Du mußt dein Leben ändern.
Peter Sloterdijks Buch trägt einen seltsam plakativen Titel. Er erklärt sich schnell als Zitat eines Gedichtes von Rilke, in dem der Betrachter eines archaischen Torsos von Apoll sich plötzlich selbst als Betrachteter empfindet:
„denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.“
Dieser Imperativ steht nach Sloterdijk für eine „Vertikalspannung“, die den Menschen mit oder ohne Gott antreibt, sich nicht mit seinem status quo zufrieden zu geben. Wie der Mensch sich erprobend und übend zu seinem Leben verhält, zieht sich als roter Faden – wie man ihn von Sloterdijk sonst nicht gewohnt ist – durch das Buch.
Verschlungene Wege sind es gleichwohl, Wege, die etwa im einleitenden Kapitel Der Planet der Übenden in die Philosophie (Nietzsche) führen, in die Literatur (Kafka, Cioran), in die Behindertenpädagogik, zur olympischen Idee und zur scientologischen Religionserzeugung durch Ron Hubbard.
Natürlich waren es weithin die Religionen, die die Menschen zu Übungen und Askesen motivierten; Pierre de Coubertins gescheiterter Versuch, die Olympische Idee als neue Religion zu etablieren und gleichzeitig sein Erfolg, eine Wettkampf- und Übungsbewegung zu initiieren, zeige jedoch, dass der Mensch keinen Gott braucht, um sich als Übender betätigen zu wollen. Mehr noch: Was man als Religionen verstand, sind in Wahrheit nur mehr oder weniger ausbreitungsfähige und –würdige Übungssysteme wie andere auch. In der aktuellen Geistesgeschichte der Menschheit vollziehe sich nun als mächtiges Ereignis eine „Entspiritualisierung der Askesen“. Wollte die Aufklärung die „an die Überwelt verschwendeten Kräfte zurückfordern und sie zur Optimierung der irdischen Verhältnisse einsetzen“, bleibt bei Sloterdijk zunächst offen, zu welchem Ziel und Zweck denn geübt werden sollte. In den Fokus der Aufmerksamkeit rückt umso mehr, wie nachlässig oder fortgeschritten sich die Übenden zeigen:
„der Unterschied zwischen denen, die etwas oder viel aus sich machen, und denen, die nichts oder wenig aus sich machen, (wird) immer auffälliger.“
Die Zukunft werde „sich unter dem Zeichen des Exerzitiums präsentieren“.
Zunächst aber exploriert Sloterdijk, über welchen Erfahrungs- und Reflexionsschatz die Menschheit im Blick auf das Üben und eine „akrobatische Ethik“ verfügt.
Eine zentrale Rolle spielt dabei die Einsicht in das Maß, in dem Menschen durch Gewohnheiten und ihren erworbenen Habitus geprägt und bestimmt werden. Sie ist Ausgangspunkt für die Habitustheorien von Aristoteles über Thomas von Aquin bis hin zu Pierre Bordieu. Dabei ist die einzige Chance für den Menschen, das, was ihn hat, selbst in Besitz zu nehmen, nach Thomas a Kempis die Überwindung der Gewohnheit durch Gewohnheit.
Sloterdijk stellt uns den übenden Menschen in den altindischen Heilslehren und im Buddhismus vor, im griechischen Athletismus und im christlichen Märtyrertum („Todesathleten“ nennt Sloterdijk die Märtyrer mit Bezug auf Tertullians „unerschrockene Traineransprache“), im Stoizismus und in der langen Tradition des Mönchtums.
Die Moderne ist nach Sloterdijk wesentlich gekennzeichnet durch das Auftreten der Pädagogik, die weithin in einer Übertragung der Klosterdisziplin auf die Schule besteht. Zur Menschenverbesserung en masse wird die Änderung des Lebens in die Lebensanfänge vorverlegt. Hatte die Schule den Auftrag brauchbare Bürger zu liefern, so stattete das bürgerliche Bildungswesen die Zöglinge mit reichhaltigeren Kulturmotiven aus und wollte nicht weniger als autonome Persönlichkeiten heranbilden. Die Schule neigt aber wie der Kunstbetrieb (und andere ausdifferenzierte Teilsysteme nach Luhmann) zur Zunahme der Selbstbezüglichkeit.
Die Schule bringt den „Mut zur Dysfunktionalität“ nicht mehr auf. „Sie produziert Lehrer, die nur noch an Lehrer erinnern, Schulfächer, die nur noch an Schulfächer erinnern, Schüler, die nur noch an Schüler erinnern.“ Auf die Verinnerlichung der Materien wird verzichtet, man hat „die Stoffdurchnahme ohne aneignendes Üben eingeübt.“
Wegen solchen prägnant formulierten (und in diesem Fall aus der Sicht des Rezensenten durchaus treffenden) Diagnosen nimmt der passionierte Sloterdijk-Leser auch einmal Durststrecken bei der Lektüre in Kauf.
Sloterdijk schließt den Überblick über die menschlichen Übungsformen ab mit dem Resümee,
die „Schatzhäuser des Übungswissens“ seien „überreich gefüllt …, mochten sie auch in jüngerer Zeit wenig frequentiert werden.“
In den letzten 15 Seiten offenbart Sloterdijk, wer oder was heute den Imperativ „Du mußt dein Leben ändern!“ sprechen kann. Es ist die Sorge um das Ganze.
Die letzten beiden Abschnitte des umfangreichen Buches sind keine leichte Kost, weder sprachlich noch inhaltlich. Jetzt wird vollends deutlich, warum er sich durch die Geschichte des Übens gearbeitet hat: Die sich akut gefährdenden Bewohner des Raumschiffs Erde müssen „jetzt oder nie“ beginnen, „in täglichen Übungen die guten Gewohnheiten gemeinsamen Überlebens anzunehmen“.
„Die Geschichte des zu klein verstandenen Eigenen und des zu schlecht behandelten Fremden erreicht ihr Ende in dem Moment, in dem eine globale Ko-Immunitätsstruktur unter respektvoller Einbeziehung der Einzelkulturen, der Partikularinteressen und der lokalen Solidaritäten entsteht. Diese Struktur würde in dem Moment planetarisches Format annehmen, in dem die … Erde als das Eigene und der bisher dominierende ausbeuterische Exzeß als das Fremde konzipiert werden. Mit dieser Wende würde das konkret Universelle operationell. Das hilflose Ganze verwandelt sich in eine protektionsfähige Einheit. An die Stelle einer Romantik der Brüderlichkeit tritt eine kooperative Logik. Menschheit wird ein politischer Begriff. Ihre Mitglieder sind keine Passagiere auf dem Narrenschiff des abstrakten Universalismus mehr, sondern Mitarbeiter an dem durchwegs konkreten und diskreten Projekt eines globalen Immundesigns. Wenngleich der Kommunismus von vornherein ein Konglomerat aus wenigen richtigen und vielen falschen Ideen war, sein vernünftiger Anteil: die Einsicht, daß gemeinsame Lebensinteressen höchster Stufe sich nur in einem Horizont universaler kooperativer Askesen verwirklichen lassen, muß sich früher oder später von neuem geltend machen. Sie drängt auf eine Makro-Struktur globaler Immunisierungen: Ko-Immunismus.
Eine solche Struktur heißt Zivilisation. Ihre Ordensregeln sind jetzt oder nie zu verfassen. Sie werden die Anthropotechniken codieren, die der Existenz im Kontext aller Kontexte gemäß sind. Unter ihnen leben zu wollen würde den Entschluß bedeuten: in täglichen Übungen die guten Gewohnheiten gemeinsamen Überlebens anzunehmen.“
Peter Sloterdijk: Du mußt dein Leben ändern, Frankfurt 2009, S.713f
Weiterlesen: Peter Sloterdijks Ausführungen über den Spruch: Nach uns die Sintflut! (Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, Berlin 2014)
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