Sigmund Freud meinte:
„Zwei große Kränkungen ihrer naiven Eigenliebe hat die Menschheit im Laufe der Zeiten von der Wissenschaft erdulden müssen. Die erste, als sie erfuhr, daß unsere Erde nicht der Mittelpunkt des Weltalls ist, sondern ein winziges Teilchen eines in seiner Größe kaum vorstellbaren Weltsystems. Sie knüpft sich für uns an den Namen Kopernikus … . Die zweite dann, als die biologische Forschung das angebliche Schöpfungsvorrecht des Menschen zunichte machte, ihn auf die Abstammung aus dem Tierreich und die Unvertilgbarkeit seiner animalischen Natur verwies. Diese Umwertung hat sich in unseren Tagen unter dem Einfluß von Ch. Darwin, Wallace und ihren Vorgängern nicht ohne das heftigste Sträuben der Zeitgenossen vollzogen.“ (Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse 1916–17, Studienausgabe Bd. 1, Frankfurt am Main 3. Aufl. 1969, S.283f)
Nun, Charles Darwin hätte nicht von der „Unvertilgbarkeit der animalischen Natur“ gesprochen. Er hat den Einfluss der Kultur als hoch eingeschätzt. Aber er hat zum einen eine schlüssige Erklärung für die Entstehung der Arten geliefert, die er dann auch auf den Menschen angewandt hat. Und er hat „Variationen“ und damit den Zufall in seine Theorie der Abstammung eingeführt und beides löste in der Tat großes Unbehagen aus.
Hier soll die die Rolle des Zufalls in Darwins Evolutionstheorie beleuchtet werden, in einem weiteren Beitrag wird auf 150 Jahre „The Decent of Man“ zurückgeblickt.
Die Rolle des Zufalls in Darwins Evolutionstheorie
Darwin stand als Naturforscher jeder Behauptung eines „absoluten“ Zufalls völlig fern. Außerdem hat er in der ihm eigenen Vorsicht nichts unterlassen, um die Rolle des „relativen“ Zufalls eher herunterzuspielen. Während aber Descartes in seiner Kosmogonie von jeder Andeutung des Zufalls weit entfernt war und Kant souverän auf die dominierenden Gesetzlichkeiten hinweisen konnte, muss Darwin sich mit der Rolle des Zufalls explizit auseinandersetzen. Er tut es von der ersten Auflage seines grundlegenden Werkes „Von der Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl“ von 1859 an.
Schließlich gründet seine Abstammungstheorie auf den beiden Hauptfaktoren der natürlichen Selektion und der Reihe von sukzessiven kleinen Variationen [1] von Generation zu Generation. Eben solche Variationen müssen schließlich auch zur Erklärung der Erfolge menschlicher Zuchtwahl angenommen werden; zudem sei kein Fall bekannt, dass im Rahmen der Kultivierung von Pflanzen oder Tieren die Variabilität je zum Stillstand gekommen wäre (S.8). Darum können die Veränderungen auch nicht nur mit der geschlechtlichen Fortpflanzung zusammenhängen, zumal auch bei Knospungen Variationen vorkommen (S.9f).
Am Anfang des 5. Kapitels geht Darwin explizit auf die Frage des Zufalls hinsichtlich der Abänderungen ein. Er meint dort: “Ich habe bisher manchmal gesprochen als seien die Variationen eine Sache des Zufalls.“ [2] Darwin hat jedoch bis dahin das Wort Zufall keineswegs gebraucht. Ihm ist aber deutlich, dass das Wort Variationen den Zufallsgedanken nahelegt. Deshalb stellt er nun im Blick auf den Zufall klar: “Das ist natürlich ein völlig unkorrekter Ausdruck, aber er dient genau dazu, unser Unwissen über die Ursache jeder einzelnen Variation anzuerkennen.“ [3]
Darwin kommt dem Gedanken von Mutationen des genetischen Materials der elterlichen Geschlechtszellen nahe, wenn er vermutet: „Die männliche und weiblichen Geschlechtselemente scheinen beeinflusst zu sein bevor die Vereinigung, die ein neues Lebewesen bildet, stattfindet. [S.132] Das genannte 5. Kapitel trägt bezeichnenderweise die Überschrift „Laws of variation“, obwohl es sich mehr um eine Beschreibung der verschiedenen Arten bzw. denkbaren Ursachen von Modifikationen handelt.
Darwin hat nie ausgeschlossen und in den folgenden Auflagen zunehmend eingeräumt, dass veränderte und dann lange Zeit konstant wirkende Umweltfaktoren nicht nur im Sinne einer gerichteten Selektion wirken, sondern auch direkt einen Einfluss haben. Denn größere Kälte bewirkt ja unmittelbar, dass das Fell von Tieren dichter wird und Darwin meinte, dass damit sich auch ohne Selektion die ganze oder fast die ganze Nachkommenschaft in derselben Weise abändern kann [4]. In einem Brief im April 1861 äußert Darwin die Sorge, dass er nicht imstande ist, „die directen Wirkungen der lange fortdauernden Thätigkeit veränderter Lebensbedingungen ohne irgend welche Zuchtwahl gegen die Einwirkung der Zuchtwahl auf bloße (so zu sagen) zufällige Variabilität abzuwägen. Ich schwanke über diesen Punkt viel hin und her, kehre aber meistens zu meinem Glauben, daß die directe Wirkung der Lebensbedingungen nicht groß gewesen sind, zurück.“ [5]
Die indirekte Wirkung über das Fortpflanzungssystem geschieht jedenfalls ohne Rücksicht auf die Lebensbedürfnisse des Individuums und in diesem Sinne kann Darwin jedenfalls in seiner privaten Korrespondenz die Variationen auch als zufällig bezeichnen [6].
Darwin hat wohl mehr der Vorsicht und Ungewissheit halber im Laufe der Zeit zunehmend lamarckistische Erklärungen einbezogen, also auch die Rolle des Gebrauchs und Nichtgebrauchs von Organen für deren Veränderung gemeint anerkennen zu müssen. Nichtsdestoweniger hat Darwin schon durch den Titel des Werkes „On the Origin of Species by Means of Natural Selection“ das Schwergewicht eindeutig auf die natürliche Zuchtwahl gelegt, und dies bestätigt sich auch im Blick auf den Text selbst, wenn man den Umfang der Ausführungen Darwins über Variation und Zuchtwahl mit den knappen Zugeständnissen hinsichtlich der Vererbung erworbener Eigenschaften vergleicht. An konkreten Beispielen hat Darwin auf die Unerklärlichkeit bestimmter Phänomene durch Lamarcks Lehre aufmerksam gemacht (S.241–242). Der Umfang der Abschnitte, die andere Faktoren als die natürliche Selektion berücksichtigen, nimmt bei Darwin allerdings von Auflage zu Auflage zu, mit dem Ergebnis, dass der Titel schließlich – so R. Young – hätte lauten müssen: „On the Origin of Species by Means of Natural Selection and All Sorts of Other Things“ [7].
Während die Variationen primär als Zufallsaspekt der Entwicklung gelten können, kann man die natürliche Zuchtwahl vorrangig als Notwendigkeitsfaktor verstehen. Darwin gibt zu, daß der Ausdruck Spencers „Survival of the Fittest“ angemessener sei, weil er den Eindruck einer bewußten Auslese vermeidet [8]. Darwin bezeichnet „Natural Selection“ gleichwohl als Macht, die der menschlichen unendlich überlegen ist. Denn:
Die Natur „fragt nichts nach dem Aussehen, es sei denn, daß es irgendeinem Wesen nütze; sie kann auch auf jedes innere Organ wirken, auf den kleinsten körperlichen Unterschied, auf die ganze Maschinerie des Lebens. Der Mensch wählt nur zu seinem Vorteil aus, die Natur nur zum Besten des Geschöpfes selbst… Wie unbestimmt sind die Wünsche und Anstrengungen des Menschen, wie knapp bemessen ist seine Zeit. Und wie armselig sind seine Erfolge im Vergleich zu denen, die die Natur im Laufe ganzer geologischer Epochen hervorgebracht hat. Ist es ein Wunder, wenn die Erzeugnisse der Natur viel ‘echter’ im Charakter sind als die des Menschen? Daß sie sich den verwickelten Lebensbedingungen besser anpassen und viel vollkommener den Stempel höherer Meisterschaft tragen? Man kann im bildlichen Sinne sagen, die natürliche Zuchtwahl sei täglich und stündlich dabei, allüberall in der Welt die geringsten Veränderungen aufzuspüren und sie zu verwerfen, sobald sie schlecht sind, zu erhalten und zu vermehren, sobald sie gut sind; still und unsichtbar wirkt sie, wann und wo immer sich eine Gelegenheit bietet, an der Verbesserung der organischen Wesen und ihrer organischen und anorganischen Lebensbedingungen“ [9].
Darwins Umsicht bei der Berücksichtigung aller Faktoren zeigt sich u.a. darin, dass er nicht vergisst zu erwähnen, dass auch die Selektion zufällig wirken kann. So werden immer wieder eine große Zahl von Eiern oder Samen vernichtet, die, wenn sie nicht zerstört worden wären, vielleicht Individuen hervorgebracht hätten, die besser angepasst gewesen wären als alle, die überlebt haben. [10] Außerdem werden alljährlich viele Tiere und Pflanzen zufällig vernichtet, völlig unabhängig davon, ob sie gut an ihre Lebensbedingungen angepasst sind oder nicht; „aber von denen, die überleben, werden sich die am besten angepassten, wenn es auch nur eine gewisse Variabilität gibt, erfolgreicher vermehren“ [11].
Darwin wollte nichts weniger als dem Zufall irgendeine bedeutende Rolle zusprechen. Aber ihm war aus seiner gründlichen Kenntnis der Pflanzen- und Tierwelt über die Maßen evident geworden, dass hier keine Teleologie und kein göttlicher Plan zum Verständnis ihrer Entstehung nötig und im geringsten adäquat sein konnte: „Ich bin mir im Klaren darüber, dass ich in einer totalen Zwickmühle stecke. Ich kann nicht denken, dass die Welt, wie wir sie sehen, das Ergebnis des Zufalls ist; und doch kann ich auch kein einzelnes Ding als das Ergebnis von Planung betrachten. [12]
Darwin deutet des Öfteren an, dass sich ihm damit die Frage nach der Art unseres geistigen Vermögens stellt und nach seiner Leistungsfähigkeit, wenn es gilt, den großartigen Lauf der Welt zu begreifen und zu deuten.
„Ich bin geneigt, auf alles als das Ergebnis von geplanten Gesetzen zu schauen, wobei die Details, seien sie nun gut oder schlecht, den Einflüssen unterliegen, die wir Zufall nennen können. Nicht, dass mich das in irgend einer Weise befriedigen würde. Ich fühle zutiefst, dass die ganze Sache zu schwer für den menschlichen Verstand ist. Ebenso mag ein Hund über den Geist Newtons spekulieren. – Lassen wir jeden Menschen hoffen und glauben, was er kann.“ [13]
Interessant ist ein Vergleich dieser brieflichen Äußerung mit der spürbar gefälligeren Darlegung in The Decent of Man:
“Die Geburt sowohl einer natürlich Art als auch des Individuums sind gleichermaßen Teile der großen Abfolge von Ereignissen, die unser Geist sich weigert als eine bloße Folge von Zufall zu akzeptieren. Das Verstehen verweigert sich einer solchen Schlussfolgerung, ob wir nun glauben können, dass jede kleine Variation der Struktur, und andere solche Ereignisse, für einen speziellen Zweck bestimmt waren, oder nicht.“
[1] „sucessive slight variations“, Charles Darwin: On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life, 1859 (Nachdruck 1988), S.4. Die Seitenangaben im folgenden beziehen sich auf dieses Werk.
[2] „I have hitherto sometimes spoken as if the variations […] had been due to chance.“ (S.131)
[3] „This, of course, is a wholly incorrect expression, but it serves to acknowledge plainly our ignorance of the cause of each particular variation.“ (S.131)
[4] So Darwin in der 6. Auflage von 1876, S.6.
[5] Darwin: Brief an Thomas Davidson vom 30.4.1861, zit. nach F. Darwin (1887) Bd.2 S.359f.
[6] Vgl. den Brief an Charles Lyell vom 25. Oktober 1859 (Correspondence Bd.7 S.358) und den Brief an denselbenLyell vom 1. September 1860 (Correspondence Bd.8 S.340): „We should, however, always remember that no change will ever be effected till a variation in habits or structure or of both chance to occur in right direction so as to give the organism in question an advantage over other already established occupants of land or water; & this may be in any particular case indefinitely long.“
[7] Robert M. Young: Darwin’s Metaphor. Nature’s Place in Victorian Culture, Cambridge – London – New York 1985, Darwin’s Metaphor S.119.
[8] 6. Auflage 1876, S.49 und 63.
[9] Charles Darwin: Die Entstehung der Arten, Reclam TB S.124–126 (S. 83–84 in der 1. Auflage der Origins).
[10] „better adapted to their conditions of life than any of those which happened to survive.“ 6. Auflage S.68.
[11] „Ferner wird alljährlich eine große Zahl reifer Tiere und Pflanzen, mögen sie ihren Verhältnissen gut oder schlecht angepaßt sein, durch zufällige Ereignisse vernichtet“.yet of those which do survive, the best adapted individuals, supposing that there is any variability in a favourable direction, will tend to propagate their kind in larger numbers than the less well adapted.“ (Ebd.)
[12] „I am conscious that I am in an utterly hopeless muddle. I cannot think that the world, as we see it, is the result of chance; & yet I cannot look at each separate thing as the result of Design.“ So Darwin in seinem Brief an Asa Gray vom 26. Nov. 1860 (Correspondence Bd.8 S.496).
[13] „I am inclined to look at everything as resulting from designed laws, with the details, whether good or bad, left to the working out of what we may call chance. Not that this notion at all satisfies me. I feel most deeply that the whole subject is too profound for the human intellect. A dog might as well speculate on the mind of Newton. – Let each man hope & believe what he can.“ So Darwin in einem Brief an Asa Gray vom 22. Mai 1860 (Correspondence Bd.8 S.224).
[14] „The birth both of the species and of the individual are equally parts of that grand sequence of events, which our minds refuse to accept as the result of blind chance. The understanding revolts at such a conclusion, whether or not we are able to believe that every slight variation of structure, – the union of each pair in marriage, – the dissemination of each seed, – and other such events, have all been ordained for some special purpose.“ Darwin (1871) Bd.I S.396 (vgl. 2.1877 S.613).
Meerechse
Die einzige Echse, die sich unter Wasser ernährt. Darwin beschrieb sie (ein scheußlich aussehendes Geschöpf, von schmutzig schwarzer Färbung) und untersuchte ihr Verhalten. Die Tiere kennen Gefahr nur aus dem Wasser, nämlich Haie, und flüchteten deshalb immer an Land, so oft Darwin sie auch ins Meer warf.