Gewalt und Mitgefühl. Die Biologie des menschlichen Verhaltens
Das Buch
Seit Oktober 2021 ist dieses unglaubliche Wissenschaftsbuch als deutsches Taschenbuch im Piper Verlag erhältlich: Gewalt und Mitgefühl von Robert Sapolsky. Statt 38 € als gebundene Ausgabe (Carl Hanser Verlag, München 2017) jetzt 18 € als Taschenbuch. Man spart also 20 €. Denn das Buch wäre locker die 38 € wert gewesen (wenn es nicht längst, wie so oft bei Sachbüchern, die englische elektronische Version und das Taschenbuch für unter 10 € gegeben hätte).
Völlig zu Recht wählte Stefanie Kara in der ZEIT Nr. 30/2021 für die Rubrik „Wenn Sie nur ein Buch über … lesen könnten …“ beim Thema „unser Verhalten“ das Buch von Sapolsky aus. Das war ein bisschen frech, weil von „nur“ ein Buch keine Rede sein kann. Es ist ein rund 1000-seitiges Werk. Aber es ist so spannend, so informativ, so toll geschrieben. Schwer irgendwo aufzuhören. Leicht irgendwo einzusteigen, denn jedes Kapitel ist für sich verständlich. Findet man in Kahnemans hochgelobtem Buch „Thinking, Fast and Slow“ nur ermüdend viele Beispiele der psychologischen Forschung für unser fragwürdiges schnelles Einschätzen und Entscheiden, so versteht man bei Sapolsky etwas von dem, was uns Menschen ausmacht. „The Biology of Humans at Our Best and Worst“ heißt der Untertitel der englischen Ausgabe. Die Biologie des Menschen mit unseren besten und übelsten Aspekten, möchte ich übersetzen.
Die Person
Ein großes Glück, dass Sapolsky als Professor für Neurowissenschaften an der Stanford Universität die weiten Felder der Neurowissenschaften, der Psychologie und Sozialwissenschaften und der evolutionär orientierten Verhaltensforschung (Primatologe ist er auch) zu der zwanglosen Synthese zusammenzuführen vermag, die allein der komplexen menschlichen Realität einigermaßen gewachsen ist. Nie argumentiert er biologistisch, als gäbe es keine kulturellen Prägungen und keinen freien Willen. Aber dass ein Mensch nicht als „tabula rasa“ geboren wird, als unbeschriebenes Blatt, auf das dann allein Erziehung und Sozialisation die Verhaltenscodes schreiben, das wird überdeutlich. Wer einen Eindruck von seiner Persönlichkeit bekommen möchte, hier seine Ausführungen zum bizarren Thema Toxoplasmose bei Nage- und Säugetieren (inklusive des Menschen).
Da Sapolsky vom Menschen spricht, kann jeder und jede einen Abgleich mit den eigenen Lebens- und Selbsterfahrungen vornehmen.
Zum Beispiel: Wir – Die
Haben Sie schon mal über die verhängnisvolle Neigung von uns Menschen nachgedacht, uns nur mit der Wir-Gruppe zu solidarisieren und gerne ein „Othering“ zu betreiben, eine Übertreibung der Andersartigkeiten der Anderen? Dann lesen Sie Kapitel 11 mit seinen 50 Seiten: Wir gegen sie – Us versus Them.
„Unser Gehirn bildet Wir/Sie-Dichothomien … mit verblüffender Geschwindigkeit.“ (S.502)
Bei relativ fremd erscheinenden Bildern reagiert die Amygdala, die für Angstbearbeitung zuständig ist, blitzschnell, dagegen bleibt das fusiforme Gesichtareal, das für die Identifizierung des individuellen Gesichts sorgt, inaktiv. Das bedeutet, dass der „Fremde“ sowohl ängstlicher wie auch undifferenzierter wahrgenommen wird. Menschen mit starker Dominanzorientierung neigen besonders dazu, Witze über „Out-Groups“ zu machen. Nicht nur die Amygdala, auch die Insula, deren Aktivität mit Ekelempfindungen einhergeht, springt bei „Fremden“ schneller an: Wir fühlen uns womöglich angeekelt von anderen, die heilige Lebewesen essen (z.B. Kühe) oder aber ekelige Dinge (wie Ratten).
„Wenn wir angeekelt sind, weil »Sie« abstoßende, heilige oder niedliche Dinge essen, weil sie sich mit ranzigen Geruchsstoffen einschmieren oder weil sie sich skandalös kleiden, so sind das Dinge, in die sich der Insellappen »verbeißen« kann.“ (S.516f, „adorable“ kann sowohl mit niedlich als auch verehrungswürdig übersetzt werden).
Zum Beispiel: Hierarchie – Gehorsam – Widerstand
Oder Sie interessiert das Zusammenspiel von Hierarchiebildung, Gehorsam und Widerstand?
Dann lesen Sie Kapitel 12 (68 Seiten).
Sapolsky weiß Interessantes zu berichten über die Rolle von Testosteron im Leben von Pavianen. Auch bei ihnen lässt sich die Beobachtung bestätigen, dass ranghöhere Tiere keineswegs einen höheren Testosteronspiegel haben, Testosteronanstieg ist durchweg eine Folge von stressigen Herausforderungen. Die hat ein ranghohes Tier vor allem beim Kampf um die Alphaposition zu bestehen, ein rangniederes Tier aber ist womöglich ständig gestresst. Dementsprechend ist auch der Glukokortikoidspiegel ständig erhöht – mit negativen Folgen für die Gesundheit. Einem rangniederen Tier, das in Ruhe gelassen wird und vielleicht sogar gute soziale Beziehungen zu seinesgleichen hat, geht es dagegen gesundheitlich recht gut. Bei menschlichen Führungskräften ist der Stress besonders groß im mittleren Management „mit der tödlichen Kombination von hoher Arbeitsbelastung und wenig Autonomie – Verantwortung ohne Kontrolle“. (S.565)
Menschen können in sehr verschiedenen Hierarchien leben und die Positionen können in der Familie, im Berufsleben und im Sportverein sehr verschieden sein.
Je krasser die Unterschiede im sozio-ökonomischen Status innerhalb einer Gesellschaft sind (genauer: je stärker sie empfunden werden), desto stärker unterscheiden sich Gesundheit und Wohlbefinden. Die Armen haben zwar auch rein physisch die schlechteren Lebensbedingungen, aber der geringe sozioökonomische Status ist noch schädlicher.
„Als die Menschen die materielle Ungleichheit erfanden, entwickelten sie eine Methode zur Unterdrückung ihrer niederrangigen Artgenossen, die die Primatenwelt noch nie zuvor gesehen hatte.“ (S.572)
Dieses Beispiel zeigt, dass Sapolsky von der nichtmenschlichen Verhaltensforschung ausgehend keineswegs bei reduktionistischen Aussagen über den Menschen landet.
Zum Beispiel: Empathie
Oder Sie interessiert das Thema Empathie bzw. Mitgefühl? Dann erhalten Sie in Kapitel 14 eine prägnante Zusammenfassung des Standes der wissenschaftlichen Forschung (40 Seiten). Auch hier werden alle Forschungsdisziplinen zueinander in Beziehung gesetzt: Verhaltensforschung, Entwicklungspsychologie, Neurowissenschaft und Sozialpsychologie.
Vorbewusst fließt die Einschätzung der Ursachen für die Notlage, den Unfall, die Schmerzen eines anderen in das Empfinden von Mitgefühl und eine mögliche Hilfeleistung ein. Schimpansen trösten das unschuldige Opfer einer Aggression. (S.687)
Auch Menschen haben mehr Mitleid mit dem unschuldigen Opfer. Sie suchen zudem die Ursache, oder zutreffender den Schuldigen für das Leiden (S.686).
Vor allem aber hat das Mitgefühl auch bei Menschen ein klare „Wir/Sie-Komponente“ (S.679). Deutlicher gesagt: Wir haben schneller und mehr Mitgefühl mit „Unseresgleichen“. Je bekannter wir mit jemandem sind, ja auch: wie ähnlich wir jemandem sind (einem Fremden), desto mehr reagieren wir mit Mitgefühl. „Kognitive Prozesse dienen … als Gatekeeper, die entscheiden, ob ein bestimmtes Unglück eines empathischen Zustandes würdig ist.“ (S.687) Und es bedarf einer enormen kognitiven Anstrengung, um „einen empathischen Zustand für jemanden herzustellen, der anders oder unsympathisch ist“ (S.688).
Für mich ist offenkundig, wie relevant die Einsichten der Natur- und Humanwissenschaften bezüglich des menschlichen Verhaltens sind. Und Sapolsky stellt sie mit viel Humor und zahllosen Bezügen zu Literatur oder täglichem Leben umfassend dar. Wie sehr könnten politische Diskussionen auf ein höheres Niveau gehoben werden, wenn kommuniziert würde: Ja, wir haben eine Neigung, nur für unsere Wirgruppe zu sorgen, aber dieses Wir ist willkürlich. Wir stehen vor der Aufgabe, die Menschheit als unsere Wirgruppe zu betrachten. Jede vorrangige Fürsorge im Nahraum ist gut und schätzenswert, wir würden sonst unsere menschliche Emotionalität verleugnen. Aber immer sollten wir uns davor bewahren, gegenüber Fremden und Anderen rücksichtslos und grausam zu sein, wir würden sonst unsere menschliche Vernunft verleugnen.
Zum Glück hat „Gewalt und Mitgefühl“ ein ausführliches Stichwortverzeichnis (inklusive Personen), so dass es sich auch als Nachschlagewerk hervorragend eignet. Stichworte wie Altruismus, Angst, Belohnung, Depression, Empathie, Entscheidungen, Erinnerungen, Furcht, Gesichter etc. finden sich ebenso über das ganze Buch verstreut wie die entsprechenden Hirnareale bzw. Neurotransmitter.
3 Anhänge beschäftigen sich mit Basiswissen Neurowissenschaft, Grundlagen der Endokrinologie und Proteinen.
Sapolsky beschließt sein Buch mit Worten an den Leser:
„Sie haben ihre intellektuelle Hartnäckigkeit gründlich unter Beweis gestellt. Wahrscheinlich haben Sie fließendes Wasser, ein Haus, hinreichende Versorgung mit Kalorien und keine schlimme Parasitenerkrankung. Man kann auch davon ausgehen, dass Sie nicht unter dem Ebolavirus oder unter Warlords leiden oder befürchten müssen, dass man sie in ihrer Welt nicht wahrnimmt. Und Sie haben eine vernünftige Bildung erhalten. Mit anderen Worten, Sie gehören zu den glücklichen Menschen. Also versuchen Sie Ihr Bestes. – Schließlich: Sie brauchen nicht zwischen Wissenschaft und Mitleid zu wählen.“ (S.865)
Rezensionen zu Büchern mit ähnlicher Thematik:
Rutger Bregman: Im Grunde gut
Steven Pinker: Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit
Und hier ein Link zu Ausführungen von Sapolsky zu spannenden und bizarren Erkenntnissen zu Toxoplasmose-Infektionen bei Nagetieren und Säugetieren, inklusive Menschen (englisch, nur englische Untertitel).
Seit Oktober als Taschenbuch: Robert Sapolsky, Gewalt und Mitgefühl
Die englische Taschenbuchausgabe von 2018: Robert Sapolsky, Behave (Penguin Random House UK)
[…] Robert Sapolsky: Behave. The biology of humans at our best and worst, London 2018 (dt. Gewalt und Mitgefühl), “Feeling disgusted by Them because they eat repulsive, sacred, or adorable […]