Tugendethik hört sich ziemlich verstaubt an. Wir sprechen nicht mehr von „Tugenden“ oder „Lastern“. Wenn wir den Begriffen überhaupt noch begegnen, hören wir etwas unangenehm Moralisierendes heraus.
Und jetzt meine Behauptung: Jede und jeder von uns ist in einiger Hinsicht Tugendethiker*in. Denn jede*r bemüht sich um ein gutes Leben, und dazu gehört, wie Aristoteles überzeugend darlegt, z.B. dass wir gerecht handeln wollen. Das Ziel allen Handelns ist bei Aristoteles das gute Leben, die Eudaimonia, die Glückseligkeit. Diese aber erreicht man nicht als Egoist, sondern als tugendhaft lebender Mensch.
„Die Tugenden entstehen in uns also weder von Natur, noch gegen die Natur. Wir sind vielmehr von Natur dazu gebildet, sie aufzunehmen, aber vollendet werden sie durch Gewöhnung.“ [1]
Sehr schön beschreibt Aristoteles, wie „die Natur“ uns Menschen die Tugenden nahelegt, es aber an uns ist, sie auszubilden.
„Mit Recht wird also gesagt, daß der Gerechte durch das gerechte Handeln entsteht und der Besonnene durch das besonnene.“ [2]
Er betont, dass es darauf ankommt, gute Gewohnheiten zu entwickeln, so dass wir die entsprechende Haltung, Hexis, gewinnen. Das klingt schon sehr modern nach „Selbstoptimierung“. In der Tat hat Aristoteles die betrachtende („theoretische“) Form des Lebens für die höchste gehalten:
„Von der Betrachtung läßt sich behaupten, daß sie ihrer selbst wegen geliebt wird.“ [3]
Dass die meisten Menschen zu Selbstoptimierung und Muße kaum die Zeit und Kraft haben, hat Aristoteles allerdings ebenso wenig reflektiert wie die Beeinflussung der Moralität durch die jeweilige Kultur bzw. das spezifische Milieu.
Mit der zunehmenden Individualisierung, mit den wachsenden Möglichkeitsräumen, mit der Kenntnis der Gefährdungen der Ökosphäre stellt sich die Frage vehementer denn je, wie wir gut zu leben vermögen, und das meint auch: so, dass wir es als Mitwisser unserer selbst akzeptieren oder jedenfalls aushalten können.
[1] Aristoteles: Die Nikomachische Ethik 1103 a 24f; übers. v. Olof Gigon, dtv tb 6011, S.81. [2] 1105 b 9–10, S.87. [3] 1177 b 1–2, S.296.
Mehr als von einzuübenden Tugenden wird heute von Werten gesprochen.
Werte allerdings sind nach Peter Sloterdijk das,
„was übrigbleibt, wenn man von den Tugenden die Einübung wegläßt – weswegen »Werte« das Kennwort der Ethik im Zeitalter des Geredes“ sind (Zeilen und Tage Bd.1 am 1. Dezember 2010).
Ein Jahr vor diesem Eintrag in sein Denktagebuch hat Sloterdijk sein Buch „Du mußt dein Leben ändern“ veröffentlicht. Er arbeitet sich (und quält den Leser) durch die Geschichte des Übens. Am Ende wird deutlich, warum er sich diesem Exerzitium unterzieht und dass dies einen guten Grund hat. Er diagnostiziert, dass die Menschheit hier und heute gefordert ist, sich in kooperative Überlebenstechniken einzuüben.
Cebestafel – Pieter Claeissens (1500 – 1576), Maler/in, Werkstatt