Vor 5 Jahren erreichte die Corona-Pandemie einen ersten Höhepunkt.
Während der folgenden 2–3 Jahre haben die deutschen Regierungen – wie alle anderen Staaten der Erde auch – mehr oder weniger erfolgreich, entschlossen oder übertrieben reagiert in einer Abfolge von Entscheidungen und Maßnahmen.
Im italienischen Bergamo klagen 670 Angehörige von Opfern der Pandemie bis heute vor Gericht, um eine Antwort auf die Frage zu erhalten, „warum so viele Menschen sterben mussten“[1].
In Deutschland wird gefordert, dass alle Entscheidungen und Maßnahmen der Politik einer kritischen Analyse unterzogen werden. Offenkundig haben z. B. Kinder und Jugendliche, aber auch alte Menschen in den Heimen besonders und wahrscheinlich unverhältnismäßig unter den Kontakteinschränkungen zu leiden gehabt.
Angesichts des tiefen Einschnitts in das Leben der Menschen und der Gesellschaft, den die Corona-Pandemie bedeutet hat, erscheint diese Forderung mehr als berechtigt. Eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe sollte ein kritisches Gesamtbild zeichnen. Dies könnte etwa eine Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages leisten. Die Dringlichkeit ergibt sich auch daraus, dass wir alles tun sollten, um gesellschaftlich bei einer möglichen neuen Pandemie besser vorbereitet zu sein.
Unstrittig ist bei all dem, dass die Corona-Pandemie weltweit eine hohe Zahl von Todesopfern gefordert hat: Dies ist zu erkennen an der Übersterblichkeit in den Jahren 2020 und 2021 in nahezu allen Ländern. Diese erhöhte Zahl von Todesfällen kann nur durch Covid-19 erklärt werden. Sie sind nicht an die medizinischen Covid-19-Diagnosen gekoppelt, stimmen aber in der Tendenz mit den jeweils wachsenden und sinkenden Diagnosezahlen bzw. der Todesursachenstatistik überein. Zum ersten mal seit Jahrzehnten ging weltweit die Lebenserwartung zurück.

Lebenserwartung weltweit bis 2023
Nun gibt es aber nach wie vor Stimmen, die die politischen Maßnahmen jener Jahre durchweg als überzogen betrachten. Die Corona-Pandemie sei gar nicht so gefährlich gewesen wie viele Politiker glauben machen wollten.
Einige Beispiele für diese Kritik, die sich auch 5 Jahre nach der Coronapandemie artikuliert.
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RKI-Protokolle
Die zunächst teilweise geschwärzte und dann weitgehend vollständige Veröffentlichung der Protokolle der internen Besprechungen des Robert-Koch-Instituts (RKI-Protokolle)[2] haben die kritischen Stimmen aufleben lassen. Allerdings wurden auch schnell die dabei genutzten eklektischen und verzerrenden Bezüge auf die Protokolle entlarvt, so z. B. am 25.3.2024 in einem Beitrag des BR.
Ein Satz aus den RKI-Protokollen wird des Öfteren zitiert. Er stammt vom 19.3.2021, also ein gutes Jahr nach dem Beginn der „Corona-Zeit“.
So meint z.B. bei Michael Hauke, der verschiedene Punkte aus den Protokollen auflistet, die zeigen sollen, „dass das Corona-Narrativ so nicht stimmt“ bei Punkt 2:
„Die Gefährlichkeit des Virus
Am 19.03.2021 heißt es im Protokoll des Krisenstabes: ‚COVID-19 sollte nicht mit Influenza verglichen werden, bei normaler Influenzawelle versterben mehr Leute.‘
Die Gefährlichkeit von Corona wurde also als geringer als bei jeder normalen (!) Grippewelle eingeschätzt. Wäre der Satz aus dem RKI-Protokoll an die Öffentlichkeit gelangt, wären Angst- und Panikmache und damit alle zerstörerischen Maßnahmen wie ein Kartenhaus zusammengebrochen.“[3]
Jedoch:
- Das Zitat ist nicht korrekt, denn der zitierte Satz geht nach einem Komma so weiter: „jedoch ist COVID-19 aus anderen Gründen bedenklich(er)“. Dieser Halbsatz darf nicht fehlen.
- Warum ist Covid-19 „bedenklich(er)“? Weil die Corona-Pandemie eben nicht wie eine kurze Grippewelle vorübergeht, sondern bereits über ein Jahr Krankheiten und Todesfälle hervorrief und klar war, dass Covid die ganze Welt noch eine unbestimmte Zeit in Atem halten würde. Kurzzeitig war tatsächlich die Zahl der Verstorbenen (inklusive der Coronatoten) im März 2021 geringer als in diversen Vorjahren, in denen es in dieser Zeit viele Grippetote gab. Die gab es nun aber nicht, eben wegen der Coronamaßnahmen, die auch die Grippetoten verhindert haben. Das Zitat aus den RKI-Protokollen bringt also ein sachlich richtiges Faktum zur Sprache, kann aber nicht zur Relativierung der Gefährlichkeit der Corona-Pandemie dienen.
- Es wird der Eindruck erweckt, dass es sich um einen „Rückblick“ auf das ganze Coronajahr gehandelt habe. In Wahrheit sind es aber die tagesaktuellen Krisensitzungen, die hier veröffentlicht worden sind. Wer sich die Protokolle anschaut, erkennt sofort: Es handelt sich bei dem Zitat mitnichten um eine tiefschürfende Erkenntnis, die alles in einem anderen Licht hätte erscheinen lassen müssen. Der gehypte Satz gibt nur etwas wieder, was jeder Grafik zur Übersterblichkeit zu entnehmen ist: dass es nämlich von Mitte Februar bis Mitte April 2021 eine Untersterblichkeit gegeben hat, weil in dieser Zeit meist die Grippe für eine höhere Sterblichkeit „sorgt“. Dasselbe gilt für die Zeit von Mitte Januar bis Mitte März 2022 und die Zeit von Ende Januar bis Mitte März 2023. Das kann nur überraschen, wenn man nicht weiß, wie beträchtlich die Zahl der Todesfälle durch die Grippe in diesen Monaten normalerweise ist. In den anderen 10 Monaten der Jahre aber gab es eine Übersterblichkeit durch Corona und darum ist Corona in der Tat weit „bedenklicher“.
Die RKI-Protokolle scheinen auf ihren Tausenden von Seiten nichts herzugeben, was zu einer wesentlich neuen Einschätzung der Corona-Zeit beitragen könnte.
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Die Bilder aus Bergamo
Dass Bilder emotionalisieren und leicht in die Irre führen, ist inzwischen bekannt. Auch Bilder aus Bergamo haben emotionalisiert. Ein Beitrag des BR vom 13.9.2021 trug den Titel: „Der Militärkonvoi aus Bergamo: Wie eine Foto-Legende entsteht“[4]. Darin wird ausgeführt, dass durch das Bild von den Militärlastern ein völlig falscher Eindruck entstanden sei. In den Lastern sei jeweils nur ein Sarg gewesen und die Kolonne habe nur aus 9 Fahrzeugen bestanden.
Aber man sollte sich zur Einschätzung der Todeszahlen nicht auf einen Beitrag über die Macht der Bilder verlassen.
Ein Gutachten kam 2023 zu dem Ergebnis 4148 Leben hätten gerettet werden können, wenn 2020 in der Provinz Bergamo eine „rote Zone“ eingerichtet worden wäre.[5] Aus allen Statistiken ist abzulesen, dass es eine dramatisch erhöhte Sterblichkeit gab, insbesondere im März 2020.[6] Die Pandemie traf nun einmal zuerst und völlig unvorbereitet die Provinz Bergamo (über infizierte Personen, die aus China kamen), aber auch andere Provinzen in der Lombardei wie Cremona und Lodi. Tests waren noch nicht empfohlen worden und erst am 11. März erklärte die WHO den Covid-19-Ausbruch zur globalen Pandemie. Die Zahl der Toten bewegte sich in der Stadt Bergamo im Monat seit 2010 schwankend zwischen 180 und 250 (einschließlich Grippewellen), im März 2020 stieg sie auf 881.
Übrigens gingen die Todesfälle ab April deutlich zurück. Durch die erste Welle entstand eine hohe Resistenz in der Bevölkerung der Lombardei und zusammen mit der (auch durch den Schock bedingten) großen Zahl von Impfungen hatte Italien im Gegensatz zu fast allen anderen Ländern im Jahr 2021 bereits relativ wenig Tote durch Covid-19.[7]
Die folgende Grafik zeigt, dass andere europäische Länder besser durch die erste Welle gekommen sind, weil sie bereits auf die katastrophalen Zahlen in Italien (und bald darauf in Spanien) reagieren konnten[8]:

Eurostat
Fazit: Die Bilder aus Bergamo waren eher ein warnender Schock als Ursprung einer Hysterie oder bloßes Instrument zur Rechtfertigung harter Maßnahmen.
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Pandemie der Ungeimpften?
Im Rückblick wird die von Jens Spahn geprägte Formulierung der „Pandemie der Ungeimpften“ kritisiert und darauf verwiesen, dass auch in den Protokollen des RKI sich Kritik an dieser Formel findet: Am 5. November 2021 heißt es dort unter dem Oberthema „Wissenschaftskommunikation“: „In den Medien wird von einer Pandemie der Ungeimpften gesprochen. Aus fachlicher Sicht nicht korrekt, Gesamtbevölkerung trägt bei. Soll das in Kommunikation aufgegriffen werden?“
zdf.de schreibt dazu[9]:
„Die Antwort ist wie folgt protokolliert: ‚Dient als Appell an alle, die nicht geimpft sind, sich impfen zu lassen. Sagt Minister bei jeder Pressekonferenz, vermutlich bewusst, kann eher nicht korrigiert werden.‘“
Die Formulierung „Die Antwort ist wie folgt protokolliert“ erweckt einen falschen Eindruck. Auf die aufgeworfene Frage gibt es vielmehr 5 Meinungsäußerungen, unter denen sich als 2. findet „Dient als Appell…“ und als 3. „Sagt der Minister…“. Ein Brainstorming ist etwas anderes als eine protokollierte Antwort. Übrigens verwendeten nicht nur Gesundheitsminister Jens Spahn, sondern auch Markus Söder (am 3.11.2021) und Bodo Ramelow diese Formulierung, wie Filmsequenzen des genannten ZDF-Beitrages zeigen.
„Pandemie der Ungeimpften“ kann verschieden gedeutet werden:
Meinte Jens Spahn: „Die Ungeimpften sind die Pandemietreiber, weil sie das Virus verbreiten“? Wir wissen inzwischen, dass auch Geimpfte im Falle einer Neuinfektion (Impfdurchbruch) das Virus übertragen können. Insofern waren die Äußerungen von Spahn zu pauschal. Es bedürfte nun aber einer komplexen Analyse, wie sich die Zahl der Viren bei Geimpften und Ungeimpften unterscheidet, wobei natürlich auch zu klären wäre, ob „geimpft“ bedeutet zwei- bzw. dreifach geimpft (je nach Impfstoff), zudem wäre zu klären, wie virulent die Viren jeweils sind und ob die Dauer der möglichen Ansteckung sich unterscheidet, des Weiteren, welche Unterschiede es diesbezüglich zwischen den Covid-Varianten gibt. Dass Ungeimpfte alles in allem etwas mehr zur Verbreitung beigetragen haben, wird man sagen können, von einer Pandemie der Ungeimpften zu sprechen, ist aber zu pauschal und tendenziell stigmatisierend, im Eifer der Debatte wiederum nicht völlig unverständlich.
Jens Spahn könnte mit der „Pandemie der Ungeimpften“ aber auch die Sterbenden auf den Intensivstationen gedacht haben. Und diesbezüglich hat die Bundesregierung noch am 10.9.2024 auf eine Anfrage der AfD-Fraktion geantwortet: „Aus den Wochenberichten des RKI gehe hervor, dass in den Monaten Februar bis Oktober 2021 kumuliert in jeder der erfassten Altersgruppen mehr als 90 Prozent der mit Covid-19 auf Intensivstationen behandelten Personen ungeimpft waren.“[10]
Auch in diesem Beispiel können die RKI-Protokolle bei genauer Betrachtung keine Empörung darüber rechtfertigen, von Politikern vorsätzlich getäuscht worden zu sein.
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Impfung
Am 8. Dezember 2020 wurde die erste reguläre Impfung mit einem Covid-Impfstoff vorgenommen, d. h. außerhalb von Versuchsreihen. Innerhalb eines Jahres waren unglaubliche 55,9 % der Weltbevölkerung mindestens mit einer Dosis geimpft, 45,5% mit zwei Dosen. In diesem einen Jahr starben gleichwohl weltweit etwa 3,5 Mio. Menschen an einer Covid-Infektion. Eine Studie, die in The Lancet veröffentlicht wurde, schätzt, dass genau in dieser Zeit 14,4 Mio. Tote durch die Impfung verhindert wurden.[11] Diese Berechnung beruht allerdings auf der Zahl der diagnostizierten Corona-Todesfälle. Diese Zahl ist aber sicher zu gering. Geht man von mehr Toten aus, vergrößert sich auch die Zahl der verhinderten Todesfälle. Die Autoren der Studie rechnen daher mit 19,8 Mio. durch die Impfung verhinderten Toten. Rechnet man diese zu den tatsächlichen 69,37 Mio. Sterbefällen in 2021 hinzu (nach www.ourworldindata.org), ergibt sich als Abschätzung (das Kalenderjahr der Studie ist nicht exakt das Jahr 2021) ein verhinderter exorbitanter Anstieg der Todeszahlen.

Our World in Data, ergänzt um verhinderte Todesfälle durch Impfung
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Fazit
Wer nicht anerkennt, dass es schwieriger Abwägungsprozesse bedarf zwischen dem Risiko von Infektion, Erkrankung und ggf. Tod einerseits und den einschneidenden, Beziehungen und Entwicklungen gefährdenden Kontakteinschränkungen und der Bedeutung der Impfung andererseits, erkennt nicht die Problematik und die Dilemmata, vor die sich Verantwortliche gestellt sahen.
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[1] https://www.tagesschau.de/multimedia/video/schnell_informiert/video-1435546.html
[2] Die Protokolle können auf dieser Seite eingesehen bzw. in zwei Teilen (mit insgesamt über 4000 Seiten) heruntergeladen werden: https://www.rki.de/DE/Themen/Infektionskrankheiten/Infektionskrankheiten-A‑Z/C/COVID-19-Pandemie/Protokolle/COVID-19-Krisenstabsprotokolle.html
[3] https://www.hauke-verlag.de/die-rki-protokolle-bei-normaler-influenzawelle-versterben-mehr-leute/
[4] https://www.br.de/nachrichten/kultur/der-militaerkonvoi-aus-bergamo-wie-eine-foto-legende-entsteht,TJZE6AQ
[5] Oliver Meiler: Wurde die Lage in Bergamo fahrlässig unterschätzt?, in Süddeutsche Zeitung vom 2.3.2023 https://www.sueddeutsche.de/politik/corona-pandemie-italien-bergamo-untersuchung‑1.5761301
[6] Vgl. nur z.B. den Wikipedia-Artikel https://de.wikipedia.org/wiki/COVID-19-Pandemie_in_Italien mit diversen Quellenangaben (WHO, Instituto Nazionale di Statistica etc.)
[7] Vgl. zu Bergamo vor allem auch: https://www.nytimes.com/2020/11/29/world/europe/coronavirus-bergamo-italy.html und https://www.spiegel.de/panorama/spiegel-tv-corona-hotspot-bergamo-die-wut-nach-der-trauer-a-b8dc54bb-403c-4e69-bcbd-7d84251f91f8, P. Morfeld/T. C. Erren, Todesfälle in neun Regionen Italiens im Februar/März 2020: „Mortalitäts-Exzess-Lupe“ für SARS-CoV‑2/COVID-19-Epidemiologie in Deutschland, in: Gesundheitswesen 82, 2020, 400–406 und M. Piccininni u.a., Use of All Cause Mortality to Quantify the Consequences of Covid-19 in Nembro, Lombardy: Descriptive Study, in: BMJ 369, 2020, m1835.
[8] https://ec.europa.eu/eurostat/documents/2995521/11438261/3–19102020-BP-DE.pdf/85c1d772-a6e0-eedd-55a2-3bbf9d9df0f3
[9] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/deutschland/corona-protokoll-rki-pandemie-impfung-leak-100.html
[10] https://www.bundestag.de/presse/hib/kurzmeldungen-1017232
[11] O. J. Watson u.a., Global Impact of the First Year of COVID-19 Vaccination: a Mathematical Modelling Study, in: Lancet Infect Dis 22, 2022, 1293–1302.
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