Die seltsamsten Menschen der Welt
Zum Glück ist Joseph Henrichs Werk »The Weirdest People of the World« nun auf Deutsch erhältlich: „Die seltsamsten Menschen der Welt“. „Zum Glück“, denn erstens ist unverständlicherweise sein letztes überragendes Werk »The Secret of Our Success« nicht auf Deutsch erschienen und zweitens thematisieren Henrichs Bücher die denkbar grundlegendsten Fragen. Handelte »The Secret« vom Erfolg der menschlichen Spezies, so das »neue« Buch vom Erfolg einer Kultur, der sogenannten westlichen: „Wie der Westen reichlich sonderbar und besonders reich wurde“ lautet der aussagekräftige Untertitel.
Erhellend zeigte Henrichs früheres Buch, dass die Spezies Homo sapiens sich durch hohe kulturelle Lernfähigkeit auszeichnet. Offenkundig stellte diese Begabung in entscheidenden Phasen der Humanevolution einen natürlichen Selektionsvorteil dar. Natur steht hier nicht in einem Gegensatz zur Kultur, sondern die Natur hat die Neigung entscheidend befördert, kulturelles Wissen durch Lernwilligkeit zu nutzen und damit zu bewahren.
Soweit die Essenz des souverän argumentierenden und mit eindrücklichen Beispielen gespickten Buches vom Erfolg unserer Spezies, The Secret of Our Sucess.
Vom Erfolg der Spezies zum Erfolg der westlichen Kultur
Nun könnte man vermuten, dass auch die besonders „entwickelten“ und dominanten Kulturen ihren Erfolg der genetischen Ausstattung ihrer Mitglieder, also ebenfalls einem natürlichen Selektionsprozess verdanken. Genau dies aber ist nicht der Fall.
Henrich knüpft an die Einsichten des bedeutenden Ökologen Jared Diamond an. In seinem inzwischen klassisch zu nennenden Werk „Guns, Germs and Steel. The Fates of Human Societies“ (dt.: Arm und reich. Die Schicksale der Gesellschaften) legte Diamond dar, dass Gesellschaften lange davon profitierten, wenn sie einen Startvorteil hatten.
Worin lag dieser Vorteil? In den ökologischen Gegebenheiten, die eine frühe Sesshaftigkeit nach dem Ende der Eiszeit möglich machten. Im Nahen Osten konnten früh (ab ca. 11000 vor heute) Pflanzen und Tiere domestiziert werden, schlicht weil es die geeigneten Pflanzen und Tiere gab. Das waren insbesondere Emmer, Einkorn, Gerste, Feige und Erbse und an Tieren Schaf und Ziege und bald darauf Rind und Schwein.
Südlich der Sahara fehlte es dagegen völlig an domestizierbaren Tieren wie auch in Australien und Mittelamerika. In Südamerika waren allein Lama und das Meerschweinchen als Haustiere nutzbar (ab 6000 vor heute), aber nicht als Arbeitstiere. In Eurasien dagegen konnten Ochsen, Pferde, Wasserbüffel oder Esel „Pflüge ziehen, schwere Lasten tragen oder Mühlen ankurbeln“ (Henrich S. 668). Henrich resümiert: „Diamonds Argument erklärt vieles von der globalen Ungleichheit, die wir in der Welt des Jahres 1000 nach Christus beobachten.“ (S. 670) Nach etwa dem Jahr 1200 aber schwächt sich die Erklärungskraft dieses Faktors deutlich ab: die führenden Volkswirtschaften waren danach an Orten angesiedelt, wo Landwirtschaft relativ spät aufkam, „nämlich in England, Schottland und den Niederlanden“ (S. 670). „Diamonds biogeographischer Ansatz hilft uns … weder dabei, zu erklären, warum die Industrielle Revolution in England begann, noch, warum die Schottische Aufklärung zuerst in Edinburgh und Glasgow aufflammte.“ (S. 671)
Nicht alle sind WEIRD
Der Grund für die neue kulturelle Dynamik liegt nach Henrich in der kulturell fest verankerten westlichen Psyche und Denkweise (mind).
Schon in einem Artikel von 2010 hat Henrich (zusammen mit Steven J. Heine und Ara Norenzayan) auf die Besonderheiten im Verhalten und Denken einer ziemlich großen Gruppe von Personen aufmerksam gemacht, nämlich der Menschen, die in WEIRD-Gesellschaften leben: Western, Educated, Industrialized, Rich, and Democratic.
Dies ist aus zwei Gründen wichtig.
- Psychologische Studien, die mit Studierenden (und meist dazu noch in westlichen Gesellschaften) durchgeführt wurden und scheinbar klare Ergebnisse zeigten, verführten dazu, diese in unzulässiger Weise als allgemein menschlich zu betrachten.
- Womöglich wird aus diesem Grund im Westen die Denkweise in anderen Gesellschaften als „seltsam“ oder erklärungsbedürftig angesehen, während doch die eigene erklärungsbedürftig und sekundär ist – dies jedenfalls machen die Studien von Joseph Henrich plausibel.
Menschen aus WEIRD-Gesellschaften
- zeigen eine geringere Konformität und weniger Ehrerbietung gegenüber der Tradition und Älteren (S. 282ff)
- verfügen über mehr Geduld
- versuchen Zeit zu sparen und wertschätzen harte Arbeit
- achten unparteiische Prinzipien höher als (insbesondere verwandtschaftliche) Beziehungen (moralischer Universalismus) (S. 292ff)
- vertrauen stärker auch Fremden und kooperieren mit ihnen, sie achten eher anonyme Institutionen (Regierung, Gesetze, Steuer) (S. 288ff)
- neigen eher zu Schuldgefühlen als zu Schamgefühlen (S. 284ff)
- schreiben mehr dem Charakter zu als einer Situation bzw. Rollenerwartung
- haben weniger Rachegedanken, aber sind bereit auch Fremde für Vergehen zu bestrafen (S. 303ff)
- halten viel von Autonomie und individueller Entscheidung
- achten mehr auf vordergründige und zentrale Akteure oder Objekte (statt auf den Kontext bzw. Hintergrund)
- verfügen eher über analytisches als ganzheitliches Wahrnehmen und Denken (S. 311ff).
Warum sind WEIRD-Menschen so?
Die Antwort überrascht, um nicht zu sagen: verblüfft. Und würde Henrich sie nicht so akribisch belegen, würde man befremdet den Kopf schütteln und auf andere Erklärungen zurückgreifen.
Vielleicht ist hilfreich, zunächst daran zu erinnern, dass wir Menschen (wie andere Tiere auch) eine natürliche Neigung haben, nicht nur für unsere Kinder, sondern auch für unsere Verwandten zu sorgen oder für sie einzutreten. Auch für WEIRD-Menschen ist das noch der Normalfall, obwohl genau diese Neigung sich in ihren Gesellschaften kulturell bedingt deutlich abgeschwächt hat.
Die größere (Groß-)Familienbezogenheit, die westlich geprägte Menschen in anderen Kulturen so bemerkenswert finden, geht einher mit einem genaueren Wissen um Verwandtschaftsbeziehungen. Uns leuchtet sofort ein, dass dies mit gegenseitigen Hilfeleistungen verbunden sein kann, vielleicht wird es aber überraschen, dass Verwandtschaft keineswegs mit einer Tabuisierung im Blick auf Eheschließungen verbunden ist. Allgemein beschränken sich Inzesttabus nur auf Verwandte ersten und 2. Grades (und kulturell sehr unterschiedlich auf weitere Verwandtschaftsbeziehungen). Schon Vetternehen 1. Grades werden in vielen Gesellschaften nicht nur toleriert, sondern sind gewünscht. Ohnehin gilt dies für Vetternehen 2. Grades, bei denen die Partner*innen also ein Urgroßelternteil gemeinsam haben. Generell haben die nicht-westlichen Gesellschaften eine viel höhere Verwandtschaftsintensität. Die Folge: „Man verlässt sich völlig auf diejenigen, mit denen man verbunden ist, und fürchtet alle anderen. Intensive Verwandtschaftsbeziehungen führen somit zu einer schärferen Unterscheidung zwischen Eigengruppen und Fremdgruppen und zu einem allgemeinen Misstrauen gegenüber Fremden.“ (S. 289)
Die Heiratsvorschriften der Kirche
Wie hat sich nun dieser Normalzustand (bei allen kulturell bedingten Feinheiten und Variationen) grundlegend verändert? Dies ist nicht etwa dadurch geschehen, dass sich die Mobilität erhöht hätte oder die Familienbande in die Kritik geraten wären, sondern:
Durch die Ehe- und Heiratsvorschriften der katholischen Kirche.
Im Anhang listet Henrich über 9 Seiten die Synodenbeschlüsse von 305/6 bis 1200 auf, die zunehmend Ehen in der Verwandtschaft verbieten bis hin zur Ehe mit Cousins 6. Grades (Heiratswillige dürfen also keinen gemeinsamen Ururururur-Großelternteil haben). Auch Heiraten mit Patenkindern, Stiefeltern, Witwen von Cousins oder Cousinen werden verboten sowie die sogenannte Leviratsehe, die in der hebräischen Bibel noch geboten war: die Ehe mit der Frau des verstorbenen Bruders. Auch mit der Schwester einer verstorbenen Ehefrau darf keine Ehe eingegangen werden.[1] Polygyne Ehen werden missbilligt und nach einem langwierigen Prozess immer seltener.
Die Kirche hat damit je länger je mehr die Bedeutung von Sippen, Clans, Verwandtschaft insgesamt minimiert. Warum hat sie das getan? Diese Frage steht nicht im Fokus der Untersuchungen von Henrich, zumal die Kirche sicher nicht die Intention hatte WEIRD-Menschen zu bilden. Henrich interessiert aber primär das Zustandekommen dieses „Nebeneffektes“. Einige mögliche Erklärungen spricht Henrich gleichwohl an.
Natürlich konnte sich die Kirche auf die krassen Worte Jesu und entsprechende Bibelstellen berufen wie z.B. „‘Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder?‘ Und er streckte die Hand aus über seine Jünger und sprach: ‚Siehe da, das ist meine Mutter und das sind meine Brüder! Denn wer den Willen tut meines Vaters im Himmel, der ist mir Bruder und Schwester und Mutter.‘“ (S. 756, Zitat von Matthäus 12, 47–50)
Vielleicht hat die Kirche auch bewusst oder unbewusst erkannt, dass sie einer großer Konkurrenz zur emotionalen Bindung an die Kirche und ihre Gemeinschaft begegnen muss, nämlich der zur Verwandtschaft.
Durch ihr Ehe- und Familienprogramm „schaltete die Kirche einerseits ihre Hauptkonkurrenten um die Loyalität der Menschen aus und sicherte sich andererseits auch noch eine beständige Einnahmequelle. Herkömmlicherweise stand die Loyalität gegenüber der eigenen Verwandtschaftsgruppe und Stammesgemeinschaft an erster Stelle und erforderte hohe Einsatzbereitschaft. Nach der Schwächung der Verwandtschaftsbeziehungen und der Stämme wandten sich sicherheitsbedürftige Christen dann aber stärker der Kirche und anderen freiwilligen Vereinigungen zu.“
Henrich führt als weiteren Grund die generelle Sexualfeindlichkeit der Kirche an, die zu mehr Tabuisierungen als je zuvor geführt hat.
Die Kirche brauchte „nur“ die „angeborene Abneigung gegen den Inzest zu nutzen“ (S. 113, kursiv von mir, G.R.), um dieses sexuelle Tabu über den kleinen Kreis enger Verwandter hinaus kulturell auszuweiten.
[1] Erst Papst Benedikt XV. lockert 1917 „die Beschränkungen und verbietet nur noch Ehen mit Cousins zweiten Grades“ und allen näher Verwandten (S. 702) und Papst Johannes II. „erlaubt die Heirat von Cousins und Cousinen zweiten Grades“.
Die amerikanische Ausgabe von 2020: Joseph Henrich, The WEIRDest People in the World
Was sich veränderte
Tatsächlich verändern sich mit den neuen Regelungen die Sozialbeziehungen und neue Institutionen werden benötigt. Im Einzelnen sind zu nennen:
- Familiengründung geschieht zunehmend weder matri- noch patrilokal, sondern neolokal.
- Arrangierte Ehen sind nicht mehr die Regel: Braut und Bräutigam müssen öffentlich in die Ehe einwilligen.
- Grund und Boden gehört nicht mehr der Sippe, sondern Einzelpersonen und kann nun verkauft werden.
- Streitigkeiten innerhalb der verwandtschaftlich organisierten Gruppen werden nicht mehr nach den internen Bräuchen geregelt.
- Kranke, Verletzte, Arme, Alte werden immer weniger vom Verwandtschaftsnetz versorgt, sondern durch kirchliche Institutionen.
Teilweise wird damit das Individuum gestärkt (Erbrecht, Heiratsrecht), teilweise wird die Abhängigkeit von der Kirche erhöht (Fürsorge) und andere Institutionen werden benötigt (Rechtsprechung).
All diese Faktoren unterstützen die Offenheit für freiwillige „Vereinigungen, darunter neue religiöse Organisationen sowie neuartige Institutionen wie freie Städte, Zünfte und Gilden oder Universitäten“ (S. 271). Es ist plausibel, dass Menschen, die nicht mehr so stark in Familiennetzwerke eingebunden waren, offener für alle diese Institutionen waren und damit „die städtischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Revolutionen des Hochmittelalters“ einleiteten.
Konsequenzen für die Moralauffassung
Die unterschiedlichen kulturellen Prägungen (traditionell bzw. weird) haben auch eine moralische Seite.
Sehr wahrscheinlich gibt es in traditionellen Gesellschaften mehr Hilfeleistungen, die sich über das Netz von Verwandtschaft und Austauschbeziehungen erstrecken, aber Weird-Menschen helfen häufiger auch Menschen, die sie (bisher) nicht kennen.
Eine Lüge, die Verwandten hilft, wird in traditionellen Gesellschaften geradezu für geboten gehalten; und auch Weird-Gesellschaften zwingen meist Verwandte nicht, gegen nahe Familienangehörige auszusagen und kennen ein diesbezügliches Zeugnisverweigerungsrecht.
Dennoch ist der Anspruch an Unparteilichkeit und Universalität deutlich stärker ausgeprägt. In Weird-Gesellschaften respektieren Diplomaten z.B. eher Parkverbote, auch wenn sie im Übertretungsfall nicht zur Rechenschaft gezogen werden (S. 68ff).
Einige Einsichten
Was begreifen wir, wenn wir mit Henrichs Forschungsergebnissen die Welt betrachten? (Mit „wir“ meine ich „Weird-Menschen“ und ich vermute, Sie gehören dazu.)
- Es verwundert nicht länger, mit welcher Opferbereitschaft viele geflüchtete Menschen von auch kärglichen Einkünften die Verwandten zu Hause unterstützen, und wie sehr sie sich schämen, wenn ihnen das nicht gelingt. (Link zu einem Beitrag des Deutschlandfunks 2017)
- Es verwundert nicht länger, dass demokratische Strukturen in Gesellschaften mit starken Clanstrukturen, wie z.B. Afghanistan oder Libyen sich nur schwer gegen die „naturgegebene“ Loyalität zur eigenen Sippe durchsetzen können.
- Es verwundert nicht länger, dass der Impuls zur Solidarität mit Verwandten in vielen Gesellschaften sich so beharrlich über abstrakte Normen (wie z.B. Unparteilichkeit bei der Jobvergabe) halten kann.
- Wir durchschauen, dass wir selbst teilhaben an der „tribalen Psychologie“ („Stammespsychologie“) aller Menschen, nur ist uns der „Stamm“ abhanden gekommen – und so neigen wir zu variablen Formen von „Wir-Die-Denken“ in der Politik, im Sport und in allen Bereichen, in denen sich Gruppen bilden.
- Wir begreifen, wie irreführend unsere Neigung sein kann, Verhaltensweisen dem „zugrundeliegenden“ „Charakter“ zuzuschreiben (S. 55ff), während menschliches Verhalten sich in Wahrheit vielen Rollen anpassen kann, eine Selbstverständlichkeit für die Menschen viele Kulturen, in denen je nach Verwandtschafts- und Beziehungsgrad sich ganz verschiedene Verhaltensweisen empfahlen bzw. gefordert wurden. (Zu erinnern wäre hier an die differenzierten Anredeformen in vielen Kulturen.)
- In diesem Zusammenhang führte unsere Neigung, „wesenhafte Unterschiede dort zu sehen, wo es keine gibt“ (S. 679) dazu, dass wir sogar genetische Unterschiede für die Verschiedenheit der Kulturen (und der Weird- oder Nichtweird-Merkmale) für plausibel hielten, mit der drohenden Konsequenz einer gefährlichen Überlegenheitsideologie.
Je abhängiger eine Bevölkerung von verwandtschaftsbasierten und damit verbundenen Institutionen war oder ist, desto schmerzhafter und schwieriger ist der Prozess der Integration in die unpersönlichen Institutionen von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, die sich in Europa im Verlauf des zweiten nachchristlichen Jahrtausends herausgebildet haben. (S. 686)
Die Polarität von Gesellschaften, die die Autonomie des Individuums an die Spitze der Wertehierarchie stellen auf der einen Seite, und den Gesellschaften, für die das Zusammengehörigkeitsgefühl essentiell ist, ist aktuell hochbedeutsam.
In der Süddeutschen Zeitung vom 27.09.2022 geht der Soziologe Armin Nassehi auf den russischen Soziologie-Kollegen Alexander Dugin ein und zitiert ihn:
Dugin kämpft gegen die „fortschreitende Befreiung des Individuums von allen Formen der kollektiven Identität“ und gegen die Idee des individuellen Entscheiders über die eigenen Lebensverhältnisse. Nicht umsonst stellt für ihn „die gesamte islamische Welt einen einzigen großen Pol des Großen Erwachens dar“, weil hier die unauslöschliche Zugehörigkeit zu sozialen Gemeinschaften vor allem eines bekämpfe: solche Zugehörigkeiten selbst wählen und abwählen zu können. Zu potentiellen Koalitionären erklärt er auch den Trumpismus in den USA und die chinesische Zivilisation als „Triumph des Klans, des Volkes, der Ordnung und Struktur über jegliche Individualität“.
Mögliche Einwände
nimmt Henrich selbst vorweg.
Gibt es nicht innerhalb des Einflussbereichs der katholischen Kirche große Unterschiede im Blick auf die „Seltsamkeit“ der Bevölkerungsgruppen – man denke an Süditalien?
Henrich kann geltend machen, dass Süditalien „erst nach den normannischen Eroberungen des 11. und 12. Jahrhunderts … vollständig unter päpstlichen Einfluss“ geriet. „Davor stand Sizilien etwa 250 Jahre unter muslimischer Herrschaft und ein Großteil des südlichen Festlandes unter der Kontrolle des Ostreiches und der orthodoxen Kirche.“ (S. 333) Noch im 20. Jahrhundert waren in Sizilien über 4% aller Ehen Vetternehen (in Norditalien weniger als 0,4%).
Haben sich nicht europäische Herrscher wenig um die Heiratsvorschriften der Kirche geschert?
Dies trifft nicht zu. Ihnen musste viel an der Erlaubnis der Kirche zu Scheidungen etc. liegen. Tatsächlich hat die Kirche Dispense gegen entsprechende Gebühren erteilt. Eine Exkommunikation konnte sich aber kaum ein Herrscher leisten, „denn Schulden gegenüber einem exkommunizierten Gläubigen mussten nicht beglichen werden. Das Konzil von Tribur im Jahr 895 verfügte sogar, dass Exkommunizierte straffrei getötet werden durften“ (S. 248). So haben die europäischen Könige zwar ihr Bestes getan, um die Monogamie „zu umgehen; dennoch waren sie dabei zunehmend auf eine Weise eingeschränkt, die sich kein respektabler chinesischer Kaiser, afrikanischer König oder polynesischer Häuptling je hätte vorstellen können.“ (S. 393)
Hat nicht erst der Protestantismus mit dem Geist des Kapitalismus (Max Weber) auch die westliche Weird-Persönlichkeit hervorgebracht?
Henrich verweist einerseits auf die Studien, die tatsächlich »belegen, dass der protestantische Glaube und die protestantische Praxis harte Arbeit, Geduld und Fleiß fördern«. (S. 592f) Andererseits lässt sich dasselbe bereits für die Cisterzienser, Jesuiten und die Brüder vom gemeinsamen Leben konstatieren. Nach Henrichs Darstellung ist »das Aufkommen des Protestantismus … sowohl eine Folge als auch eine Ursache der sich wandelnden Psychologie der Menschen.« (S. 601)
Man kann nur gespannt sein, welcher Fragestellung sich Joseph Henrich als nächstes zuwendet.
Besten Dank für die Veröffentlichung dieser exzellenten Rezension!
Als Hinweis sei mir gestattet, dass wir WEIRD nicht als universelle Eigenschaft westlicher Kulturen und auch nicht als individuelle Persönlichkeitsausprägung verstehen sollten, sondern als in Wahrscheinlichkeitsbegriffen zu beschreibende Disposition von Menschen in Populationen westlicher Kulturen. Dispositionen beschreiben keine individuellen Ausprägungen, sondern Verhaltensbereitschaften, die individuell unterschiedlich ausfallen können. Nationen und Menschen westlicher Kulturen sind nicht alle gleichartig WEIRD, sondern können durchaus unterschiedlich WEIRD sein:
Wenn Menschen in WEIRD-Kulturen leben, können sie trotzdem individuell nicht WEIRD sein.
Auch in Kulturen, die nicht als WEIRD gelten, können Individuen WEIRD sein.
Wenn jemand westlich sozialisiert ist, kann er trotzdem arm sein und undemokratisch denken.
Wenn jemand gebildet ist, bedeutet das nicht, dass er reich ist und demokratisch denkt.
Wenn jemand demokratisch denkt, muss er nicht reich und gebildet sein.
etc.
WEIRD bedeutet, dass in westlichen Kulturen Nationen und Menschen WEIRD-Dispositionen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ausprägen. Die Stärke dieser Ausprägung variiert bzw. streut individuell.
Hallo Günter,
ganz kurz. Ich kenne einen ganz anderen Ansatz zur Erklärung des wirtschaftlichen Vorsprungs Europas, der sich ab dem 16. Jahrhundert herausbildete, weiß aber nicht mehr, ob er von J. Diamond, Harari oder von jemand anderem war. Noch im 17. Jahrhundert war unklar, ob Europa, Indien oder China “ das Rennen machen“, die technologische Ausgangslage war in etwa gleich. China (und wohl auch Indien) sind durch den Zentralismus ausgeschieden. So verfolgte der Nachfolger eines chin. Kaisers nicht dessen Flotten- und Welterkundungsmission weiter. Europa, das sich durch ständige Kriege gegeneinander selbst schwächte, hatte den Vorteil, dass es immer einen Herrscher gab, der irgend etwas ausprobierte, auch wenn alle anderen dies nicht wollten. Schönstes Beispiel: Kolumbus wollte wohl erst für einen italienischen Stadtstaat losziehen, dann für die Portugiesen, die Spanier waren dritte Wahl.
Und das mit den Heiratsvorschriften widerspricht allem, was ich über mittelalterliche Eheverhältnisse weiß. Wie wurde tatsächlich geheiratet, das ist die viel wichtigere Frage und darüber gibt es bestimmt, für den Adel und bis ins Bürgertum hinein, Untersuchungen mit Belegen. Beim Hochadel konnten die obigen strengen Vorschriften überhaupt nicht eingehalten werden, dazu waren die viel zu verbandelt mit einander, und sie wurden auch nicht eingehalten. Um das sagen zu können, reicht mein historisches Wissen. Extremfall sind die Heiraten der spanischen und österreichischen Habsburger miteinander. Ich vermute, dass die kirchlichen Vorschriften allein den Zweck hatten, Geld an die Kirche für diese eigentlich verbotenen Ehen zu lösen. Und auch in allen anderen Bevölkerungsschichten wurde doch geschaut, dass Vermögen zu Vermögen kommt. 10–20 % der Bevölkerung war das Heiraten sowieso wegen Armut verboten. Wenn man dann noch bedenkt, dass für die bäuerliche Bevölkerung bis ins 2o. Jahrhundert hinein für die geographische Enfernung der „Kirchweih-Umkreis“ (oder so ähnlich) galt, wird es noch unwahrscheinlicher, dass im realen Eheverhalten die kirchlichen Vorschriften eine Rolle spielten. Dass er dann das traditionelle Heiratsverhalten in Süditalien mit der muslimischen Herrschaft und nicht viel einfacher mit dem allgemeinen wirtschaftlichen Rückstand des Südens erklären will, disqualifiziert für mich diesen Autor völlig.
Hallo Wilfried,
der erste Punkt, den du anspricht, ist extrem interessant und komplex. Warum dominiert(e) seit etwa dem Jahr 1500 zunehmend Europa das Weltgeschehen?
Jared Diamond ist tatsächlich in seinem großartigen Buch Guns, Germs, and Steel von 1997 (dt. 1998 Arm und Reich. Die Schicksale menschlicher Gesellschaften) auch auf diese Frage eingegangen. Hauptsächlich ging es ihm ja um die Gründe, warum die neolithische Revolution im Nahen Osten begann und nicht in China, Afrika oder den Amerikas – und all die Folgen, die dieser zeitliche Vorsprung hatte. Aber im Epilog skizziert er, wie eine mögliche Fortführung aussehen könnte, die sich der Frage der Entwicklung der „Neuzeit“ ab ca. 1500 zuwendet. Ausgangspunkt ist die überraschende Feststellung, dass bis 1450 n Chr. keineswegs ausgemacht war, wer „das Rennen macht“:
„Bis zum Aufkommen von Wassermühlen ab etwa 900 n. Chr. leistete Europa westlich und nördlich der Alpen keine größeren Beiträge zu Technik und Zivilisation der Alten Welt, sondern war lediglich Nutznießer von Entwicklungen, die sich im östlichen Mittelmeerraum, in Vorderasien und China abspielten. Selbst zwischen 1000 und 1450 n. Chr. war der Strom wissenschaftlicher und technischer Erkenntnisse überwiegend von den islamischen Gesellschaften, die sich von Indien bis Nordafrika erstreckten, nach Europa gerichtet und nicht umgekehrt.“ (Diamond 1998a, S. 507)
Politische Einheit (China) versus Vielfalt von Herrschaftsgebieten (Europa)
Und, wie du schreibst, ist Diamonds Erklärung, dass China trotz seiner Größe ein relativ einheitliches Gebilde war. Ein Blick auf die Landkarte (Küstenverlauf, Gebirge etc.) macht plausibel, dass eine politische Einheit in Europa viel schwerer herzustellen war. Jedenfalls sind die „fruchtbarsten Regionen des heutigen China“ seit dem Jahr 221 v. Chr. „die meiste Zeit“ „vereint“ geblieben (S. 512). So war es z.B. möglich, dass eine siegreiche mächtige Fraktion die Macht hatte, die Werften abzureißen und die Hochseeschifffahrt per Dekret zu verbieten (S. 510); und dies trotz des gigantischen Ausmaßes der Flotten wie auch der einzelnen Schiffe, die bereits am Anfang des 15. Jahrhunderts die Küsten Ostafrikas und Indiens erkundeten. Die Flotte des Kolumbus hätte kümmerlich klein dagegen gewirkt.
Die Konkurrenz der Fürsten- und Königtümer in Europa bedeutete ein vielfältiges Potential an Unterstützung für viele Erfindungen und Projekte. Investierte der eine Fürst nicht, so vielleicht ein anderer oder, wie im Falle des Kolumbus, ein Königspaar: Isabella I. von Kastilien und Ferdinand II. Aragón. Ähnlich offen war die Suche nach Unterstützung bei „der Erfindung der Kanone, der elektrischen Beleuchtung, der Drucktechnik, kleiner Feuerwaffen und zahllosen anderen Erfindungen“ (S. 511).
In den englischen Ausgaben geht Diamond ab 2003 in einem „Afterword“ u.a. auf die Frage „Why Europe, not China?“ erneut ein (Diamond 2017) und er spezifiziert den Aspekt der Fragmentierung. Denn es brauchte natürlich auch die Freiheit für Ideen und Menschen, die Grenzen zwischen den Fragmenten zu überschreiten. Eine gewisse Einheitlichkeit der Kultur ist also auch nötig.
Für mich bleibt noch offen, ob und wie geographische und politische Einheit gekoppelt sind. Aber das Faktum der politischen Einheit macht sicher dann einen Unterschied.
Urbanisierung und die Universitäten
Interessant ist, dass Diamond schon in einem Aufsatz von 1998 im Anschluss an Graeme Lang in dem Bündel der unmittelbaren Ursachen auch die Städte und insbesondere die Universitäten heraushebt: „Langs Ausgangspunkt ist, dass der Aufstieg der Wissenschaften in Europa sich in einer besonderen europäischen Institution vollzog: autonomen Universitäten, in denen kritische Forschungen relativ unabhängig von politischen oder religiösen Autoritäten möglich war. Zwischen 1450 and 1650 erhielten 90% der Europäer, die heute als Wegbereiter von (Natur-)Wissenschaft betrachtet werden, eine universitäre Ausbildung“ (Diamond 1998b).
Henrich liefert aufschlussreiche Daten, die zeigen: Während sich zwischen 800 und 1800 in Europa die Stadtbevölkerung um das 20-fache wuchs, blieb sie in China konstant. „Urbane Zentren … erweitern das kollektive Gehirn, indem sie Menschen, Ideen und Technologien zusammenbringen.“ (Henrich 2022, S. 632) Zudem erweiterten die Städte ihre Autonomie – und gründeten Universitäten: Bologna: 1119, Paris 1174, Oxford 1214, Salamanca 1218, Neapel 1224, Prag 1348, Krakau 1364, Wien 1365, Fünfkirchen/Pécs 1367, Heidelberg 1386, Köln 1388, Erfurt 1392. Es gab ein regelrechtes Wettrennen um die Gründung von Universitäten.
Dies verweist natürlich wieder auf den Faktor der Konkurrenz, die durch die zersplitterte politische Landschaft bei gleichzeitigem Austausch extrem innovativ wirkte. Es sei – so Diamond – „in Europa nicht möglich gewesen, kritisches Denken für lange Zeit zu unterdrücken“ (Diamond 1998b).
Reduktion des Verwandtschaftsindexes
Jetzt aber zu Henrichs These: Die von der Kirche initiierte Zerschlagung der Macht der Sippen durch strenge Heiratsgesetze, die Verwandtschaftsehen verbieten, sind für die Individualisierung und damit größere geistige Freiheit verantwortlich, aber auch für eine universalisierte Moral, insofern diese sich nicht mehr auf die Sippe beschränkt.
Es ist nach Henrich eine gut gesicherte Tatsache, dass in den meisten Kulturen Verwandtschaftsehen nicht nur erlaubt, sondern erwünscht oder sogar geboten waren. Nur ein paar Schlaglichter: In China wurde Ehen zwischen Onkel und Nichte erst 1950 verboten und erst 1980 die Ehen zwischen Cousins und Cousinen (ersten Grades). Bis dahin war dies nicht nur erlaubt, sondern weithin erwünscht. Wenn wir (Westler) meinen, dass dies doch ein Gesundheitsproblem wegen Inzucht darstellt, sitzen wir gerade unserem westlichen Vorurteil auf, das hier ein Tabu etabliert hat. Ein bestimmter Prozentsatz an Vetternehen scheint völlig unbedenklich zu sein. „Muslimische Gesellschaften im Nahen Osten förderten eine fast einzigartige Ehepräferenz, bei der ein Sohn die Töchter des Bruders seines Vaters heiratete.“ (Henrich 2022, S. 254)
Wenn du schreibst, die Kirche hätte ihre absurd strengen Regeln doch gar nicht durchsetzen können, so ist zuzugeben, dass dies weder schnell noch einfach und auch nicht bei allen (problemlos) durchsetzbar war. Henrich betont, dass es sich um einen Jahrhunderte währenden Prozess handelt. Gesellschaften, die noch nicht so lange unter katholischem Einfluss stehen wie Süditalien haben höhere Raten an Vetternehen. Süditalien gehörte nie zum karolingischen Reich und „verschiedene Gebiete wurden außerdem von muslimischen Sultanen oder byzantinischen Kaisern regiert“ (Henrich 2022, S. 271). Die orthodoxe Kirche war hier wesentlich toleranter. Sie verbot erst im Jahr 692 „die Heirat mit Cousins ersten Grades und im 8. Jahrhundert auch die zwischen Cousins zweiten Grades, aber damit war dann Schluss.“ (Henrich 2022, S. 254) Zudem waren ihre Bemühungen um Durchsetzung schwächer. Heinrich kann im Blick auf China sagen: „Der mächtige chinesische Staat hat in den letzten 70 Jahren das bewerkstelligt, wofür die Kirche im mittelalterlichen Europa Jahrhunderte benötigte.“ (Henrich 2022, S. 349)
Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren. Und natürlich müsste hier auch auf Polygynie, die Leviratsehe u.v.m. eingegangen werden. Entscheidend aber ist, dass de facto heute der Verwandtschaftsintensitätsindex in allen katholisch geprägten Ländern (je länger desto deutlicher) weltweit am geringsten ist. Henrich stützt sich dabei u.a. auf World GeoDatasets | Innovative and Refined Data for Geographic Analysis. Also gelang es der Kirche doch (mehr oder weniger), ihre Politik durchzusetzen.
Sie wollte damit sicher nicht Kreativität, Individualität, Mobilität und persönliche Freiheit befördern. Allerdings hatte sie ein Interesse, das private Eigentum zu stärken, so dass es auch der Kirche vererbt werden konnte. Dazu musste sie das verwandtschaftsorientierte gewohnheitsmäßige Erbrecht zurückdrängen. (Henrich 2022, S. 263)
Und es war auch eine Machtfrage: Denn nicht nur ein Fürst kann seinen Untertanen etwas verbieten oder vielleicht auch gebieten, sondern jeder Patriarch seinen Familienmitgliedern. Wenn es aber gar keinen Patriarchen mehr gibt, weil sich die Sippen ausgedünnt haben und stattdessen, Klöster, Gilden und Universitäten die persönliche Entwicklung des Einzelnen stimulierten (also „Fremde“, Nicht-Verwandte), kann auch die Kirche ihren Einfluss geltend machen.
Oder ist es der Bewässerungslandbau?
Mindestens ein Einwand ist aber noch relevant. Können nicht Anbaumethoden, die auf kollektive Zusammenarbeit angewiesen sind, zu einer kollektivistischeren Psychologie geführt haben? Der geniale Neurowissenschaftler Robert Sapolsky geht in seinem Buch „Determined“ (Sapolsky 2023) logischerweise auch auf kulturelle Prägungen ein, insbesondere den Unterschied zwischen den individualistischen und den kollektivistischen Kulturen. „Erstere betonen Autonomie, persönliche Entwicklung, Besonderheit und die Bedürfnisse und Rechte des Individuums … Im Gegensatz dazu treten kollektivistische Kulturen für Harmonie, wechselseitige Abhängigkeit und Konformität; das Verhalten wird also von den Bedürfnissen der Gemeinschaft geleitet.“ (Sapolsky 2023, S. 74) Er bezieht sich auf ähnliche psychologische Untersuchungen wie Henrich, fügt noch ein interessantes Beispiel an: Eine Person aus Amerika ist gestresst, wenn sie erzählen soll, wo andere sie beeinflusst haben, jemand aus Ostasien dagegen, wenn er davon erzählen soll, wann er andere beeinflusst hat. Eine Standarderklärung sei inzwischen dafür die Ökologie, die die Nahrungsmittelproduktion bestimmt. Zehntausend Jahre von Reisanbau erfordern notwendig intensivste Zusammenarbeit, allein schon um die Reisterrassen und ihre Bewässerung intakt zu halten. Übrigens wurde das Maske-Tragen (wie überhaupt soziale Normen) während der Corona-Pandemie in diesen kollektivistischen Gemeinschaften strikt befolgt. Allerdings gibt es im Norden Chinas Gebiete, in denen Reisanbau nicht günstig oder gar unmöglich ist. Die Bauern dieser Region bauen Weizen an und sind ähnlich individualistisch wie westlich geprägte Menschen.
Auch Henrich ist auf diese Befunde eingegangen und gesteht diesem Faktor eine große Prägekraft zu. Allerdings bleibt er dabei, dass sich auch bei den nördlichen Bauern nicht ganz das Maß an Individualismus des westlichen Menschen zeigt. In einer Studie wurden die Testpersonen gebeten einen Kreis für sich und Kreise für ein paar andere ihnen wichtige Personen zu zeichnen. In Japan (Reisanbau) waren die Kreise für die eigene Person im Durchschnitt um 0,5 mm kleiner im Durchmesser, in China mit mehr Reisanbau etwa gleich groß, in Nordchina mit wenig Reisanbau um 1,5 mm größer. Allerdings werden sie übertroffen durch Briten (3 mm), Deutsche (4,5 mm) und Amerikaner (6,2 mm) (Henrich 2022, S. 343).
Es wäre interessant, mehr über die Bedeutung von Verwandtschaft bei den Weizenbauern in Nordchina zu erfahren.
Und welche Rolle spielt der Buchdruck und die Alphabetisierung?
Frappierend war für mich die Lektüre des Buches „Islam in der Krise“ des Religionswissenschaftlers Michael Blume. Auch er geht u.a. von der Frage aus, warum die islamische Welt nicht mithalten konnte bei den Innovationen, die sich in Europa manifestierten. Dabei eroberten sie doch noch 1453 Konstantinopel unter Sultan Mehmet II. (1432–1481),
Auch hier scheint – wie im Fall von China im 15. Jahrhundert – die Machtkonzentration entscheidend gewesen zu sein, die es möglich machte eine entscheidende Technologie zu unterbinden. An den Sohn des Eroberers, Sultan Bayasid II. (1447–1512), wurde die Frage herangetragen, ob die Druckerpresse importiert werden dürfe.
„Doch aus Sicht des Sultans und der mit ihm verbundenen islamischen Gelehrten – der Ulema – gab es auch gewichtige Einwände gegen diese seltsame Maschine. Seit der Niederschrift des Korans galt das sorgfältige Schreiben und lesende Rezitieren arabischer Zeichen als geheiligte Tätigkeit, die eine jahrelange Ausbildung voraussetzte. Auch wurden wichtige Überlieferungen und Nachrichten mündlich weitergegeben und in jedem Dorf kannte man jene Weisen, deren Wort besondere Glaubwürdigkeit besaß. Entwertete die massenhafte Vervielfältigung gedruckter Texte nicht all diese wichtigen Ämter – und bedrohte damit auch die erfolgreichen Stützen des Islams und des Osmanischen Reiches? Und wenn massenhaft Schriftwerke auf die Märkte gedrungen wären – wer hätte ihre Inhalte kontrollieren und die Ausbreitung falscher oder gar gefährlicher Texte verhindern können? Warum sollte ein offensichtlich blühendes Weltreich sich solchen Stürmen aussetzen?“ (Blume 2017, S. 55)
„So traf Sultan Bayazid II. um 1485 eine der verhängnisvollsten Fehlentscheidungen der Weltgeschichte, die 1515 von seinem Sohn und Nachfolger Sultan (später Kalif) Selim I. (1470–1520) bestätigt wurde und in die gesamte islamische Welt ausstrahlte: das Verbot des Drucks arabischer Lettern; es galt als Verbrechen, auf das gar die Todesstrafe stand.“ (ebd. S.56)
Es ist klar, was für einen Nachteil diese Entscheidung für den Prozess der Alphabetisierung und den Austausch von Wissen darstellte.
Wie verhielt es sich mit der Druckerpresse und der Alphabetisierung in Asien? Henrich spricht auch diese Frage an: Weder weltweit noch in China und Korea, „die zuvor schon ihre eigenen Pressen und Verlagsindustrien entwickelten, hat sich die Alphabetisierung … in großem Umfang durchgesetzt“ (Henrich 2022, S. 714). Hier stellt sich mir die Frage, welche Rolle dabei die Zahl der Schriftzeichen spielte und ob sie für den frühen Buchdruck in China und Japan ein Problem darstellte.
Oder geht alles auf die vokalische Alphabetschrift zurück?
Übrigens gab oder gibt es auch die Theorie, dass die erstmals bei den Griechen erstmals auftauchende vokalische Alphabetschrift von links nach rechts eine „kognitive Revolution“ bedeutet haben könnte. Diese Schrift bot erstmals eine vollständige phonetische Repräsentation der Sprache und forderte und förderte damit – so die These – das analytische Nachvollziehen einer linearen Reihenbildung. Die Verarbeitung geschieht primär in der linken Gehirnhemisphäre. Beim Erlernen anderer Schriftzeichen und ‑symbole spielt das ganzheitliche synthetische Erfassen, das vorwiegend die rechte Gehirnhälfte leistet, eine größere Rolle. Das scheint auch noch für die von rechts nach links geschriebene unvokalisierte Schrift zu gelten. (Kerckhove und Lumsden 1988; Skoyles 1984, 1988) Die Tatsache, dass es kaum Ausnahmen von der Regel gibt, dass konsonantische Alphabete von rechts nach links, alphabetische aber von links nach rechts geschrieben werden, legen neurobiologische statt kultureller Erklärungsversuche nahe. So liegt das zu Lesende bei der Konsonantenschrift, die wegen der kontextuell intuitiv zu ergänzenden Vokale eine gute Mustererkennung voraussetzt, im linken Gesichtsfeld und wird folglich zunächst in der rechten Gehirnhälfte verarbeitet, die eben dafür besonders geeignet ist (Kerckhove 1988, 402,409). Das analytische Denken wäre durch die Verlagerung der Schriftverarbeitung von der rechten auf die linke Gehirnhemisphäre freigesetzt bzw. gefördert worden. Meines Wissens ist es aus heutiger Sicht der Hirnforschung auf jeden Fall komplizierter. Für mich ist es schwer einzuschätzen, ob an dieser Hypothese etwas dran ist.
Und was meint Harari?
Harari geht in seiner Kurzen Geschichte der Menschheit natürlich auch auf die erörterte Frage ein. Allerdings erwähnt er keinen der obigen Erklärungsansätze. Auch er wiederholt aber, es sei um 1500 unklar gewesen, welcher Kulturkreis erfolgreich sein und dominieren würde. Aber natürlich bemüht sich die Geschichtswissenschaft, im Nachhinein die entscheidenden Faktoren aufzuspüren, auch wenn das offenkundig nicht immer sehr leicht ist. Er selbst nennt bezeichnenderweise dann doch selbst einen Faktor: Eine wichtige Voraussetzung sei das Eingeständnis der Unwissenheit gewesen, was man, wie er zurecht betont, als neues Phänomen betrachten muss angesichts der Tatsache, dass alle Kulturen sich bis dahin im Besitz alles relevanten Wissens wähnten. Jedenfalls hielt man es bei den Weisen oder Priestern für potentiell verfügbar.
Harari geht nun aber nicht auf die Gründe für diese selbstkritische Erkenntnis ein – dabei hat der Philosoph Hans Blumenberg diesem Problemkreis einen Gutteil seines Nachdenkens gewidmet. Es ist hier neben seinem bekannten Hauptwerk „Die Legitimität der Neuzeit“ (Blumenberg 1973) auch an sein Werk „Die Genesis der kopernikanischen Welt“ (Blumenberg 1981) zu erinnern. Die spätmittelalterliche Theologie hatte den Möglichkeitsraum Gottes eskalierend so erweitert, dass fast alles denkbar schien.
Das neuzeitliche Denken ist also nicht zufällig charakterisiert durch die Option des hypothetischen Theoretisierens. Das konnte nicht verboten sein angesichts eines Gottes, bei dem nichts unmöglich ist. Descartes macht von kühnen Hypothesen reichlich Gebrauch.
„Denn unzweifelhaft ist die Welt von Anfang an in aller Vollkommenheit geschaffen worden, so daß in ihr [sofort] die Sonne, die Erde, der Mond und die Sterne existiert haben, so daß es auf der Erde nicht bloß Samen von Pflanzen, sondern diese selbst gab und auch Adam und Eva nicht als Kinder geboren, sondern erwachsen geschaffen worden sind. Dies lehrt uns die christliche Religion und auch die natürliche Vernunft. Denn wenn man die Allmacht Gottes berücksichtigt, so kann er nur das in jeder Beziehung Vollkommene geschaffen haben. Allein dennoch ist es zur Erkenntnis der Natur, der Pflanzen und Menschen besser, ihre allmähliche Entstehung aus den Samen [sich vorzustellen] zu beobachten, als so, wie sie Gott zu Beginn der Welt geschaffen hat. Können wir daher gewisse Prinzipien entdecken, die einfach und leicht faßbar sind, und aus denen, wie aus dem Samen, die Gestirne und die Erde und alles, was wir in der sichtbaren Welt antreffen, abgeleitet werden kann, wenn wir auch wissen, daß sie nicht so entstanden sind, so werden wir doch auf diese Weise ihre Natur weit besser erklären, als wenn wir sie nur so, wie sie jetzt sind, beschreiben. Da ich nun glaube, solche Prinzipien gefunden zu haben, so will ich sie hier kurz darlegen…“ (Descartes 1965, S. 81)
Und Papst Urban VIII. alias Maffeo Barberini war durchaus und sehr wohl bereit, das kopernikanische heliozentrische Weltsystem als wertvolle Hypothese zu würdigen. Nicht bereit war er, die Sturheit Galileos zu akzeptieren und auch nicht dessen Unverschämtheit, seine eigene (des Papstes) Hypothese in dem Mund des einfältigen Simplicius wiederzugegeben, nämlich dass Gott (Achtung Allmacht!) die Gezeiten auch auf andere Weise bewirken könnte. Auch Andreas Osiander, der das maßgebliche Werk des Kopernikus förderte und herausgab, bestand auf dem hypothetischen Vorbehalt und platzierte ihn eigenmächtig in seine Vorrede zum Werk des Kopernikus: De Revolutionibus.
Die Argumente von Harari würden die Thesen von Hans Blumenberg stützen.
Also, jetzt können wir überlegen, wie relevant die einzelnen Theorien sind. Ganz unwahr scheint mir keine zu sein. Ich bin gespannt auf deine und eure Einschätzungen.
Literatur
Blume, Michael (2017): Islam in der Krise. Eine Weltreligion zwischen Radikalisierung und stillem Rückzug. Ostfildern: Patmos Verlag.
Blumenberg, Hans (1973): Die Legitimität der Neuzeit. Erw. und überarb. Neuausg. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft).
Blumenberg, Hans (1981): Die Genesis der kopernikanischen Welt. 1. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 352).
Descartes, René (1965): Die Prinzipien der Philosophie. Mit Anhang: Bemerkungen René Descartes über ein gewisses in den Niederlanden gegen Ende 1647 gedrucktes Programm. 7. Unveränderter Nachdruck der 4. Aufl. von 1922. Darmstadt: Felix Meiner (Philosophische Bibliothek, 28). Online verfügbar unter http://www.zeno.org/Philosophie/M/Descartes,+Ren%C3%A9/Prinzipien+der+Philosophie.
Diamond, Jared (1998a): Arm und reich. Die Schicksale menschlicher Gesellschaften. 3. Aufl. Frankfurt am Main: S. Fischer.
Diamond, Jared M. (1998b): Peeling the Chinese onion. In: Nature 391 (6666), S. 433–434. DOI: 10.1038/35014.
Diamond, Jared M. (2017): Guns, germs, and steel. The fates of human societies. with an Afterword 2003. Twentieth anniversary edition. New York: W.W. Norton & Company.
Henrich, Joseph (2020): The WEIRDest people in the world. How the West became psychologically peculiar and particularly prosperous. First edition. New York: Farrar, Straus and Giroux.
Henrich, Joseph (2022): Die seltsamsten Menschen der Welt. Wie der Westen reichlich sonderbar und besonders reich wurde. 1. Auflage. Berlin: Suhrkamp.
Kerckhove, Derrick de (1988): Critical Brain Processes Involved in Deciphering the Greek Alphabet. In: Derrick de Kerckhove und Charles J. Lumsden (Hg.): The Alphabet and the Brain. The Lateralization of Writing. Berlin: Springer, S. 401–421.
Kerckhove, Derrick de; Lumsden, Charles J. (Hg.) (1988): The Alphabet and the Brain. The Lateralization of Writing. Berlin: Springer.
Sapolsky, Robert M. (2023): Determined. A science of life without free will. New York: Penguin Press.
Skoyles, John Robert (1984): Alphabet and the Western mind. In: Nature 309 (5967), S. 409–410. DOI: 10.1038/309409b0.
Skoyles, John Robert (1988): Right Hemisphere Literacy in the Ancient World. In: Derrick de Kerckhove und Charles J. Lumsden (Hg.): The Alphabet and the Brain. The Lateralization of Writing. Berlin: Springer, S. 362–380.
Hallo Günter,
du hast dir echt Mühe gemacht und einen viel weiteren Fundus als ich. Trotzdem ein paar Anmerkungen:
1. zu Henrich (Ich bin weiterhin so kühn und sage etwas zu einem Buch, das ich nicht gelesen habe): Ich weiß so gut wie nichts über die Verwandschaftsbeziehungen in China oder der muslimischen Welt im Mittelalter, da leuchtet mir seine Argumentation ein. Ich wollte nur darauf hinweisen, das die Kirche weit davon entfernt war, ihre strengen Regeln faktisch durchzusetzen und dass das möglicherweise auch gar nicht beabsichtigt war. Vielmehr sollte (auch) eine Einkommensquelle für die Kurie erschlossen werden.Vermutlich mußte für jede zweite oder dritte Ehe im mittelalterlichen Hochadel ein Dispens des Papstes wegen zu naher Verwandtschaft gegen Geld eingeholt werden. Bsp.: Ludwig XIV. heiratete seine spanische Cousine. Sein Neffe musste ebensfalls eine Cousine, die eine uneheliche Tochter des Sonnenkönigs war, heiraten. Bei den Ehen zwischen spanischen und österreichischen Habsburgern heiratete mindestens einmal ein Onkel seine Nichte. Vielleicht relativiert das aber Henrichs These nur ein bißchen.
2. Vielfalt versus Einheit: Es gibt einen interessanten Parallelfall zum zersplitterten mittelalterlichen Europa, nämlich das antike Griechenland. Verbunden durch Sprache, Kultur, Religion, gemeinsame Heiligtümer und Feste lagen die griechischen Stadtstaaten doch immer auch im Krieg mit einander. Dennoch war es nicht das persische Großreich, Nachfolger eine langen Reihe von vorderasiatischen Großreichen, das Griechenland überrannte sondern umgekehrt. Waren damals auch schon die die Zersplitterten technologisch im Vorteil gegenüber den Geeinten?
Das naturwissenschaftliche Denken nach dem Falsifikationsprinzip (daß es also nur noch nicht widerlegte, vorläufige Wahrheiten gibt) und das Suchen nach Ursache und Wirkung ohne jede religiöse Erklärung, stammt ja auch nicht aus dem spätmittelalterlichen Europa sondern aus dem antiken Griechenland (Sokrates: Ich weiß, dass ich nichts weiß.)
Angeregt durch den Film „Luther“ habe ich mich gerade etwas mit der Reformation beschäftigt. Sie konnte nur aus Deutschland (einschließlich Schweiz) kommen, weil dieses machtpolitisch so zersplittert war. So gesehen hatte Hus 100 Jahre früher einfach Pech, weil sein Landesherr dummerweise gerade gleichzeitig deutscher Kaiser und somit (im Gegensatz zu Friedrich dem Weisen von Sachsen) nicht an einer Schwächung der Zentralmacht interessiert war.
3. Die Produktionsweise: Mir fällt nur ein, dass schon Marx von der asiatischen Produktionsweise sprach, der die asiatische Despotie entsprach.
4. Was mich bei Diamond inzwischen am meisten interessiert ist sein Buch „Kollaps“. Verhalten wir uns wie die Bewohner der Osterinseln beim Heraufziehen der ökologischen Katastrophe? Eine große Frage.
Noch eine Ergänzung zum Punkt Verstädterung: Ab dem hohen Mittelalter glich kein anderes Gebiet in Europa in der politischen Zersplitterung mehr dem antiken Griechenland als die norditalienischen Stadtrepubliken. Sie hatten sich in vielen Kämpfen gegen die Zentralmacht ihre Unabhängigkeit erkämpft. Begünstigt wurde dies (mal wieder) durch die Geografie: ganz vorne Venedig mit seiner Lagune, das nie zum Heiligen Röm. Reich gehörte. Auch die anderen Städte profitierten davon, dass die Zentralmacht (nach dem Erbe der Langobarden-Krone durch die deutschen Kaiser) immer erst über den Riegel der Alpen mußte um einzugreifen. Die französischen Könige hatten es da mit ihren südlichen Gebieten viel leichter. In diesen Stadtrepubliken (einschl. Rom) entstand die Renaissance, der Humanismus, wissenschaftliches Denken, schließlich auch Reformation und Säkularisierung folgten. Gleichfalls wurden dort neue Produktions- und Handelsmethoden entwickelt (fast alle klassischen Begriffe des Bankwesens stammen aus dem Italienischen). Sie waren zu ihrer Zeit technologisch führend. Die erste bürgerliche Revolution brach dann im 16. Jahrhundert in den spanischen Niederlanden aus, damals das nach Norditalien am meisten verstädterte Gebiet Europas (vermutlich auch aus geografischen Gründen). Es hätte keine englische Revolution ohne London (dessen Kaufleute die Armee gegen den König finanzierten) und keine französische ohne Paris gegeben (Heine: Paris hat die Welt befreit und nicht mal ein Trinkgeld dafür genommen). Jede dieser Revolutionen brachte einen enormen Schub an Innovationen mit sich.
Es gab im gesamten Mittelalter auch nicht wenige Aufstandsbewegungen der Bauern auf dem Land. Sie wurden fast alle niedergeschlagen. In Deutschland waren, soweit ich sehe, nur zwei erfolgreich, die Eidgenossenschaft und die Ditmarschen-Freibauern (beide wieder begünstigt durch die Geografie). Ob sie zu einem Schub an Innovationen führten, glaube ich eher nicht. Vielleicht kann man es einfach militärisch erklären: Städter sind hinter ihren Mauern besser geschützt als Bauern in ihren Dörfern.
Danke für die Rezension und die sehr belesenen, tiefgründigen und anregenden Kommentare.
Was mich an der Diskussion etwas irritiert ist, dass mir Henrichs Argumentation nicht neu erscheint. Ich meine, Ähnliches schon in älterer, deutscher Literatur gelesen zu haben. Leider kann ich mich nicht an die Autoren erinnern. Ich weiß aber noch, dass darin neben dem kirchlichen Inzestverbot (bis zum 11. Grad, um leichter an Erbschaften zu gelangen), ein „Rausschmiss-Gebot“ für Jugendliche in den mittelalterlichen Städten diskutiert wurde. Danach wurden beide Geschlechter auch dadurch „universalisiert“ und ihren Familien entfremdet, dass sie üblicherweise in fremde Haushalte gegeben wurden, die Jungen als Lehrlinge und die Mädchen als Wirtschafterinnen. An die schnittige Kennzeichnung des neuzeitlichen Menschen als WEIRD in dieser älteren Literatur, kann ich mich allerdings nicht erinnern. Vielleicht kann mir ja jemand auf die Sprünge helfen, bei wem ich das gelesen habe.
Danke für den Hinweis auch auf das „Rausschmiss-Gebot“, von dem ich noch nichts gehört habe. Ich werde das mal als Suchfrage im Kopf behalten. Ich habe mal wieder nachgelesen in dem tollen Werk von Sara Blaffer Hrdy „Mutter Natur. Die weibliche Seite der Evolution“ (jetzt hat sie nach dem Buch „Mothers and Others“ (dt. Mütter und andere) soeben ein Buch über Väter herausgebracht (Father Time: A Natural History of Men and Babies). Ich erinnerte mich, dass sie ausführlich über die vielen Findelhäuser im Mittelalter schrieb, sie reichten von Florenz ab dem 15. Jahrhundert und 15 weiteren in der Toskana bis hin zu England und Russland im 18. Jahrhundert. Meist erhielten die Kinder als den Nachnamen „Esposito“ (Ausgesetzter), kein seltener Nachname bis heute. Napoleon legte gesetzlich fest, dass in allen „Hospizen“ eine Drehlade angebracht würde, in die Säuglinge abgelegt werden konnten. Nun gab es schon Kindesaussetzungen im alten Rom und in vielen Völkern. Es wäre zu fragen, inwieweit dies durch die Urbanisierung bedingt ist, durch abnehmende Familienbande etc. Jedenfalls hat die Kirche hier durchaus eine genuine Aufgabe erkannt. Zufällig habe ich nun bei Hrdy dabei gefunden, dass frühe christliche Sittenkodizes warnten, junge Männer sollten sich davor hüten, Bordelle zu besuchen, „weil sie dadurch möglicherweise unwissentlich Inzest begehen könnten“ (Hrdy: Mutter Natur, Berliner Taschenbuchverlag, 2002 S.344. Das war offenbar das Allerschlimmste!