Absurdes und Verrücktes. Den jeweiligen Mitspielern erscheinen sie in aller Regel vernünftig und alternativlos.
Die weiter oben erwähnte Ausrottung vieler Großwildarten auf allen Kontinenten durch Homo sapiens findet hier möglicherweis eine einfache Erklärung: Es war üblich, diese zu jagen, und dieses Programm konnte (vermutlich trotz einiger warnender Stimmen) nicht gestoppt werden, bis auch das letzte Riesenfaultier usw. tot war. Noch in jüngster Zeit galt die Tötung eines Löwen durch einen jungen Massai als Mutprobe, die er zu bestehen hatte, um ein Mann zu werden, auch als kaum noch Löwen für dieses Ritual zu Verfügung standen. Denkbar ist natürlich auch, dass die frühen Großwildjäger die Folgen ihrer Handlungen einfach nicht überschauten. Es war ihnen nicht klar, was sie anrichteten. (Sie wären damit nicht wesentlich dümmer als Homo sapiens heute, der auch keine Ahnung davon hat, welche einzigartigen Fähigkeiten er mit den –zig Pflanzen- und Tierarten, die jedes Jahr durch sein Handeln ausgerottet werden, endgültig vernichtet.)
Routinisierung von Handlungen und Bewertungen gibt es natürlich auch schon im Tierreich und auch Homo sapiens verfügt sicher auch jenseits des Egos darüber. Unser Willenspotential gibt ihnen aber eine besondere Härte, die vielleicht am schönsten mit der Formulierung aus dem Tao-te-king beschrieben ist, dass das Leben weich und schwach in die Welt kommt und sie hart und stark wieder verlässt.
4. Der Preis des Egos
Der Stress, den das Wollen dem Körper bereitet, ist kaum zu überschätzen. Bei sensibler Wahrnehmung wird deutlich, dass jeder Gedanke, jede bewusst erlebte Gefühlsregung mit körperlicher Anspannung verbunden ist. Willensbetonte geistige Anstrengung laugt den Körper dabei noch mehr aus körperliche, weil dieser sich im eigenen Revier eher wehren kann. Die in Industrienationen massenhaft verbreiteten Rückenprobleme sind weniger auf den aufrechten Gang als auf hartes, willensstarkes Funktionieren zurückzuführen. Wir sprechen von „eisernem“ Willen und „hartnäckigem“ Wollen und beides ist körperlich spür- und greifbar, als z. T. extreme Verspannung von Hals, Schultern und Rücken.
Schon als einen einsam lebenden Robinson Crusoe betrachtet zahlt Homo sapiens also einen hohen Preis für seine geistigen Fähigkeiten: seelisch durch geistige und emotionale Unruhe und große Schwierigkeiten, glücklich und zufrieden zu sein, körperlich durch Anspannungen, die sich nicht selten chronifizieren.
Kommt Robinson in Gesellschaft, kann dies zunächst ego-lindernd wirken. Bei Affen sind soziale Körper-Kontakte der Ausgleich für mentalen Stress. Er wird aber in eine hierarchische Gesellschaft kommen und damit auch unter den Egos seiner jeweiligen Obrigkeit (die auch ziemlich anonym sein kann, wie im Finanzkapitalismus unserer Tage) zu leiden haben.
Es gibt erstaunlich viele Parallelen zwischen der Rolle des Egos im Individuum und dem der Oberschicht in einer Gesellschaft. Beide hatten ursprünglich die Funktion dem Gesamtsystem zu dienen. In gewisser Weise tun sie dies immer auch noch, aber sie haben sich von Dienern zu Herrschern aufgeschwungen.
Vermutlich standen am Anfang der Hierarchien sozialer Ungleichheit eine Art Ehrenprimat oder auf Zeit angelegte Führungsaufgaben. Einige der Inhaber(innen) dieser Positionen fanden Gefallen an ihrer Macht, mehrten sie, weigerten sich, sie zurückzugeben und machten sie schließlich erblich. (Das gleiche Vorgehen ist aktuell bei etlichen, ursprünglich auf Zeit bestimmten Führern an verschiedenen Ecken der Welt zu beobachten.) Einige waren mit diesem Vorgehen erfolgreich und so entstanden über Jahrtausende die teils monströsen Formen persönlicher Herrschaft. Wie bei unserem Ego auch hier der Übergang von einer dienenden zu einer beherrschenden, ausbeutenden Rolle.
Sowohl dem individuellen Ego als auch der gesellschaftlichen Elite gelingt es, sich mit vielerlei geistigen Manövern und Blendwerk als legitim, naturgegeben und alternativlos zu setzen. Beispiel Gesellschaft: Die angebliche Abstammung antiker Könige von Göttern und die irreführenden Bezeichnungen „Arbeitgeber“ und „Arbeitnehmer“ haben beide dieselbe Funktion der Verschleierung, Verwirrung und Legitimierung von sozialer Herrschaft und Ausbeutung. Beispiel Einzelwesen: Das Ego erfindet laufend Gründe, dass es weiter aktiv denken und fühlen muss. Selbst wenn es die Einsicht hat, dass es besser still wäre, gaukelt es uns vor, dass es dafür arbeiten, also aktiv sein müsste.
Oberschicht und Ego erfüllen beide auch wichtige und sinnvolle Aufgaben für das Gesamtsystem. Da sie sich aber nach Erfüllung dieser Mission nicht zurücknehmen, sondern von ihrer Macht nicht genug bekommen können, sind sie beide auch im besten Fall lästige Begleiter, im mittleren Fall Stressoren und im ungünstigsten Fall Zerstörer des Gesamtsystems. (Beispiele: Ein Ego kann einen Menschen in eine tödliche Gefahr treiben, ein größenwahnsinniger Führer, wie Hitler, einen halben Kontinent ins Elend stürzen).
Für beide gilt auch, dass ihr eigentliches Interesse nicht das Wohlbefinden des Gesamtsystems, seine Ausweitung oder sein Weiterleben ist (obwohl sie viel zu diesen Zwecken beitragen können), sondern allein ihre Macht und deren Weiterleben. Konkret individuell: Das eigentliche Ziel des Egos ist nicht das Wohlbefinden des Körpers – sonst gäbe es kein nächtelanges Grübeln‑, nicht das Überleben des Individuums – sonst gäbe es keine Suizide und Selbstmordattentate‑, und auch nicht das der Gattung Mensch – sonst gäbe es keine Verhütung und Enthaltsamkeit. Allen diesen Zwecken kann das Ego zwar dienen und tut es in der Regel auch, aber sein ureigenstes Interesse ist (zumindest ab einem bestimmten Erregungszustand) das der fortgesetzten eigenen Macht. Es kann zu einer Art geistigem Krebs werden, der zwar Teil des Körpers ist, aber nur am eigenen Wuchern interessiert ist.
Das von Harari (s. o.) sogenannte Gilgamesch-Projekt, der Versuch den Tod zu besiegen, ist ein typischer Ego-Wunsch. Seine Verwirklichung wäre übrigens ein Alptraum für die Nachgeborenen und im Grunde auch für das unsterbliche Individuum selbst. Jedes alte und schwache Tier will in Ruhe sterben. Aufmunterungen zum Weiterleben kommen bei sozial lebenden Säugetieren eher von den Artgenossen. Die meisten (nicht alle) alten und schwerkranken Menschen wollen das auch. Nur ein Ego in der Blüte seiner Macht plant seine eigene Unsterblichkeit.
Unser Robinson wird aber auch auf gleicher Hierarchie-Ebene sozialen Prozessen ausgesetzt sein, die ego-stärkend wirken. Stark vereinfacht gesagt, können sich individuelle Willenspotentiale zu einem gemeinsamen Wunsch zusammenschließen oder sie können sich in gegenseitiger Feindseligkeit aufschaukeln. Im ersten Fall beschließt z. B. eine Dorfgemeinschaft (ohne Anweisung der Obrigkeit), gemeinsam einen Tempel zu bauen. Im zweiten streiten sich z. B. Nachbarn jahrelang mit zunehmender Erbitterung um irgendetwas. Die dramatischsten Auswirkungen haben Willensbündelungen, wenn sich eine Gruppe zusammenschließt, um feindselig gegen andere Individuen oder Gruppen vorzugehen. So können Pogrome und Kriege entstehen, die für fast alle Beteiligten entweder mit Tod oder Traumatisierung enden. Hier lässt sich einwenden, dass es auch im Tierreich schon Kriege gibt. Auch die männerdominierten Schimpansen können im Gegensatz zu den „matriarchalischen“ Bonobos Kriege gegen Nachbargruppen führen und sind sogar zum „Völkermord“ fähig. Auch dafür ist wohl schon strategisches Überlegen nötig. Aber diese „Kriege“ haben aus menschlicher Sicht noch etwas Spontanes, „geschehen einfach so“. Nur Homo sapiens hat die Willenskraft, über Generationen wechselseitig Blutrache zu üben, jahrhundertelang Feindschaft zu schüren, wie z. B. gegen die Juden im mittelalterlichen Europa, oder jahrzehntelang gegen einander aufzurüsten wie die „Erbfeinde“ Deutschland und Frankreich.
Zum Glück für die Menschheit gibt es individuell und kollektiv nicht nur ego-stärkende sondern auch ego-schwächende Mechanismen, denen es in guten Zeiten gelingt, die Ausbeutung durch die „Obrigkeit“ in Grenzen zu halten. Beim Einschlafen wird das Ego schließlich doch abgeschaltet und der Körper kann sich erholen und auch im Wachzustand setzen eigene körperliche und emotionale Widerstände sowie die der sozialen Umgebung in der Regel der ausufernden Aktivität des Egos erfolgreich Grenzen. In Gesellschaften muss normalerweise die Oberschicht so viel Rücksicht auf die Beherrschten nehmen, dass diesen auch etwas Lebensfreude bleibt, sie nicht revoltieren oder es nicht zum Kollaps der Gesellschaft kommt (sonst wäre die Geschichte noch viel brutaler verlaufen, als sie es ist).
Dauerhaft stabil ist im oben zitierten mittelalterlichen Schlachtgetümmel aber keine Stellung. Das Ego ist süchtig nach sich selbst und seiner Macht oder kann es zumindest bei entsprechender Stimulierung leicht werden.
Seine Selbstsucht äußert sich in seinem Wunsch, unterhalten und stimuliert zu werden. Der weltweiten Verbreitung und Nutzung von Unterhaltungselektronik scheint keine Grenze gesetzt zu sein. Sie hat unser Privat- und Familienleben mehr verändert als alle anderen Erfindungen der letzten 2.000 Jahre. Auch Tiere können Schwierigkeiten damit bekommen, eines ihrer Organe zu wenig zu benutzen. Wenn sie nicht viel nagen, wachsen z. B. Mäusen die Schneidezähne so stark, dass es ihnen den Kiefer aufreißt und sie verhungern. Aber sie scheinen ein Gleichgewicht gefunden zu haben, müssen nicht immer noch mehr nagen, wie es bei menschlichen Kommunikation und Unterhaltung der Fall zu sein scheint. Eben das ist ein Zeichen für Sucht, sie kann nicht gestillt werden, sondern wird mit jeder Befriedigung stärker. In der Regel stimuliert andauernde Unterhaltung das Ego noch mehr, macht sein Abschalten schwieriger, während weichere Regungen oft darunter verwahrlosen.
Sebastian Haffner schreibt irgendwo, dass Macht die stärkste Droge sei. Das gilt vermutlich nur für Menschen, nicht für Tiere. Die großartigen bis größenwahnsinnigen Projekte früherer absoluter Herrscher rühren nicht daher, dass diese besonders schlechte Charaktere waren, sondern dass sie den Versuchungen ihrer Position erlegen sind, wie ihnen (fast) jeder erliegen würde. Soweit sie übrigens kein Verantwortungsgefühl hatten, hielt sich ihr eigenes Leiden unter ihrem Ego in Grenzen. Für Ihre Untertanen war es umso schlimmer. (Natürlich kommen Machtkämpfe auch im Tierreich vor. Brunftige Hirsche kämpfen bis zur Erschöpfung mit Artgenossen, männliche Löwen riskieren ihr Leben um Rudelführer zu werden. Aber sie tun dies instinkt- und hormongesteuert, nicht mit lang anhaltendem Willen.)
Die Lust an der Macht ist in der Lage, Homo sapiens alle Instinkte und Intuitionen des Körpers und alle sozialen Prägungen, die ihr entgegenstehen, vergessen zu lassen. Das geht nicht von jetzt auf nachher, aber doch relativ schnell. Jugendliche Massenmörder im Kongo erinnern sich alle noch an ihren ersten Mord. Den meisten ging es danach tagelang schlecht, viele mussten sich übergeben. „Beim zweiten Mal ging es besser. Beim dritten Mal verspürten sie ein Hochgefühl.“ („Der Mörder in uns“, Prof. Thomas Elbert in der Stuttgarter Zeitung vom 30.1.15) Es gibt vermutlich keine noch so grausame Untat an Artgenossen, zu dem die Machtgier des Egos das an sich liebesfähigste und liebesbedürftigste Geschöpf des Planeten nicht treiben könnte.
Die Machtgier des Egos wendet sich zwar häufig nach außen, kann sich aber auch nur auf den eigenen Körper beziehen. Beispiele wären extreme Askese, exzessiver willensbetonter Sport oder auch Selbstmordattentate.
„Triumph des Willens“ hieß ein berühmt gewordener Film von Hitlers Lieblings-Regisseurin Leni Riefenstahl. Exzesse des Willens kommen vermutlich in vielen individuellen Leben in gewisser Regelmäßigkeit vor, teilweise sind sie von außen erzwungen, wie z. B. durch Prüfungs- oder Arbeitsdruck, oft aber auch selbst produziert. Von den kollektiven Willensexzessen war der Faschismus, insbesondere der Nationalsozialismus für Europa das bisher eindrücklichste Beispiel. Man kann sich darüber streiten, ob das Ego selbst schon „böse“ ist, der Triumph des Willens ist in jedem Fall mit sehr viel Bösem verbunden.
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