Ist kulturelles Wissen moralisch gut?
In der Stammesgeschichte des Menschen hat die kulturelle Lernfähigkeit eine zunehmende Rolle gespielt. Menschen sind biologisch daraufhin optimiert, kulturell zu lernen und zu tradieren.[1] Wir haben Respekt vor kulturellem Wissen. Seit der ersten Steinbearbeitung waren Individuen im Vorteil, die kulturell lernfähiger waren. Je komplexer eine Kultur wurde, um so vorteilhafter war es, kulturell lernfähig zu sein, z.B. Dinge nachmachen zu können. Dazu war es übrigens vorteilhaft, sich in die Intentionen der erfahrenen Männer, der weisen Frauen hineinversetzen zu können. Damit sind wir bei einer grundlegenden Fähigkeit (nebenbei: auch für das Mitgefühl): Sich-in-andere-Hineinversetzen-Können. „Er will offenbar mit dem Pfeilgift nicht in Hautkontakt kommen“; „sie achtet genau auf die Blätter der Knollenpflanze“ usw.
Das alles setzt voraus, dass es klüger ist, etwas so zu machen wie es die Erfahrenen vormachen und nicht einfach selbst auszuprobieren, obwohl es dazu immer noch viel Spielraum gibt: Kinder achten dabei darauf, ob die Bezugsperson beunruhigt schaut oder eher ermutigend.
Joseph Henrich bringt beeindruckende Beispiele für kulturelles Wissen, das zeigt, dass die Kultur klüger sein kann als das ihr angehörige Individuum. Maniok/Cassava ist z.B. zunächst giftig; wird es zerkleinert oder geschabt, reduziert sich der Giftgehalt um 20%, wird es anschließend gewässert, insgesamt um 70%, aber erst wenn der Sud gekocht wird, ist er genießbar, und der Brei, wenn man noch drei Tage wartet.
Henrich fragte einen Mapuche, warum er den Mais zusammen mit frischer Holzasche einweichte, und erhielt als Antwort: Es ist bei uns so der Brauch. Heinrich merkt an: ein weiser Brauch. Denn durch die alkalische Asche wird das chemisch gebundene Niacin (Vitamin B3) frei. Ohne diesen Vorgang drohen bei einem hohen Maisanteil in der Nahrung Mangelernährung bis hin zur Pellagra-Krankheit. (Henrich, a. O. S. 102–104)
Es gibt interessante Nahrungstabus insbesondere für Schwangere, bei genauerem wissenschaftlichem Hinsehen stellt sich heraus, dass diese Tabus sehr sinnvoll sind, weil die entsprechenden Lebensmittel den Embryo schädigen können.
Es ist „gut“, wenn man Reinheitsgebote und Tabus bei der Nahrungszubereitung beachtet. Sammlerinnen-Jäger-Gesellschaften (small-scale societies) speichern enorm viel Wissen in ihrer Kultur.
Frappierend sind Intelligenztests mit Kleinkindern und jungen Schimpansen. Kinder machen etwas genau nach, auch wenn sie sehen könn(t)en, dass es so nicht nötig ist. Schimpansen wählen den kürzeren Weg. Sie haben weniger Respekt vor dem Vormacher. Es erscheint paradox, aber den Menschen ist es natürlich geworden, Kultur zu haben. Die Biologie weist über die Biologie hinaus.
Man kann fragen, ob es hier sinnvoll ist von einer moralischen Intuition zu sprechen. Denn es ist ja ein Gebot der Klugheit, Gelegenheiten zu lernen wahrzunehmen. Aber die Achtung gegenüber Experten und fachlichen Autoritäten wird in der Regel in der Erziehung als Wert vermittelt. Das Gebot der Klugheit musste evolutionär durch Emotionen abgesichert werden. Emotionen sind Verehrung und Respekt, die man empfindet für und gegenüber einer erfahrenen Persönlichkeit.
Eine andere Emotion, die der Absicherung des kulturellen Wissens dient, ist der Unwille, Abweichungen zu tolerieren. Lehrkräfte, aber auch Ehepartner kann es regelrecht aggressiv machen, wenn etwas „falsch“ gemacht wird – und das klingt dann meist nach nichts anderem als: moralischer Empörung.[2]
Wie kann es dann dazu kommen, dass in unseren Zeiten ausgerechnet das elaborierte kulturelle Wissen, das die Naturwissenschaften und andere Wissenschaften hervorbringen, so durch „alternative“ „Theorien“ bestritten wird? Nun, es gibt keine Initiationsriten mehr, durch die Jugendliche in gewisse Geheimnisse ihrer Kultur eingeweiht werden. Auch heute erfindet oder entwickelt in aller Regel nicht der Einzelne seine Individualmeinung z.B. über die Entstehung einer Krankheit, sondern es scheint einen narzisstischen Gewinn darzustellen, sich auf ganz besondere Autoritäten, die die meisten nicht kennen, beziehen zu können. Menschen können sich durch besonderes, geheimes Wissen, in das sie sich durch besondere Persönlichkeiten eingeweiht fühlen, einen Prestigegewinn versprechen. So hoch ist in unserer westlich orientierten Gesellschaft der Konformitätsdruck nicht mehr, dass dies von vornherein zu krassem Außenseitertum führen müsste. In Gesellschaften, die auf Individualität großen Wert legen, kann es verlockend sein, sein persönliches „kulturelles Wissen“ zu demonstrieren.
[1] Vgl. die umfassende Darstellung von Joseph Henrich: The Secret of Our Success, Princeton: Oxford University Press, 2015.
[2] An diesem Punkt weiche ich am stärksten von Jonathan Haidt ab. Haidt überschreibt diese moralische Intuition mit Authority/Betrayal (Autorität/Verrat) und argumentiert, dass Menschen sich zu Loyalität gegenüber Autoritäten verpflichtet fühlen, auch wenn dies in westlichen Gesellschaften schwach ausgeprägt sei. Er thematisiert hier Hierarchien und Dominanz. Allerdings ist dies als natürliche Intuition nicht plausibel, da Sammlerinnen-Jäger-Kulturen tendenziell egalitär organisiert sind, wie bereits erläutert wurde.
[…] Wir achten kulturelles Wissen und persönliche Autorität bzw. […]
[…] achten kulturelles Wissen und persönliche Autorität bzw. […]