Homo sapi­ens‘ Glanz und Elend – ein Ver­such über das Ego

Gast­bei­trag von Wil­fried Eiß­ler - Uni­ver­sal­his­to­ri­sche Refle­xio­nen im Anschluss an Yuval Har­a­ris Buch Sapi­ens. Eine kur­ze Geschich­te der Menschheit

„Men­schen sind die unglück­lichs­ten aller Tie­re“ (Krish­na­mur­ti). Eine Ket­te von Lei­den und Dumm­hei­ten, die wir uns selbst und dem Rest der Schöp­fung zufü­gen, zieht sich durch die Geschich­te. Das kann kein Zufall sein und ist weder intel­li­gent noch durch tie­ri­sches Erbe zu erklä­ren. Dass die frü­hen Jäger auch Groß­wild jagen konn­ten, kann man mit Intel­li­genz erklä­ren. Dass sie auch die letz­ten Exem­pla­re für sie unge­fähr­li­cher Groß­tie­re aus­rot­te­ten, wie auf allen Kon­ti­nen­ten gesche­hen, kaum. Es muss in unse­rer Intel­li­genz etwas geben, das regel­mä­ßig in das Gegen­teil umschla­gen kann. In Anleh­nung an vie­le Mys­ti­ker möch­te ich die­sen Teil das Ego nen­nen, eine Instanz in unse­rem Bewusst­sein, die man viel­leicht kurz am bes­ten als „Ich will“ bezeich­nen kann. Wenn die Mensch­heit sich seit der Kogni­ti­ven Revo­lu­ti­on gene­tisch nicht mehr wesent­lich ver­än­dert hat, muss damals auch das Ego ent­stan­den sein, zumin­dest als Mög­lich­keit für jedes Gehirn. Das Ego ange­mes­sen zu beschrei­ben, dürf­te dem Men­schen am bes­ten gelin­gen, dem der Zustand sei­nes Bewusst­seins mit und ohne Ego glei­cher­ma­ßen ver­traut ist. Es wird nicht vie­le Men­schen geben, für die das zutrifft. Ande­rer­seits waren wir alle mal Kin­der, erle­ben fast täg­lich das Ego in unter­schied­li­chen Stär­ken und sei­ne Abwe­sen­heit jede Nacht zumin­dest im Tiefschlaf.

  1. Wie ent­steht das Ego?

Mir scheint klar, dass das Ego beim Säug­ling noch nicht vor­han­den ist. Natür­lich haben auch Säug­lin­ge Bedürf­nis­se, Cha­rak­ter, Indi­vi­dua­li­tät, auch eige­nes Wol­len. Das unter­schei­det sie übri­gens nicht von ande­ren Säu­ge­tie­ren. Die unun­ter­bro­che­ne Ket­te von mehr oder weni­ger gefühls­be­la­de­nen Gedan­ken, die den Rest-Orga­nis­mus (im Fol­gen­den ver­kürzt Kör­per genannt) „tyran­ni­siert“ (Richard David Precht), bil­det sich erst spä­ter her­aus. Den­ken ist schwer ohne Spra­che vor­stell­bar, und viel­leicht geschieht es im Ver­lauf des Sprach­er­werbs, in dem das Kind erst von sich in der 3. Per­son und dann erst als „ich“ spricht, dass ein dau­er­haf­tes Ich-Bewusst­sein entsteht.

Eine zwei­te Erklä­rungs­mög­lich­keit des Egos geht mei­nes Erach­tens über die mani­pu­la­ti­ven Mög­lich­kei­ten der Hand. Die Spiel­mög­lich­kei­ten von Wild­schwein­fer­keln sind über­schau­bar: sich gegen­sei­tig jagen, weg­schub­sen, besprin­gen und die Nase über­all rein­ste­cken. Das tun gleich weit ent­wi­ckel­te Men­schen­kin­der im Wald grob gesagt auch. Aber sie haben noch viel mehr Spiel­mög­lich­kei­ten: Äste ent­lau­ben, Stei­ne zer­schla­gen, mit Stö­cken oder Stei­nen wer­fen, bau­en und wie­der ein­rei­ßen u. a. m. Beim welt­weit belieb­ten Spiel im Sand­kas­ten oder mit Bau­klöt­zen erlebt das Kind, dass es Gebil­de bau­en und wie­der zer­stö­ren kann. Spaß machen kann bei­des. (Viel­leicht wer­den in die­ser Ent­wick­lungs­pha­se Macht und Machen, ein­schließ­lich Zer­stö­ren, im Gehirn mit Lust­ge­fühl gekop­pelt.) Das alles ver­dan­ken wir unse­rer Hand und dem Werk­zeug­ge­brauch, den sie ermög­licht. Unse­re Intel­li­genz ist des­we­gen kei­ne beschau­en­de oder sin­nie­ren­de, son­dern mani­pu­la­tiv, machend, und dürf­te sich dar­um in vie­lem z. B. von der der Wale unter­schei­den. Natür­lich gehö­ren zur mensch­li­chen Wach­heit auch das Beherr­schen der eige­nen Glie­der, das Beob­ach­ten der Umwelt und der Kon­takt mit Art­ge­nos­sen, wie bei allen sozi­al leben­den Säu­ge­tie­ren. Aber die Fähig­keit des Gestal­tens und Machens ist bei ihnen viel gerin­ger ausgeprägt.

Es ist sicher nicht nur in der deut­schen Spra­che so, dass alle Wör­ter, die Denk­pro­zes­se beschrei­ben ursprüng­lich hand-werk­li­che oder kör­per­li­che Vor­gän­ge bezeich­nen, wie z.B. ver-ste­hen, be-grei­fen, er-fas­sen. Ver­mut­lich gibt es auch nicht nur im Deut­schen einen Zusam­men­hang zwi­schen Machen und Macht. Machen gibt Macht über die Umwelt und des­halb ist das Erle­ben von Macht bei kei­nem Säu­ge­tier so groß wie bei homo sapiens.

Viel­fäl­ti­ge sozia­le  Pro­zes­se sor­gen eben­falls dafür, dass sich ab der spä­ten Kind­heit ein Ich her­aus­bil­det, das jeden­falls im wachen Zustand recht sta­bil ist. Die­ses Ich lässt uns emp­fin­den und sagen, dass wir einen Kör­per haben – nicht, dass wir einer sind. Es herrscht über den Kör­per in dem Sin­ne, dass es ver­sucht, mög­lichst alle bewuss­ten Vor­gän­ge über sei­ne Kom­man­do­zen­tra­le lau­fen zu las­sen. Gele­gent­li­ches spon­ta­nes Han­deln ist trotz­dem wei­ter­hin mög­lich. Es wird jetzt aber als etwas Beson­de­res erlebt, weil es die Aus­nah­me von der Regel, eine kur­ze Unter­bre­chung des nor­ma­len, eben kon­trol­lier­ten Han­dels, dar­stellt. Ich ver­mu­te, dass seit der Kogni­ti­ven Revo­lu­ti­on jeder (gesun­de) Mensch ein sol­ches Ich oder Ego hat­te, wenn auch kul­tu­rell und his­to­risch vie­ler­lei Aus­prä­gun­gen mög­lich waren und sind. Ganz sicher kann jedes Exem­plar des homo sapi­ens ein sol­ches Ego aus­bil­den (und damit z. B. in moder­nen Gesell­schaf­ten leben). Dass Ego-Bewusst­heit nicht die ein­zi­ge ist, zu der wir fähig sind, mer­ken wir im nor­ma­len All­tag nicht nur bei spon­ta­nen Hand­lun­gen son­dern auch dann, wenn wir sehr ent­spannt sind, z. B. wenn es im Pro­zess des mor­gend­li­chen Auf­wa­chens noch eine Wei­le dau­ert, bis die inne­re Ord­nung und Struk­tur des Ich-Bewusst­seins sich wie­der auf­baut, ähn­lich dem Hoch­fah­ren eines Betriebs­sys­tems am PC.

2. Was kann das Ego?

Yuval Hara­ri schil­dert in sei­ner Kur­zen Geschich­te der Mensch­heit sehr ein­drück­lich, wie sich zu Beginn der Neu­zeit im Kampf um die Vor­herr­schaft auf dem Pla­ne­ten die Euro­pä­er gegen­über den Indern und Chi­ne­sen durch­setz­ten, nicht weil sie über mehr Res­sour­cen ver­füg­ten oder wei­ter ent­wi­ckelt waren, son­dern weil sie unru­hi­ger und gie­ri­ger waren: gie­ri­ger nach Wis­sen, Gold, Erobe­run­gen, Macht und Mis­sio­nie­rung. Ver­mut­lich hat sich ein ähn­li­cher Pro­zess mehr­fach in der Geschich­te abge­spielt und viel­leicht hat Hara­ri damit intui­tiv auch einen, viel­leicht sogar den wesent­li­chen Teil der Kogni­ti­ven Revo­lu­ti­on beschrie­ben. Viel­leicht waren die geis­ti­gen Fähig­kei­ten des Homo sapi­ens gar nicht viel höher als die des Nean­der­ta­lers. Aber bei uns kam zum Poten­ti­al der Wil­le, um nicht zu sagen der Zwang, hin­zu, sie auch dau­er­haft zu benut­zen. Dass sich Werk­zeu­ge über 1 Mio. Jah­re prak­tisch nicht ver­än­dern, wie es bei Homo erec­tus der Fall war, war mit Sapi­ens nicht zu machen, dazu war sein Gehirn zu unruhig.

Ich möch­te die­sen Gedan­ken­gang an zwei Bei­spie­len ver­deut­li­chen, einem tech­no­lo­gi­schen und einem sozialen.

Tech­no­lo­gisch: Ver­mut­lich hat auch schon der Nean­der­ta­ler beob­ach­tet, dass Tie­re, die an stei­len Fels­wän­den abstürz­ten, unten als leich­te Beu­te zu holen waren. Aus die­ser Beob­ach­tung jedoch durch hart­nä­cki­ges Nach­den­ken, wochen­lan­ges Pla­nen, Aus­pro­bie­ren, Kom­mu­ni­ka­ti­on mit Hun­der­ten von Art­ge­nos­sen usw. sys­te­ma­ti­sche Hetz­jag­den – ver­mut­lich erst gegen weni­ger wehr­haf­te Tie­re, dann schließ­lich sogar gegen Mam­muts – zu machen, war Homo nean­der­tha­len­sis nicht imstan­de. Viel­leicht ist es aber bes­ser gesagt, dass er es nicht woll­te oder nicht wol­len konn­te. (Hat nicht der Plan, Tei­le einer Mam­mut­her­de mit­tels Fackeln in Panik zu set­zen, sodass sie sich gegen­sei­tig über einen Fel­sen in den Tod drän­gen, schon etwas „Böses“? Was muss es für den Sapi­ens nach voll­brach­ter Tat für ein Tri­umph­ge­fühl gewe­sen sein, sol­che gott­glei­chen und intel­li­gen­ten Rie­sen in den Tod getrie­ben zu haben? Fing damals die Gering­schät­zung der Mit­ge­schöp­fe an?)

Im Sozia­len: Wenn ein neu­es Weib­chen in eine Bono­bo-Grup­pe kommt, steigt bei den Männ­chen die sexu­el­le Erre­gung. Sie wer­den ver­su­chen, in die Nähe des Weib­chens zu kom­men und sei­ne Gunst zu erlan­gen. Käme es nun (was bei Bono­bos aller­dings unge­wöhn­lich ist) zu einer vor­über­ge­hen­den Abtren­nung der Männ­chen von die­sem Weib­chen, wür­de der Erre­gungs­zu­stand schnell wie­der absin­ken. Ist dage­gen ein Men­schen­mann ver­liebt, wird er auch in der Fer­ne stun­den- oder tage­lang an die Gelieb­te den­ken und sich Stra­te­gien der Annä­he­rung überlegen.

Ich glau­be, dass uns vor allem die­ser anhal­ten­de Wil­le von ande­ren Säu­ge­tie­ren und Homi­ni­den unter­schei­det. Er gibt unse­ren Hand­lun­gen eine Nach­drück­lich­keit und Mäch­tig­keit, die ein­ma­lig auf dem Pla­ne­ten ist.

Sicher­lich gibt es Natur­völ­ker, die nicht so unru­hig den­ken, füh­len und han­deln (müs­sen) wie die Men­schen der heu­ti­gen Indus­trie­na­tio­nen. Viel­leicht gilt der berühm­te Satz von Blai­se Pas­cal, dass das gan­ze Elend der Mensch­heit daher rüh­re, dass kein Mensch eine hal­be Stun­de ruhig auf sei­nem Stuhl in einem Zim­mer sit­zen kön­ne, für sie noch nicht. Ver­mut­lich dürf­ten sich bei nähe­rer Betrach­tung aber auch bei ihnen Bewei­se für ein unru­hi­ges Ego fin­den lassen.

Unser Ver­hal­ten wird also nicht nur von ange­bo­re­nen Trie­ben und Instink­ten sowie von sozi­al Gelern­tem bestimmt, son­dern hat dar­über hin­aus eine (anhal­ten­de) Wil­lens­di­men­si­on. Wir kon­kur­rie­ren und koope­rie­ren wie alle sozi­al leben­den Säu­ge­tie­re, aber wir wol­len dabei auch gut oder bes­ser sein als ande­re und kön­nen die­se Absicht über lan­ge Zeit­räu­me ver­fol­gen. An einer Kar­rie­re kann man Jahr­zehn­te bas­teln. Geschwis­ter­kon­kur­renz kann sich noch im hohen Alter in jah­re­lan­gen Erb­schafts­strei­tig­kei­ten äußern usw. Auch die Mit­glie­der einer Schim­pan­sen-Grup­pe haben ihre sozia­len Rol­len, aber sie iden­ti­fi­zie­ren sich nicht damit, wol­len nicht gut in ihr sein oder sie gera­de im Gegen­teil nicht mehr ein­neh­men, son­dern durch eine ande­re erset­zen usw.

Dabei kön­nen wir unse­ren Wil­len der nicht-mensch­li­chen Umwelt rela­tiv leicht auf­zwin­gen, weil sie ihm auf lan­ge Stre­cken nichts Gleich­wer­ti­ges ent­ge­gen­set­zen kann (die Nutz­tie­re wer­den sich nie für ihr Lei­den bei uns rächen kön­nen). Im Umgang mit ande­ren Men­schen sto­ßen wir auf Mit­spie­ler, die ähn­lich gear­tet sind, und schei­tern viel öfter. Noch inter­es­san­ter ist die Fra­ge, was geschieht, wenn wir auch Bedürf­nis­se wie die nach Lie­be, Gebor­gen­heit, Glück, Freu­de und ähn­li­chem mit Wil­lens­en­er­gie auf­la­den, was unver­meid­lich geschieht. Es scheint Zie­le zu geben, die gera­de durch das Wol­len immer weni­ger erreicht wer­den können.

Eine Funk­ti­ons­wei­se unse­res Egos ver­dient noch eine aus­führ­li­che­re Schil­de­rung, ich möch­te sie Refle­xi­vi­tät nen­nen. Das Ego kann Hand­lun­gen gedank­lich vor­weg neh­men, durch­spie­len und dann ent­schei­den. Im nor­ma­len „Geschäfts­ab­lauf“ unse­res All­tags wer­den stän­dig Ver­hal­tens­wei­sen im Bewusst­sein durch­ge­spielt und dann eine davon aus­ge­führt, die als Fol­ge wie­der neue Über­le­gun­gen in Gang setzt usw. Über­le­gen erfor­dert eine bestimm­te Distan­zie­rung von der unmit­tel­ba­ren Situa­ti­on, genau­er, die Tren­nung von Sub­jekt (Ich, der ich den­ke) und Objekt (das wor­über nach­ge­dacht wird). In die­ser Tren­nung erlebt das Den­ken sich als frei und sou­ve­rän, es selbst ist nicht Objekt son­dern Sub­jekt sei­ner Über­le­gun­gen, hat Macht, ver­schie­de­ne Vari­an­ten durch­zu­spie­len (selbst in Situa­tio­nen, in denen der Kör­per ohn­mäch­tig ist). Es kann immer wei­te­re Refle­xi­ons­ebe­nen eröff­nen, also z. B. eine Uni­ver­sal­ge­schich­te ersin­nen, sich von ihr distan­zie­ren, sie kri­ti­sie­ren, die­se Kri­tik wie­der kri­ti­sie­ren usw. Die­se Fähig­keit erleich­tert uns die Kor­rek­tur von Feh­lern und lässt uns immer neue Ver­su­che hin zu einer erfolg­rei­chen Lösung des Pro­blems unter­neh­men. Ich ver­mu­te, dass in der Tren­nung von Sub­jekt und Objekt die Mil­lio­nen Jah­re alte Erfah­rung der machen­den Hand und der benutz­ten Mate­rie zu einer Grund­struk­tur unse­res Den­kens geron­nen ist, dass sie eine Art Spie­ge­lung des Machens und der Macht der Hand dar­stellt.

Unser wil­lens­be­ton­tes Ver­hal­ten hat uns weit gebracht, zum erfolg­reichs­ten und wohl auch zahl­reichs­ten Säu­ge­tier wer­den las­sen. Wir haben uns die Erde unter­tan gemacht. Selbst in einem Bereich in dem wir über Jahr­tau­sen­de, wie alle Tie­re, ziem­lich macht­los waren, näm­lich dem von Krank­heit und Gesund­heit, haben wir inzwi­schen mäch­ti­ge Mög­lich­kei­ten und so kön­nen zumin­dest die Rei­che­ren unter uns ihrem Leben die eine oder ande­re Span­ne hin­zu­set­zen (z. B. durch eine Ope­ra­ti­on), was die Bibel noch für unmög­lich hielt. Aber – um auch mit Krish­na­mur­ti zu schlie­ßen: „Erfolg ist Bru­ta­li­tät“.

3. Was kann das Ego nicht?

Kurz gesagt: frei­wil­lig abschal­ten. Es neigt zu over-doing und dazu, sich auf­zu­blä­hen. Die For­men, in denen dies geschieht, sind sehr viel­fäl­tig, der zugrun­de­lie­gen­de Mecha­nis­mus ist immer der­sel­be. Das Ego hat sich vom Die­ner unse­res Kör­pers zu sei­nem Herrn auf­ge­schwun­gen und ver­lässt die­sen Platz sehr ungern. Das Ver­hält­nis zwi­schen Ego und Rest-Orga­nis­mus ist kei­nes der lie­be­vol­len Koope­ra­ti­on son­dern eine Art Kampf: Wie bei zwei mit­tel­al­ter­li­chen Rit­ter­hee­ren auf dem Schlacht­feld drängt die eine Sei­te mal die ande­re zurück, dann wie­der umge­kehrt usw. Kei­ne Par­tei kann die ande­re ganz besie­gen, aber Frie­den schlie­ßen sie auch nicht.

Wir kön­nen das am deut­lichs­ten im Pro­zess des Ein­schla­fens erle­ben. Im bes­ten Fall wird unser Wach­be­wusst­sein schnell abge­schal­tet und wir fal­len in Tief­schlaf. Häu­fig erle­ben wir aber auch das obi­ge Schlacht­ge­tüm­mel: Der Kör­per will schla­fen, wird aber vom Wach­be­wusst­sein, das nicht auf­hö­ren will, aktiv zu sein, dar­an gehin­dert usw. Auch wenn ein Teil des Egos schla­fen will, hilft uns das nicht wei­ter, oft im Gegen­teil. Der Schal­ter zum Ein­schla­fen kann nur von einer Instanz jen­seits unse­res Wil­lens umge­legt wer­den. Es erscheint manch­mal so, als ob es sinn­voll wäre, dass das Den­ken vorm Ein­schla­fen die Tages­er­eig­nis­se noch ver­ar­bei­tet, bevor der Schlaf an der Rei­he wäre. Manch­mal auch, als ob das Bewusst­sein nur Opfer einer Über­rei­zung durch die Tages­er­eig­nis­se wäre und, ähn­lich wie z.B. eine durch kör­per­li­che Anstren­gung über­reiz­te Seh­ne, ein­fach sei­ne Zeit braucht, um sich wie­der  zu beru­hi­gen. Aber hin­ter dem Den­ken und sei­nen Gefühls­an­tei­len steckt immer auch ein Den­ken- und Füh­len-Wol­len. Und Schlaf und Träu­men kön­nen die Tages­er­eig­nis­se viel bes­ser bewer­ten und ver­ar­bei­ten und tun dies ja in aller Regel end­lich auch. Bei die­ser Art des Ein­schla­fens wird deut­lich, dass das Ego, das dem Kör­per tags­über gute Diens­te geleis­tet hat, ihn nun stresst, ihm Kraft und Rege­ne­ra­ti­ons­fä­hig­keit raubt.

Im Wach­zu­stand ver­hin­dert oder erschwert das Ego alle die­je­ni­gen Erleb­nis­ebe­nen, zu denen Kon­trol­le und die Tren­nung von Sub­jekt und Objekt nicht pas­sen:  Gebor­gen­heit, Lie­be, Hin­ga­be, Selbst­ver­ges­sen­heit, „ganz­heit­li­ches Erle­ben“, bis hin zur unio mys­ti­ca der Mys­ti­ker. Es ver­ab­so­lu­tiert sich sosehr, dass unse­re nor­ma­le Wahr­neh­mung die ist, dass „ich“ einen Kör­per habe, nicht, dass „ich Kör­per“ auch über einen Geist ver­fü­ge, den ich benut­zen kann. Und selbst wenn wir Momen­te der erleb­ten Selbst­auf­ga­be, z. B. in der Lie­be haben, geschieht das bewuss­te Erle­ben und Reflek­tie­ren die­ser Erfah­run­gen schon wie­der im Ego-Bewusst­sein. Wir ent­kom­men unse­rem Ego genau­so wenig wie Goe­thes Tür­mer sei­nem Turm (im Faust), müs­sen schon dank­bar sein, wenn es soweit geschwächt ist, dass wir trau­ernd spü­ren, was uns durch das Ego alles an unmit­tel­ba­rem Erle­ben, das wir bei klei­nen Kin­dern benei­den, entgeht.

Vie­le Mys­ti­ker behaup­ten sinn­ge­mäß, dass unser nor­ma­les Leben nichts ande­res ist als eine Abfol­ge von Denk- und Gefühlstrips, die wir in Erman­ge­lung Bes­serns für die Wirk­lich­keit hal­ten. Das Ego ist so stark und unru­hig, dass es sich stän­dig auf irgend­ei­ner Wel­le selbst insze­niert. Nur sehr sel­ten, in gro­ßer Ruhe, manch­mal aber auch schock­ar­tig in Extrem­si­tua­tio­nen, wer­den eini­ge der Vor­hän­ge, die unser Ego vor die Wirk­lich­keit gescho­ben hat, bei­sei­te gerückt und wir ahnen, dass alles ganz anders sein könn­te, als wir es nor­ma­ler­wei­se emp­fin­den und erleben.

Die Ver­bun­den­heit des Egos mit Macht und Machen wird dar­an deut­lich, dass es sehr viel Ver­schie­de­nes den­ken kann, nur nicht, dass es nicht sou­ve­rän, nicht fähig zum akti­ven Han­deln ist. Wir kön­nen nicht erle­ben, dass wir gelebt, dass wir geat­met, ge-stoff­wech­selt  wer­den, nur dass wir leben, atmen und einen Stoff­wech­sel haben, obwohl der ers­te Halb­satz eher der Wahr­heit ent­spricht. Das Ego kann sich nicht pas­siv erle­ben, es wehrt sich mit allem, was ihm an neu­en Gedan­ken­gän­gen und Aus­flüch­ten zur Ver­fü­gung steht, gegen Erleb­nis­se der Passivität.

Das Ego will aktiv sein, ist fast stän­dig im Wach­zu­stand aktiv, kann ein Pro­blem nach dem ande­ren lösen. Aber es kann nicht ohne Pro­ble­me, ohne Lösungs­auf­ga­ben sein. Das ist der Ursprung für die bit­te­re All­tags­weis­heit, dass sich, wer kei­ne Pro­ble­me hat, wel­che macht.  Das­sel­be Spiel läuft mit Wün­schen ab. Wenn genug Res­sour­cen da sind, kann sich das Ego einen Wunsch (der oft aus dem Kör­per kommt, aber im Ego erlebt und dadurch ver­stärkt wird) nach dem ande­ren erfül­len, aber es kann nicht wunsch­los (glück­lich) sein, genau­so wenig wie ein­fach absichts­los da und zufrie­den.

Es gibt in der Kind­heit eine Pha­se, in der selbst­ver­ges­se­nes und kon­trol­lier­tes Erle­ben und Han­deln sich noch abwech­seln. Und ver­mut­lich hat es auch in der Homi­ni­den-Ent­wick­lung eine Zeit gege­ben, in der macht­vol­les Wol­len und absichts­lo­ses Da-Sein noch mehr har­mo­nier­ten als beim heu­ti­gen (erwach­se­nen) Homo sapi­ens. Nur haben sich im Ver­lauf der Evo­lu­ti­on eben die wil­lens­stär­ke­ren Muta­tio­nen durch­ge­setzt, weil sie die bes­se­re Nah­rungs­ver­sor­gung erreich­ten, sich stär­ker fort­pflanz­ten usw.

Krish­na­mur­ti weist noch auf eine wei­te­re Ein­schrän­kung durch unser Ego  hin: Jede Bewer­tung (einer Hand­lung, eines Men­schen, eines Objekts), die unser Gehirn vor­nimmt, geschieht auf dem Hin­ter­grund bis­he­ri­ger Erfah­run­gen, je kon­trol­lier­ter unser Den­ken ist, des­to stär­ker. Auf die­se Wei­se beherrscht immer die Ver­gan­gen­heit die Gegen­wart, wirk­lich etwas Neu­es, „Schöp­fung“ kann nur gesche­hen, wenn ohne Ego, also „unkon­trol­liert“ gehan­delt wird. (Die Tat­sa­che, dass spon­ta­ne Hand­lun­gen in aller Regel sinn­voll sind, oft sinn­vol­ler als die geplan­ten, zeigt, dass das Gehirn auch jen­seits des Egos über ver­nünf­ti­ge Rege­lungs­me­cha­nis­men ver­fügt. Gibt es nicht viel mehr spon­ta­ne Herz­lich­keit als spon­ta­ne Bosheit?)

Ähn­lich wie erlern­te Bewe­gun­gen durch stän­di­ge Wie­der­ho­lung rou­ti­ni­siert wer­den, prä­gen sich auch tau­send­fach wie­der­hol­te Gedan­ken- und Gefühls­re­gun­gen im Gehirn immer tie­fer ein. Sie wer­den viel leich­ter und schnel­ler wie­der­erlebt als neue, erschei­nen immer selbst­ver­ständ­li­cher und ver­nünf­ti­ger, wäh­rend es ande­re Regun­gen immer schwe­rer haben, vom Bewusst­sein akzep­tiert zu wer­den. So ent­steht unse­re Per­sön­lich­keit oder, wie es Wil­helm Reich aus­drück­te, unser „Cha­rak­t­er­pan­zer“. Eine Vari­an­te davon ist der Altersstarrsinn.

Starr­sin­nig kön­nen aber nicht nur Indi­vi­du­en son­dern auch Grup­pen und gan­ze Gesell­schaf­ten sein. Ihr nor­ma­ti­ves Regel­werk ist nichts ande­res als kol­lek­tiv rou­ti­ni­sier­te Bewer­tun­gen, die (fast) allen Betei­lig­ten durch die stän­di­ge Wie­der­ho­lung selbst­ver­ständ­lich und qua­si natür­lich erschei­nen. Skla­ve­rei war den Men­schen des Alter­tums das nor­mals­te von der Welt, nicht nur den Her­ren, son­dern auch den (meis­ten) Skla­ven. Mit ent­spre­chen­dem Abstand betrach­tet, haben alle Sozi­al­struk­tu­ren und Sys­te­me sozia­ler Ungleich­heit, die die Mensch­heit je her­vor­ge­bracht hat, etwas Absur­des und Ver­rück­tes. Den jewei­li­gen Mit­spie­lern erschei­nen sie in aller Regel ver­nünf­tig und alternativlos.

Die wei­ter oben erwähn­te Aus­rot­tung vie­ler Groß­wild­ar­ten auf allen Kon­ti­nen­ten durch Homo sapi­ens fin­det hier mög­li­cher­weis eine ein­fa­che Erklä­rung: Es war üblich, die­se zu jagen, und die­ses Pro­gramm konn­te (ver­mut­lich trotz eini­ger war­nen­der Stim­men)  nicht gestoppt wer­den, bis auch das letz­te Rie­sen­faul­tier usw. tot war. Noch in jüngs­ter Zeit galt die Tötung eines Löwen durch einen jun­gen Mas­sai als Mut­pro­be, die er zu bestehen hat­te, um ein Mann zu wer­den, auch als kaum noch Löwen für die­ses Ritu­al zu Ver­fü­gung stan­den. Denk­bar ist natür­lich auch, dass die frü­hen Groß­wild­jä­ger die Fol­gen ihrer Hand­lun­gen ein­fach nicht über­schau­ten. Es war ihnen nicht klar, was sie anrich­te­ten. (Sie wären damit nicht wesent­lich düm­mer als Homo sapi­ens heu­te, der auch kei­ne Ahnung davon hat, wel­che ein­zig­ar­ti­gen Fähig­kei­ten er mit den –zig Pflan­zen- und Tier­ar­ten, die jedes Jahr durch sein Han­deln aus­ge­rot­tet wer­den, end­gül­tig vernichtet.)

Rou­ti­ni­sie­rung von Hand­lun­gen und Bewer­tun­gen gibt es natür­lich auch schon im Tier­reich und auch Homo sapi­ens ver­fügt sicher auch jen­seits des Egos dar­über. Unser Wil­lenspo­ten­ti­al gibt ihnen aber eine beson­de­re Här­te, die viel­leicht am schöns­ten mit der For­mu­lie­rung aus dem Tao-te-king beschrie­ben ist, dass das Leben weich und schwach in die Welt kommt und sie hart und stark wie­der ver­lässt.

4. Der Preis des Egos

Der Stress, den das Wol­len dem Kör­per berei­tet, ist kaum zu  über­schät­zen. Bei sen­si­bler Wahr­neh­mung wird deut­lich, dass jeder Gedan­ke, jede bewusst erleb­te Gefühls­re­gung mit kör­per­li­cher Anspan­nung ver­bun­den ist. Wil­lens­be­ton­te geis­ti­ge Anstren­gung laugt den Kör­per dabei noch mehr aus kör­per­li­che, weil die­ser sich im eige­nen Revier eher weh­ren kann. Die in Indus­trie­na­tio­nen mas­sen­haft ver­brei­te­ten Rücken­pro­ble­me sind weni­ger auf den auf­rech­ten Gang als auf har­tes, wil­lens­star­kes Funk­tio­nie­ren zurück­zu­füh­ren. Wir spre­chen von „eiser­nem“ Wil­len und „hart­nä­cki­gem“ Wol­len und bei­des ist kör­per­lich spür- und greif­bar, als z. T. extre­me Ver­span­nung von Hals, Schul­tern und Rücken.

Schon als einen ein­sam leben­den Robin­son Cru­soe betrach­tet zahlt Homo sapi­ens also einen hohen Preis für sei­ne geis­ti­gen Fähig­kei­ten: see­lisch durch geis­ti­ge und emo­tio­na­le Unru­he und gro­ße Schwie­rig­kei­ten, glück­lich und zufrie­den zu sein, kör­per­lich durch Anspan­nun­gen, die sich nicht sel­ten chronifizieren.

Kommt Robin­son in Gesell­schaft, kann dies zunächst ego-lin­dernd wir­ken. Bei Affen sind sozia­le Kör­per-Kon­tak­te der Aus­gleich für men­ta­len Stress. Er wird aber in eine hier­ar­chi­sche Gesell­schaft kom­men und damit auch unter den Egos sei­ner jewei­li­gen Obrig­keit (die auch ziem­lich anonym sein kann, wie im Finanz­ka­pi­ta­lis­mus unse­rer Tage) zu lei­den haben.

Es gibt erstaun­lich vie­le Par­al­le­len zwi­schen der Rol­le des Egos im Indi­vi­du­um und dem der Ober­schicht in einer Gesell­schaft. Bei­de hat­ten ursprüng­lich die Funk­ti­on dem Gesamt­sys­tem zu die­nen. In gewis­ser Wei­se tun sie dies immer auch noch, aber sie haben sich von Die­nern zu Herr­schern aufgeschwungen.

Ver­mut­lich stan­den am Anfang der Hier­ar­chien sozia­ler Ungleich­heit eine Art Ehren­pri­mat oder auf Zeit ange­leg­te Füh­rungs­auf­ga­ben. Eini­ge der Inhaber(innen) die­ser Posi­tio­nen fan­den Gefal­len an ihrer Macht, mehr­ten sie, wei­ger­ten sich, sie zurück­zu­ge­ben und mach­ten sie schließ­lich erb­lich. (Das glei­che Vor­ge­hen ist aktu­ell bei etli­chen, ursprüng­lich auf Zeit bestimm­ten Füh­rern an ver­schie­de­nen Ecken der Welt zu beob­ach­ten.) Eini­ge waren mit die­sem  Vor­ge­hen erfolg­reich und so ent­stan­den über Jahr­tau­sen­de die teils mons­trö­sen For­men per­sön­li­cher Herr­schaft. Wie bei unse­rem Ego auch hier der Über­gang von einer die­nen­den zu einer  beherr­schen­den, aus­beu­ten­den Rolle.

Sowohl dem indi­vi­du­el­len Ego als auch der gesell­schaft­li­chen Eli­te gelingt es, sich mit vie­ler­lei geis­ti­gen Manö­vern und Blend­werk als legi­tim, natur­ge­ge­ben und alter­na­tiv­los zu set­zen. Bei­spiel Gesell­schaft: Die angeb­li­che Abstam­mung anti­ker Köni­ge von Göt­tern und die irre­füh­ren­den Bezeich­nun­gen „Arbeit­ge­ber“ und „Arbeit­neh­mer“ haben bei­de die­sel­be Funk­ti­on der Ver­schleie­rung, Ver­wir­rung und Legi­ti­mie­rung von sozia­ler Herr­schaft und Aus­beu­tung. Bei­spiel Ein­zel­we­sen: Das Ego erfin­det lau­fend Grün­de, dass es wei­ter aktiv den­ken und füh­len muss. Selbst wenn es die Ein­sicht hat, dass es bes­ser still wäre, gau­kelt es uns vor, dass es dafür arbei­ten, also aktiv sein müsste.

Ober­schicht und Ego erfül­len bei­de auch wich­ti­ge und sinn­vol­le Auf­ga­ben für das Gesamt­sys­tem. Da sie sich aber nach Erfül­lung die­ser Mis­si­on nicht zurück­neh­men, son­dern von ihrer Macht nicht genug bekom­men kön­nen, sind sie bei­de auch im bes­ten Fall läs­ti­ge Beglei­ter, im mitt­le­ren Fall Stres­so­ren und im ungüns­tigs­ten Fall Zer­stö­rer des Gesamt­sys­tems. (Bei­spie­le: Ein Ego kann einen Men­schen in eine töd­li­che Gefahr trei­ben, ein grö­ßen­wahn­sin­ni­ger Füh­rer, wie Hit­ler, einen hal­ben Kon­ti­nent ins Elend stürzen).

Für bei­de gilt auch, dass ihr eigent­li­ches Inter­es­se nicht das Wohl­be­fin­den des Gesamt­sys­tems, sei­ne Aus­wei­tung oder sein Wei­ter­le­ben ist (obwohl sie viel zu die­sen Zwe­cken bei­tra­gen kön­nen), son­dern allein ihre Macht und deren Wei­ter­le­ben. Kon­kret indi­vi­du­ell: Das eigent­li­che Ziel des Egos ist nicht das Wohl­be­fin­den des Kör­pers – sonst gäbe es kein näch­te­lan­ges Grübeln‑, nicht das Über­le­ben des Indi­vi­du­ums – sonst gäbe es kei­ne Sui­zi­de und Selbstmordattentate‑, und auch nicht das der Gat­tung Mensch – sonst gäbe es kei­ne Ver­hü­tung und Ent­halt­sam­keit. Allen die­sen Zwe­cken kann das Ego zwar die­nen und tut es in der Regel auch, aber sein urei­gens­tes Inter­es­se ist (zumin­dest ab einem bestimm­ten Erre­gungs­zu­stand) das der fort­ge­setz­ten eige­nen Macht. Es kann zu einer Art geis­ti­gem Krebs wer­den, der zwar Teil des Kör­pers ist, aber nur am eige­nen Wuchern inter­es­siert ist.

Das von Hara­ri (s. o.) soge­nann­te Gil­ga­mesch-Pro­jekt, der Ver­such den Tod zu besie­gen, ist ein typi­scher Ego-Wunsch. Sei­ne Ver­wirk­li­chung wäre übri­gens ein Alp­traum für die Nach­ge­bo­re­nen und im Grun­de auch für das unsterb­li­che Indi­vi­du­um selbst. Jedes alte und schwa­che Tier will in Ruhe ster­ben. Auf­mun­te­run­gen zum Wei­ter­le­ben kom­men bei sozi­al leben­den Säu­ge­tie­ren eher von den Art­ge­nos­sen. Die meis­ten (nicht alle) alten und schwer­kran­ken Men­schen wol­len das auch. Nur ein Ego in der Blü­te sei­ner Macht plant sei­ne eige­ne Unsterblichkeit.

Unser Robin­son wird aber auch auf glei­cher Hier­ar­chie-Ebe­ne sozia­len Pro­zes­sen aus­ge­setzt sein, die ego-stär­kend wir­ken. Stark ver­ein­facht gesagt, kön­nen sich indi­vi­du­el­le Wil­lenspo­ten­tia­le zu einem gemein­sa­men Wunsch zusam­men­schlie­ßen oder sie kön­nen sich in gegen­sei­ti­ger Feind­se­lig­keit auf­schau­keln. Im ers­ten Fall beschließt z. B. eine Dorf­ge­mein­schaft (ohne Anwei­sung der Obrig­keit), gemein­sam einen Tem­pel zu bau­en. Im zwei­ten strei­ten sich z. B. Nach­barn jah­re­lang mit zuneh­men­der Erbit­te­rung um irgend­et­was. Die dra­ma­tischs­ten Aus­wir­kun­gen haben Wil­lens­bün­de­lun­gen, wenn sich eine Grup­pe zusam­men­schließt, um feind­se­lig gegen ande­re Indi­vi­du­en oder Grup­pen vor­zu­ge­hen. So kön­nen Pogro­me und Krie­ge ent­ste­hen, die für fast alle Betei­lig­ten ent­we­der mit Tod oder Trau­ma­ti­sie­rung enden. Hier lässt sich ein­wen­den, dass es auch im Tier­reich schon Krie­ge gibt. Auch die män­ner­do­mi­nier­ten Schim­pan­sen kön­nen im Gegen­satz zu den „matri­ar­cha­li­schen“ Bono­bos Krie­ge gegen Nach­bar­grup­pen füh­ren und sind sogar zum „Völ­ker­mord“ fähig. Auch dafür ist wohl schon stra­te­gi­sches Über­le­gen nötig. Aber die­se „Krie­ge“ haben aus mensch­li­cher Sicht noch etwas Spon­ta­nes, „gesche­hen ein­fach so“. Nur Homo sapi­ens hat die Wil­lens­kraft, über Gene­ra­tio­nen wech­sel­sei­tig Blut­ra­che zu üben, jahr­hun­der­te­lang Feind­schaft zu schü­ren, wie z. B. gegen die Juden im mit­tel­al­ter­li­chen Euro­pa, oder jahr­zehn­te­lang gegen ein­an­der auf­zu­rüs­ten wie die „Erb­fein­de“ Deutsch­land und Frankreich.

Zum  Glück für die Mensch­heit gibt es indi­vi­du­ell und kol­lek­tiv nicht nur ego-stär­ken­de son­dern auch ego-schwä­chen­de Mecha­nis­men, denen es in guten Zei­ten gelingt, die Aus­beu­tung durch die „Obrig­keit“ in Gren­zen zu hal­ten. Beim Ein­schla­fen wird das Ego schließ­lich doch abge­schal­tet und der Kör­per kann sich erho­len und auch im Wach­zu­stand set­zen eige­ne kör­per­li­che und emo­tio­na­le Wider­stän­de sowie die der sozia­len Umge­bung in der Regel der aus­ufern­den Akti­vi­tät des Egos erfolg­reich Gren­zen. In Gesell­schaf­ten muss nor­ma­ler­wei­se die Ober­schicht so viel Rück­sicht auf die Beherrsch­ten neh­men, dass die­sen auch etwas Lebens­freu­de bleibt, sie nicht revol­tie­ren oder es nicht zum Kol­laps der Gesell­schaft kommt (sonst wäre die Geschich­te noch viel bru­ta­ler ver­lau­fen, als sie es ist).

Dau­er­haft sta­bil ist im oben zitier­ten mit­tel­al­ter­li­chen Schlacht­ge­tüm­mel aber kei­ne Stel­lung. Das Ego ist süch­tig nach sich selbst und sei­ner Macht oder kann es zumin­dest bei ent­spre­chen­der Sti­mu­lie­rung leicht werden.

Sei­ne Selbst­sucht äußert sich in sei­nem Wunsch, unter­hal­ten und sti­mu­liert zu wer­den. Der welt­wei­ten Ver­brei­tung und Nut­zung von Unter­hal­tungs­elek­tro­nik scheint kei­ne Gren­ze gesetzt zu sein. Sie hat unser Pri­vat- und Fami­li­en­le­ben mehr ver­än­dert als alle ande­ren Erfin­dun­gen der letz­ten 2.000 Jah­re. Auch Tie­re kön­nen Schwie­rig­kei­ten damit bekom­men, eines ihrer Orga­ne zu wenig zu benut­zen. Wenn sie nicht viel nagen, wach­sen z. B. Mäu­sen die Schnei­de­zäh­ne so stark, dass es ihnen den Kie­fer auf­reißt und sie ver­hun­gern.  Aber sie schei­nen ein Gleich­ge­wicht gefun­den zu haben, müs­sen nicht immer noch mehr nagen, wie es bei mensch­li­chen Kom­mu­ni­ka­ti­on und Unter­hal­tung der Fall zu sein  scheint. Eben das ist ein Zei­chen für Sucht, sie kann nicht gestillt wer­den, son­dern wird mit jeder Befrie­di­gung stär­ker. In der Regel sti­mu­liert andau­ern­de Unter­hal­tung das Ego noch mehr, macht sein Abschal­ten schwie­ri­ger, wäh­rend wei­che­re Regun­gen oft dar­un­ter verwahrlosen.

Sebas­ti­an Haff­ner schreibt irgend­wo, dass Macht die stärks­te Dro­ge sei. Das gilt ver­mut­lich nur für Men­schen, nicht für Tie­re. Die groß­ar­ti­gen bis grö­ßen­wahn­sin­ni­gen Pro­jek­te frü­he­rer abso­lu­ter Herr­scher rüh­ren nicht daher, dass die­se beson­ders schlech­te Cha­rak­te­re waren, son­dern dass sie den Ver­su­chun­gen ihrer Posi­ti­on erle­gen sind, wie ihnen (fast) jeder erlie­gen wür­de. Soweit sie übri­gens kein Ver­ant­wor­tungs­ge­fühl hat­ten, hielt sich ihr eige­nes Lei­den unter ihrem Ego in Gren­zen. Für Ihre Unter­ta­nen war es umso schlim­mer. (Natür­lich kom­men Macht­kämp­fe auch im Tier­reich vor. Brunf­t­i­ge Hir­sche kämp­fen bis zur Erschöp­fung mit Art­ge­nos­sen, männ­li­che Löwen ris­kie­ren ihr Leben um Rudel­füh­rer zu wer­den. Aber sie tun dies instinkt- und hor­mon­ge­steu­ert, nicht mit lang anhal­ten­dem Willen.)

Die Lust an der Macht ist in der Lage, Homo sapi­ens alle Instink­te und Intui­tio­nen des Kör­pers und alle sozia­len Prä­gun­gen, die ihr ent­ge­gen­ste­hen, ver­ges­sen zu las­sen. Das geht nicht von jetzt auf nach­her, aber doch rela­tiv schnell. Jugend­li­che Mas­sen­mör­der im Kon­go erin­nern sich alle noch an ihren ers­ten Mord. Den meis­ten ging es danach tage­lang schlecht, vie­le muss­ten sich über­ge­ben. „Beim zwei­ten Mal ging es bes­ser. Beim drit­ten Mal ver­spür­ten sie ein Hoch­ge­fühl.“ („Der Mör­der in uns“, Prof. Tho­mas Elbert in der Stutt­gar­ter Zei­tung vom 30.1.15) Es gibt ver­mut­lich kei­ne noch so grau­sa­me Untat an Art­ge­nos­sen, zu dem die Macht­gier des Egos das an sich lie­bes­fä­higs­te und lie­bes­be­dürf­tigs­te Geschöpf des Pla­ne­ten nicht trei­ben könnte.

Die Macht­gier des Egos wen­det sich zwar häu­fig nach außen, kann sich aber auch nur auf den eige­nen Kör­per bezie­hen. Bei­spie­le wären extre­me Aske­se, exzes­si­ver wil­lens­be­ton­ter Sport oder auch Selbstmordattentate.

„Tri­umph des Wil­lens“ hieß ein berühmt gewor­de­ner Film von Hit­lers Lieb­lings-Regis­seu­rin Leni Rie­fen­stahl. Exzes­se des Wil­lens kom­men ver­mut­lich in vie­len indi­vi­du­el­len Leben in gewis­ser Regel­mä­ßig­keit vor, teil­wei­se sind sie von außen erzwun­gen, wie z. B. durch Prü­fungs- oder Arbeits­druck, oft aber auch selbst pro­du­ziert. Von den kol­lek­ti­ven Wil­lens­exzes­sen war der Faschis­mus, ins­be­son­de­re der Natio­nal­so­zia­lis­mus für Euro­pa das bis­her ein­drück­lichs­te Bei­spiel. Man kann sich dar­über strei­ten, ob das Ego selbst schon „böse“ ist, der Tri­umph des Wil­lens ist in jedem Fall mit sehr viel Bösem verbunden.