Das Gleichgewicht von Geben und Nehmen als Wurzel des Gerechtigkeitsempfindens und von Gerechtigkeitskonzeptionen. Eine Rekonstruktion.
I Ausgleichende, kommutative Gerechtigkeit – Das Gleichgewicht von Geben und Nehmen
Kann man natürliche moralische Intuitionen aufspüren und womöglich zeigen, wie wir von ihnen aus in kritischer Reflexion zu ethischen Positionen kommen?
Ziemlich plausibel erscheint, dass einige moralische Intuitionen positiv zu bewerten sind, jedenfalls, wenn sie nicht verabsolutiert werden, sondern miteinander wechselwirken können. Das sind: Mitgefühl, ein Gefühl für ausgleichende Gerechtigkeit, das Freiheitsbedürfnis sowie die Intuition, sinnvollerweise den besten kulturell verfügbaren Wissensbestand zu achten.
Gegen Endes seines Buches „Die Idee der Gerechtigkeit“ bezieht sich Amartya Sen auf die natürliche moralische Kompetenz des Menschen:
„Wir hätten Geschöpfe sein können, die unfähig zu Mitgefühl sind, vom Schmerz und der Demütigung anderer nicht angerührt, gleichgültig gegenüber Freiheit und – nicht weniger signifikant – nicht fähig zu denken, zu argumentieren, verschiedener oder einer Meinung zu sein. Dass wir alle diese Eigenschaften im hohem Maß besitzen, verhilft uns kaum zur Entscheidung für eine bestimmte Theorie der Gerechtigkeit, deutet aber darauf hin, dass das allgemeine Streben nach Gerechtigkeit in der menschlichen Gesellschaft nur schwer auszurotten ist, auch wenn verschiedene Wege zum Ziel führen.“
Genau das ist der springende Punkt: Wenn wir nur auf vernünftigem Wege eine Ethik konstruieren könnten und darauf angewiesen wären, das zu tun, ohne die genannten hilfreichen moralische Intuitionen (und dazu wären noch zwei ambivalente zu nennen), dann stünden wir moralisch im Nebel. Aber wir sind zum Glück Geschöpfe mit moralischen Intuitionen und kulturellem Lernvermögen.
Versuchen wir einen schrittweisen, von den Phänomenen ausgehenden Zugang zu den komplexen philosophischen und politischen Fragen der Gerechtigkeit.
Der Unterschied von Kooperation und reziprokem Altruismus
Es gibt viele Säugetierarten, die kooperativ sind, z.B. Wölfe, die gemeinsam jagen und gemeinsam vom Jagderfolg profitieren.
Eine anspruchsvollere und ganz eigene Art von Kooperation liegt vor, wenn eine Hilfe geschieht und noch völlig offen ist, ob und wie es später zu einem Ausgleich, einer Gegengabe, einer umgekehrten Hilfeleistung kommen kann.
Man spricht dann von reziprokem Altruismus, also wechselseitiger Hilfeleistung. Wenn aber die Wechselseitigkeit gut funktioniert, könnte man natürlich genauso gut von reziprokem Egoismus sprechen. Denn im Endeffekt profitiert jeder. Gibt es biologische Arten, in denen sich reziproker Altruismus etabliert hat?
Ein Beispiel bietet Frans de Waal, der berühmte Primatenforscher.
Er und seine Mitarbeitenden haben 7000 Annäherungen von Schimpansen an Nahrungsbesitzer, die Futter erhalten hatten, beobachtet. Zuvor war dokumentiert worden, wer wen in den Stunden davor gegroomt hatte. Dann verglichen die Primatenforscher
„den Fluss der beiden ‚Währungen‘: Futter und Groomen. Hatte beispielsweise Socko, der Alphamann, May gegroomt, waren seine Aussichten, am Nachmittag ein paar Zweige von ihr zu erhalten, beträchtlich erhöht. Diesen Effekt fanden wir in der gesamten Kolonie“ – so de Waal[1].
Beispiele für die Allgegenwart des Gleichgewichtsdenkens (Schenken und „Danke“-Sagen)
Menschen nun sind Virtuosen in der Ausbalancierung diverser gegenseitiger Hilfs- und Unterstützungsleistungen. Und wir ritualisieren das sogar, indem wir Geschenke geben und empfangen. Nun, manchmal wird es uns zu viel und wir vereinbaren: „Wir schenken uns nichts mehr zu Weihnachten. Man hat ja alles und es ist ohnehin so ein Stress vor Weihnachten.“ Ganz wichtig: Beide schenken sich nichts, sonst kommt die Beschwerde: „Wir haben doch gesagt, dass wir uns nichts mehr schenken wollen.“ „Ja – nur eine Kleinigkeit.“ Wir achten sehr auf Gleichgewicht und lieber geben wir etwas mehr, als dass wir in die Schuld anderer geraten
Nicht zufällig ist das traditionelle Symbol für Gerechtigkeit die Waage. Vielleicht, weil das Ausbalancieren von Geben und Nehmen die fundamentalste Äußerung von Gerechtigkeit ist? Aristoteles spricht von kommutativer Gerechtigkeit, der ausgleichenden Gerechtigkeit:
Man will „das Gute vergelten, und wenn es das nicht gäbe, so gäbe es keinen Austausch von Leistungen, durch den doch die Gemeinschaft beisammenbleibt.“ [2]
Marcel Mauss hat ein klassisches Werk geschrieben, „Die Gabe“, und er fragt: „Was liegt in der gegebenen Sache für eine Kraft, die bewirkt, daß der Empfänger sie erwidert?“[3] Die Kraft, die eine Gabe erwidern lässt, liegt darin, dass wir als Menschen gute reziproke Altruisten sein wollen. Die Kraft liegt nicht in der Gabe, sondern in unserem Bemühen um gute Buchführung.
Darauf weist auch die weltweit verbreitete Sitte, Danke zu sagen, hin. „Danke“ heißt soviel wie:
Ich habe wahrgenommen, dass ich ein bisschen in deine Schuld geraten bin, dass ich dir also noch ein klein wenig „schuldig“ bin. Du weißt also nun dass ich wirklich keiner bin, der gedankenlos nur den eigenen Vorteil suchen und andere womöglich ausbeuten würde. Nein! Ich würde dir den gleichen Dienst erweisen, wenn es mal darauf ankommt. Um das zu signalisieren, sage ich „Danke!“. Mehr zum Danken.
Sanktionen gegen „Betrüger“
Wie konnte sich ein derartiges soziales Verhalten evolutionär herausbilden und stabil andauern? Hatte nicht immer der Egoist, der zwar nimmt, aber nicht gibt, zwangsläufig einen Vorteil? Die Antwort liegt auf der Hand. Der- oder diejenige bekam sozialen Druck zu spüren. Sollte jemand nicht bereit sein zu fairem Ausgleichen, findet sich in allen Kulturen die Bereitschaft, den „Egoisten“ zu bestrafen, etwa durch Ausgrenzung, die mit Klatsch und Tratsch beginnen und in schmerzhafter, ja tödlicher Isolierung und Verstoßung enden kann. Wenn wir uns prüfen: Haben wir nicht das Bedürfnis, über irgend eine Rücksichtslosigkeit, die uns widerfahren ist, mit jemandem zu reden? „Wie egoistisch der sich verhalten hat!“ Die Gefährdung des guten Rufes, der Reputation, ist riskant.
Bei einmaligen Handelskontakten zwischen Partnern, die sich womöglich gar nicht kennen, ist anzunehmen, dass der Egoismus nicht durch Reziprozität, die Bedeutung der Reputation etc. ausgeglichen wird.
So ist es auch nicht verwunderlich, dass praktisch alle Internetplattformen, die Handel ermöglichen, ein Bewertungssystem installiert haben: Amazon führte es gleich mit dem Start 1995 ein, Ebay 1997. Es gibt aber auch Plattformen, deren Zweck allein darin besteht, bewerten zu können: Bei Yelp lassen sich Restaurants und vieles mehr bewerten, bei Tripadvisor Hotels und Reisen, bei Jameda Ärzt*innen usw. Das ist wichtiger Tratsch in Zeiten des Internets. Wenn ich wegen der Einmaligkeit der Austauschbeziehung nicht heimzahlen kann, vertraue ich darauf, dass der unfaire Partner von anderen „bestraft“ wird, die meine Bewertung lesen, richtiger: ich vertraue darauf, dass jede*r um dies zu vermeiden von vornherein fair handelt.
Bei einem Bücherkauf lag in der Büchersendung ein Zettel mit folgenden Sätzen bei:
Werte Kundschaft, da Bücher manchmal bis zu 10 Jahre im Lager liegen, kann sich der Zustand durch Papierbräunung oder Staubablagerung verschlechtern. Ich bitte das zu entschuldigen. Wenn Ihnen ein Buch nicht gefällt, schicken Sie es einfach zurück und ich erstatte den vollständigen Kaufpreis. Bitte bewerten Sie nicht gleich schlecht, weil das für mich ein viel größerer Schaden ist, als wenn ich das Buch zurücknehme und den Kaufpreis erstatte. Sie haben auch die Möglichkeit, sich mit mir über eine Preisreduzlerung zu verständigen. Vielen Dank.
Verständlich, dass sich viele in der Corona-Zeit über Maskenverweigerer oder Impfgegner empört haben, weil sie es nicht fair fanden, dass diese sich aus der Solidarität ausklinken. Hier der Link zu einem aufschlussreichen Beispiel. Andererseits gibt es auch die Empörung über die coronabedingten Freiheitseinschränkungen. Dies ist ein Beispiel, wie zwei sehr sinnvolle Intuitionen in den Streit miteinander geraten können: Solidarität bzw. Gerechtigkeit gegen Freiheit und umgekehrt.
Als 1. Ergebnis halten wir fest: Gerecht geht es zu, wenn ein Gleichgewicht von Geben und Nehmen herrscht.
Und auch ethische Reflexion wird keine grundsätzlichen Bedenken gegen dieses starke natürliche Empfinden geltend machen. Allerdings wäre hier das uns emotional sehr naheliegende analoge Phänomen des Rachebedürfnisses weiter zu reflektieren.
[1] Frans de Waal: Das Prinzip Empathie. Was wir von der Natur für eine bessere Gesellschaft lernen können, München 2011, S. 225.
[2] Aristoteles: Die Nikomachische Ethik 1133 a1‑2, übers. v. Olof Gigon, dtv text-bibliothek, DTV, München 1972, S. 164
[3] Marcel Mauss: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Suhrkamp stw 743, 1990, S. 18, Originalausg.: Essai sur le don, Paris 1950.
Fortsetzung: Verteilungsgerechtigkeit
Dürer: Iustitia