Altruismus scheint es nach der Evolutionstheorie Darwins nicht geben zu können. Schließlich überlebt nur der Fitteste und das schien zu bedeuten: Der Stärkste und der Egoistischste. Wie wären dann „kostspieliges“ prosoziales Verhalten, das einem anderen nutzt, zu erklären? Zwei Haupttheorien zeigen auf, warum und inwiefern es doch zu uneigennützigem Verhalten kommen konnte:
1. die Theorie der Verwandtschaftsselektion, nach der nicht entscheidend ist, dass das Lebewesen überlebt, sondern seine Gene. Denn es können Altruismus verursachende Gene eines Individuums überleben, wenn dieses sich für Verwandte aufopfert, weil diese ja genau diese Gene auch besitzen;
2. die Theorie des reziproken Altruismus. Reziprozität (wechselseitige Hilfeleistung) kann enorme Vorteile mit sich bringen. Insofern könnte man genauso gut von reziprokem Egoismus sprechen. Viele Forscher reden deshalb bevorzugt nur von Reziprozität. Jedenfalls ist bei der Rede von reziprok-altruistischem Verhalten immer mitzudenken, dass es in der Regel (!) sehr wohl einen Vorteil mit sich bringt. Ob es „echten“ Altruismus gibt, wird später zu diskutieren sein.
Reziproker Altruismus – Geben und Nehmen
Do ut des. – Gibst du mir, gebe ich dir. – Wie du mir, so ich dir. – Tit for Tat. – Eine Hand wäscht die andere.
Interessanterweise handelt es sich bei diesen Sprichwörtern nicht um moralische Aufforderungen, sondern eher um das Konstatieren des selbstverständlichen Gebens und Nehmens zwischen Menschen.
In allen Kulturen gibt es die Bereitschaft, andere, die zum „Wir“ gehören, zu unterstützen und ihnen zu helfen.
Wie konnte sich ein so soziales Verhalten evolutionär herausbilden und stabil andauern?[1] Hatte nicht immer der, der zwar gerne nimmt, aber nichts zurück gibt, einen Vorteil? Die Antwort liegt auf der Hand. Der- oder diejenige wird ausgegrenzt, erfährt sozialen Druck. Sollte jemand nicht bereit sein zu fairem Ausgleichen, findet sich in allen Kulturen die Bereitschaft, den „Betrüger“ zu bestrafen, etwa durch Ausgrenzung, die mit Klatsch und Tratsch beginnen kann. Wenn wir uns prüfen: Haben wir nicht das Bedürfnis, über irgendeine Rücksichtslosigkeit, die uns widerfahren ist, mit jemandem zu reden, um unserem Ärger Luft zu machen?
1. Spieltheorie
In einem Kooperationsspiel, das mit Hilfe des Computers in beliebig vielen Runden durchgeführt werden kann, lässt sich der Erfolg von Strategien simulieren. Nehmen wir eine Kooperationsbeziehung an, in der zwei Personen immer wieder aufs Neue entscheiden müssen, ob sie bereit sind, eine Gabe oder Leistung zu erbringen, noch nicht wissend, ob der andere sich dieses Mal auch für eine Gabe entschieden hat.
Im Jahr 1979 veranstaltete der Politologe Robert Axelrod ein berühmt gewordenes Turnier, an dem 14 kluge Personen jeweils ein Computerprogramm ins Spiel brachten[2]. Es gewann das kürzeste Programm mit dem Spitznamen „Tit for Tat“, „Wie du mir, so ich dir“. Es stammte von einem Psychologen und Philosophen, Anatol Rapoport, und ist denkbar simpel. Es sagt: Kooperiere beim ersten Zug, danach tu immer das, was der andere tut/im letzten Zug getan hat. Es beruht auf wenigen Prinzipien: 1. Betrüge nie als erster: beginne mit Kooperation und bleibe so lange dabei bis der Gegner mogelt. 2. Sei provozierbar: Wenn dein Gegner mogelt, bestrafe ihn. 3. Sei nicht nachtragend: räche dich nur genau einmal. Wenn dein Partner zur Kooperation zurückkehrt, tue es auch.
Das Verblüffende am Sieg dieses Programmes ist, dass es im Duell nie gewinnen kann. Es betrügt den anderen ja nicht, es versucht nicht, besonders clever zu sein. Es gewinnt dadurch, dass es optimal mit anderen kooperiert, während die anderen versuchen, sich gegenseitig auszutricksen und sich währenddessen selbst um den Ertrag bringen. Der wahre Egoist kooperiert.
Schon hier die These: Wir scheinen als Menschen bestens eingerichtet zu sein, um optimal zu kooperieren und orientieren uns dabei grob an dem Prinzip Tit for Tat.
Axelrod veranstaltete ein weiteres Turnier, alle Teilnehmer besaßen eine genaue Analyse des ersten. Es war auch inzwischen klar, dass beim ersten Turnier andere Programme hätten gewinnen können, darunter das Programm Tit for two Tats, das also noch nachsichtiger reagiert. Jedenfalls kamen wieder ausgeklügelte Programme heraus, 62 Programme diesmal, nicht wenige davon spekulierten, dass wenn die anderen so nett sind, sich daraus doch ein Vorteil müßte schlagen lassen. Sieger war – Tit for Tat. Auch Tit for two Tats wurde in dieser Konkurrenz abgeschlagen. Denn, wohlgemerkt, das gute Abschneiden hängt immer von den Strategien der Konkurrenz ab.
Axelrod ging noch weiter: er simulierte Evolution, indem er erfolgreiche Programme im nächsten Durchlauf vermehrte und erfolglose aus dem Rennen nahm. Es zeigte sich, dass einige Programme, die eine ganz raffinierte Ausbeutertaktik verfolgten, selbst ausstarben, als ihre schwächeren Gegner verschwunden waren, durch die sie sich bis dahin sehr erfolgreich bereichern konnten. Sie zerstörten ihre eigenen Lebensgrundlagen.
Eine weitere interessante Beobachtung: In einer Welt voller Betrüger, die also immer mogeln, hat ein einzelner Kooperativer (im Sinne von Tit for Tat) keine Chance. Er kommt den anderen immer mit Vertrauen entgegen und verliert gegen jeden einmal seinen Einsatz. Wenn aber zwei Kooperative in einer Welt voll Betrüger sind, dann gewinnen diese von ihrer Kooperation so viel, dass sie sehr schnell sehr erfolgreich werden.
Kooperative können also, wenn sie im Grüppchen auftreten sehr schnell eine Welt voller Betrüger unterwandern. Umgekehrt gelingt dies Betrügern nicht:
„Hat sich die Kooperation einmal eingenistet, ist sie von Dauer. ‚Die Zahnräder der sozialen Evolution haben‘, so Axelrod, ‚eine Rücklaufsperre.‘ “[3]
Um der Realität des sozialen Lebens etwas näher zu kommen, sollte man annehmen, daß niemand perfekt ist, das bedeutet, daß auch einem Tit-for-Tat-Spieler ein Fehltritt unterlaufen kann. Kooperiert er mit einem anderen Tit-for-Tat-Spieler, so hat das eine verhängnisvolle Konsequenz. Sie verweigern von nun an für alle Ewigkeit bei jedem zweiten Mal die Kooperation, da ja jeder auf den anderen reagiert. Aus diesem Grund hat eine tolerantere Variante von Tit-for-Tat (generous Tit for Tat) auf die Dauer bessere Karten. „Diese Schwester von Tit for Tat kooperiert mit fast 100prozentiger Sicherheit nach einem kooperativen Zug und mit ungefähr 33prozentiger Wahrscheinlichkeit nach einem Verweigerungsakt des Gegenspielers. Sie verzeiht also im Durchschnitt jedes dritte gegnerische Foul. […] Wer öfter verzeiht, kann ausgebeutet werden, wer seltener verzeiht, bestraft sich selbst durch übertriebene Strenge.“[4] „Bemerkenswert ist, daß sich nachsichtiges Tit for Tat aus eigener Kraft nie durchsetzen kann. Es bedarf einer so gnadenlosen Strategie wie Tit for Tat, um die Wende einzuleiten und den Boden für die [noch intensivere] Zusammenarbeit zu bereiten.“
2. Reziproker Altruismus bei Tieren
Betrachten wir nun das Vorkommen von reziprokem Altruismus bei Tieren.
Wir sollten „diese Form von Altruismus besonders bei den Arten erwarten, bei denen, wie bei uns, individuelles Erkennen möglich ist und wo es Gelegenheit dazu gibt, den altruistischen Akt zurückzuzahlen“[5], eine größere Lebensdauer ist also dazu ebenso Voraussetzung wie längeres Zusammenleben.
Reziproken Altruismus gibt es im Tierreich u.a. bei Vampirfledermäusen, bei Walen[6] und bei Primaten.
Bei weiblichen Vampirfledermäusen ist das Verhalten seit Jahrzehnten gut erforscht von Gerald S. Wilkinson[7], Gerald G. Carter[8] u.a.
Vampirfledermäuse ernähren sich ausschließlich von Blut. Nach 70 Stunden ohne Blutgenuss sterben sie. Es ist immer möglich, dass eine Fledermaus keinen Jagderfolg in der Nacht hat, auch wenn die Misserfolgsrate mit dem Alter von 30 auf 7% der Nächte abfällt. Nun erhalten die Erfolglosen aber von Artgenossen (im Durchschnitt von 3,9) etwas Blut. Der Nutzen ist für sie beträchtlich, die Kosten für die Spender aber überschaubar. Da die Weibchen bis zu 18 Jahre alt werden, ist die Zahl der möglichen „altruistischen“ Interaktionen enorm. Bezeichnend ist, dass unter erschwerenden Bedingungen den verwandten Fledermäuse mehr geholfen wird (Verwandtschaftsselektion!), während die Hilfe sonst auch Nicht-Verwandten gewährt wird.[9] Hier werden allerdings diejenigen bevorzugt, die selbst schon einmal Blut gespendet haben! Es bedarf bei einem derart intensiven Austausch von Hilfeleistungen offenkundig keiner weiteren „Bestrafung“ als die größere Zurückhaltung im Austausch. Dem entspricht, dass die Hilfeleistung etwa zu gleichen Teilen von der Empfängerin wie von der Spenderin ausgeht. Auch die Spenderin hat ein Interesse, bei einer Partnerin etwas „gut zu haben“. Klingt plausibel? Und auch menschlich?
Für die Primanten hier zunächst als Beispiel den Grünen Pavian (Papio anubis):
„Wenn ein Pavianweibchen in Östrus kommt, hält sich ein bestimmtes Männchen vor der Paarung ständig bei ihr auf. Ein Männchen, welches kein Weibchen besitzt, wirbt manchmal ein zweites (nicht verwandtes) Männchen zur Hilfe an. Dieses angestiftete Männchen verwickelt den Besitzer des Weibchens in einen Kampf, und während der Kampf tobt, verschwindet das Männchen, welches den Helfer anwarb, mit dem Weibchen. PACKER konnte zeigen, daß die Männchen, welche die meiste Hilfe leisteten, auch am meisten Hilfe empfingen, und daß eine Erwiderung der Hilfe auftrat.“[10]
Aber auch bei Schimpansen wurde reziproker Altruismus beobachtet: „Gibt Puist Leckerbissen an Luit ab, teilt später auch Luit mit Puist. Allerdings muß die Rückzahlung nicht in gleicher Währung erfolgen. Wenn Puist morgens das Fell von Luit pflegt, teilt der ebenfalls mit größerer Wahrscheinlichkeit am Nachmittag sein Zuckerrohr mit ihr.“ Nach de Waal sorgt eine geistige Buchhaltung dafür, daß nicht einseitig Vorteile angehäuft werden: „Hat Puist morgens bereits das Fell von Luit gepflegt, ist es wenig wahrscheinlich, daß er am Nachmittag auch noch Essen abbekommt.“[11]
3. Reziproker Altruismus beim Menschen
Sind auch wir Menschen reziproke Altruisten? Die theoretischen Voraussetzungen wären gegeben: lange Lebenszeit, relativ konstante Bezugspersonen (jedenfalls unter der hier maßgeblichen Bedingung der Sammlerinnen-Jäger-Existenz), eine Vielzahl von denkbaren Hilfeleistungen und Austauschmöglichkeiten, die kognitiven Fähigkeiten einer „Buchführung“.
Findet sich tatsächlich in allen menschlichen Kulturen ein derartiger Austausch, der dadurch charakterisiert ist, dass ein Partner, eine Partnerin in Vorleistung geht, aber irgendwie sichergestellt ist, dass dies nicht zum Nachteil gerät?
Der ethnologische Befund
Marcel Mauss (1872–1950), eine „führende Gestalt in der französischen Soziologie“ seiner Zeit (Evans-Pritchard) veröffentlichte 1923/24 sein inzwischen klassisches Werk „Die Gabe“ (Essai sur le don). Der deutsche Untertitel lautet: Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften[12].
Mauss – der für die „ethnologische Wende“ der Soziologie steht – erörtert insbesondere die Bräuche der Völker und Stämme in Polynesien, Melanesien und Nordwestamerika, die exzessive und teilweise geradezu bizarre Institutionen des Schenkens und Gebens wie den Potlatsch praktizier(t)en. Im Kern aber erkennt er drei Verpflichtungen: Geben, Nehmen und Erwidern. Oft profitieren die Partner handfest von den Gaben, oft erscheint es mehr als ein Spiel, das zu Festigung der gegenseitigen Beziehungen zelebriert wird, oft geht es um eine Konkurrenz um Ehre, die mit der Gabe verbunden ist. Gaben werden über die Häuptlingen ausgetauscht zwischen Stämmen, aber auch innerhalb der Stämme zwischen Häuptling und Stammesmitgliedern wie auch zwischen diesen selbst:
man lädt die Leute seines Clans ein, wenn man eine Robbe erlegt hat oder eine Kiste mit eingemachten Beeren oder Wurzeln öffnet, man lädt alle Leute ein, wenn ein Wal gestrandet ist. (S.80)
Ethnologen sind in der Regel so sehr an der genauen Beschreibung und dem Verständnis einer Kultur interessiert, dass sie sehr kritisch und skeptisch gegenüber der Annahme sind, es gebe Universalien, das heißt Bräuche, Intuitionen etc., die allen Kulturen (mehr oder weniger) gemeinsam sind. Marcel Mauss aber war der Überzeugung, im Gabentausch ein Phänomen ausgemacht zu haben, das eine Phase in der Menschheitsgeschichte geprägt hat und immer noch in uns wirksam ist, wenn auch dieses komplexe moralisch-soziale-ökonomische-religiöse System nun durch die Geldwirtschaft drastisch abgemagert wurde. Um die Universalität zu zeigen, erörtert Mauss auch das alte römische Recht, das klassische Hindu-Recht und das germanische Recht.
Überall findet er die Verpflichtung zur Gabe, zur Annahme der Gabe und zur Gegengabe (mit interessanten Ausnahmen).
Es wäre naheliegend, diese Verpflichtung sozusagen als Entzerrung eines unmittelbaren Tauschs zu betrachten: Ich gebe dir schon mal dieses, du gibst mir dann später jenes. Aber eben dem widerspricht Mauss:
Vielmehr haben sich einerseits der Tauschhandel – vereinfacht durch die Zusammenziehung ehemals auseinander liegender Zeitabschnitte – und andererseits der Kauf und Verkauf (letzterer als Bar- und Kreditverkauf) sowie auch das Darlehen aus dem System der Gaben und Gegengaben entwickelt. Denn nichts beweist, daß in irgendeiner der Wirtschaftsordnungen, welche die Phase, die wir beschreiben, überwunden haben […] der Kredit unbekannt gewesen wäre, den sämtliche archaischen Gesellschaften, die uns heute noch umgeben, kennen. (S. 84)
Dieser Befund von Mauss bezüglich des Systems von Gabe und Gegengabe in menschlichen Kulturen entspricht sehr genau dem, was wir bereits bei einigen Tierarten konstatieren konnten: der evolutionäre Vorteil entspringt ja gerade der zeitlichen Entzerrung: jetzt braucht (nur) die eine Vampirfledermaus Nahrung, später vielleicht dann die andere, jetzt hat dieser (menschliche) Jäger eine Beute, später sicher ein anderer.
Und ebenso beruht die Erfolgsstrategie von Tit for Tat auf einer initialen Gabe, einem anfänglichen Vertrauen und gutem Willen.
Auch ganze Stämme können einen solchen Gabentausch praktizieren. Neben dem berühmten Kula-Tauschring, praktizieren Trobriander
einen geregelten, obligatorischen Austausch zwischen Partnern von ackerbauenden Stämmen einerseits und Küstenstämmen andererseits. Der ackerbauende Partner legt seine Produkte vor das Haus seines fischenden Verbündeten. Dieser wird bei nächster Gelegenheit, nach einem größeren Fischfang, dem ackerbauenden Dorf mit Zinsen zurückzahlen. (S. 70)
Mauss weist darauf hin, dass die Fischer sich so an diesen Tauschritual gebunden fühlen, dass sie ihn fortführen, obwohl sie auf den Fischfang angesichts des inzwischen lukrativeren Perlenfischens verzichten könnten.
Psychologie des Gebens und Nehmens
Wenn wir Menschen reziproke Altruisten (oder reziproke Egoisten!) sind, dann sollte sich dies auch heute noch in unserer Psyche widerspiegeln, so sehr wir uns auch in einem rationalen ökonomischen System bewegen und durch dieses geprägt werden. Dieses sagt uns sehr deutlich:
- Lass dich nicht ausnutzen!
Aber dies ist kein Widerspruch zum reziproken Altruismus, ja dieser „kann sich nur entwickeln, wenn es eine Unterscheidungsmöglichkeit gegen ‚betrügende‘ Individuen gibt, die Hilfe annehmen, es aber ablehnen, diese zurückzuzahlen.“[13] Und tatsächlich werde ich jemandem, der versucht mich auszunutzen, künftig aus dem Wege gehen und auch ausdrücklich meine Hilfe verweigern. Von Fällen, in denen ich von einer anderen Person abhängig bin oder die hartnäckige Hoffnung habe, von ihr doch noch zu profitieren, sehe ich hier ab. Der Zwerg im Märchen von Schneeweißchen und Rosenrot, der den Kindern ihre Hilfe nicht vergilt, obwohl er Gold, Perlen und Edelsteine hat, erhält seine „wohlverdiente Strafe“.
Es geht aber nicht nur darum, einen Betrüger zu erkennen, sondern auch darum, selbst nicht als Betrüger zu erscheinen, sondern als hilfsbereite Person:
- Hüte dich davor, als Egoist zu erscheinen! Sei hilfsbereit!
Wir sind hilfsbereiter als wir meinen. So kommt es dazu, dass wir lieber Hilfe geben als um Hilfe bitten. Hilfesuchende scheinen nämlich 1. das Ausmaß der Störung durch ihre Bitte zu überschätzen, 2. die Kompetenz, die ihnen vom Helfer zugeschrieben wird, zu unterschätzen, 3. die Sympathie des Helfenden ihnen gegenüber zu unterschätzen, 4. das Maß des Verpflichtetseins zu überschätzen 5. den Spaß, den die Aufgabe dem Helfer macht, zu unterschätzen[14]. Mit anderen Worten: Das Problem ist nicht, dass wir in der persönlichen Begegnung mit Menschen sofort nach unserem Vorteil trachten würden, vielmehr knüpfen wir eine Beziehung lieber als Gebende, denn als Erhaltende. Wenn wir trotzdem eine Bitte ablehnen, entsteht offenbar ein Schuldgefühl, so dass wir eine reduzierte Bitte dann umso eher erfüllen.
- Lass dich nicht verpflichten!
Der Empfangende stellt sich selbst infrage, wenn er Hilfe oder Geschenke empfängt. Er wird deshalb mit Abneigung reagieren, wenn er das Gefühl hat, durch das Erhalten von Geschenken verpflichtet zu werden[15]; er wird sich auch vergewissern, dass dem anderen z.B. eine Hilfeleistung „auch nicht zu viel ist“, z.T. wohl auch, damit er damit keine Gegenforderung begründen kann. Werbegeschenke dürfen nicht zu groß sein, um nicht auf Befremden und Abneigung zu stoßen.
Und doch hat das Spiel des Schenkens nie aufgehört und das Annehmen von Geschenken ist in Beziehungen geradezu geboten. So muss der Geber, will er sich nicht unbeliebt machen, Sorge tragen, dass er nicht als aufdringlich, überheblich, Verpflichtungen schaffend empfunden wird. Also gilt der Imperativ:
- Verpflichte den anderen nicht im Übermaß!
Ein Yanomami sagt z.B., wenn er einen Hund verschenkt: „So nimm diesen mageren Hund… er taugt nicht viel.“[16] Wir sagen häufig: „Nicht der Rede wert!“ Werbegeschenke dürfen nicht zu offensichtlich den Zweck zeigen, uns zum Kauf oder Vertragsabschluss zu bewegen, zu verpflichten. Wir reagieren sonst mit Abwehr, vielleicht Empörung.
Egoismus bleibt bestehen
Ist der Egoismus also verschwunden? Keineswegs, denn das altruistische Verhalten ist ja zumeist schlicht klug. Zum anderen gibt es Situationen, wo der stark gemäßigte Egoismus zutage tritt. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn niemand zuschaut. Experimente zeigen, dass ein Augenpaar über der Kaffeekasse die Ehrlichkeit der Kaffeetrinkenden steigert.[17] Aber ohne eine solche Erinnerung an unsere Kolleg*innen lassen viele schon mal 5 gerade sein.
Wunderbar beschreibt Ewald Frie das Großwerden mit 10 Geschwistern (das 11. Geschwisterkind starb im Jahr der Geburt):
Bis zu sechs Schulkinder … trudelten [am Mittag] später und nach und nach ein, die letzten gegen 14.30 Uhr. Für sie wurde Essen in den Backofen gestellt und permanent auf 50° warmgehalten. Jeder, der nach Hause kam, checkte die Lage. Wie gut war das Essen? Wie viele würden noch kommen? Wenn’s gut schmeckte, nahm jeder von uns wahrscheinlich etwas mehr, als gerecht gewesen wäre, aber nicht so viel, dass es auffiel und die Versorgung des Letzten in Gefahr geriet. War das Essen schlecht, stieg die Großzügigkeit.[18]
Links zum Weiterlesen
Dankbarkeit als Garantie für gelingende Gegenseitigkeit
Moralische Aggression zum Schutz der kooperativen Gruppenmitglieder
Gegenseitigkeit als Teil der „moralischen Natur“ des Menschen
Spieltheoretische Modelle zu den Chancen von Reziprozität
Schon 1981 hat Dieter E. Zimmer von in seinem populärwissenschaftlichen Buch über die Vernunft der Gefühle in einem Kapitel über die Begründung der Moral die Einsichten über Reziprozität, Dankbarkeit, Gabentausch, Handel, Opfer wunderbar beschrieben. Dieses Kapitel ist auch auf seiner Homepage abrufbar!
[1] Vgl. grundlegend: Robert Trivers: The evolution of reciprocal altruism. In: The Quarterly Review of Biology 46 (1), S. 35–57, 1971.
[2] Ich folge der Darstellung von Douglas R. Hofstadter: Die Evolution kooperativen Verhaltens. In: Spektrum der Wissenschaft 1983 (8), S. 8–14 und Kooperation und Vernunft, a.O. 1983 (9) S. 8–12.
[3] Douglas R. Hofstadter: Die Evolution kooperativen Verhaltens. In: Spektrum der Wissenschaft 1983 (8), S. 14.
[4] Martin A. Nowak/Robert M. May/Karl Sigmund, Das Einmaleins des Miteinander, in: Spektrum der Wissenschaft 8/1995, S. 46–53, S. 51. Hier geht es noch eine Runde tiefer in die Analyse der Strategien.
[5] John R. Krebs et al.: Öko-Ethologie, Berlin-Hamburg: Verlag Paul Parey 1981, S. 26.
[6] Vgl. Robert Trivers: Social Evolution, Menlo Park (California) 1985, S. 382–386. Wale und Delphine helfen sich durch Begleitung in gefährlichen Situationen, Hilfeleistung (Schutz, Verteidigung, Retten) und Unterstützung (Halten von Neugeborenen, Verletzen, Kranken an der Wasseroberfläche). Die Möglichkeit zu gegenseitiger Hilfe ergibt sich oft (Verteidigung gegen Haie), Wale haben eine lange Lebenszeit, sie erkennen sich gegenseitig, wechseln Untergruppen innerhalb der Herde; sämtlich Indizien für reziproken Altruismus.
[7] Vgl. Gerald Wilkinson (1984): Reciprocal food sharing in the vampire bat, in Nature 308, S. 181–184. und ders.: in Spektrum der Wissenschaft 1990/4 S. 100–107.
[8] Vgl. zum Folgenden: Gerald G. Carter, Gerald S. Wilkinson (2013): Food sharing in vampire bats: reciprocal help predicts donations more than relatedness or harassment. Proc R Soc B 280: 20122573. http://dx.doi.org/10.1098/rspb.2012.2573, S. 3.
Gerald G. Carter, Gerald S. Wilkinson (2015): Social benefits of non-kin food sharing by female vampire bats. Proc. R. Soc. B 282: 2015.2524.
[9] Carter, Gerald G.; Wilkinson, Gerald S.; Page, Rachel A., (2017): Food-sharing vampire bats are more nepotistic under conditions of perceived risk, in: Behavioral Ecology 28/2, S. 565–569.
[10] Krebs, a.O. S.26 unter Verweis auf C. Packer (1977): Reciprocal altruism in Papio anubis, in Nature 265, S. 441–443.
[11] GEO-WISSEN 1992/3 (Intelligenz + Bewußtsein) S.116. Nach de Waal (Wilde Diplomaten, München 1991, S. 54) kooperieren Schimpansenmänner mehr auf der Basis „Wie du mir, so ich dir.“ „Im Gegensatz dazu gründen Schimpansenfrauen ihre Kooperation auf Verwandtschaft und persönliche Präferenzen.“
[12] Marcel Mauss: Die Gabe, suhrkamp taschenbuch wissenschaft 743, Frankfurt 1990, die folgenden Seitenangaben beziehen sich auf diese Ausgabe.
[13] Krebs et al., a.O. S. 26.
[14] Udo Engler/Ottmar L. Braun: Hilfesuchen und helferbezogene Gedanken, in: Hans Werner Bierhoff/Leo Montada: Altruismus, Göttingen 1988, S.258. Dabei spielt Furcht vor sozialer Bewertung eine große Rolle. Der Hilfesuchende macht sich in hohem Ausmaß Gedanken über den potentieller Helfer (59%), weniger über die eigene Person (22%), a.O. S. 256.
[15] Vgl. die Untersuchungen über das negativere Bild, das der Hilfeempfänger vom Helfenden zeichnet, wenn keine Möglichkeit zur Reziprozität (auch gegenüber einem Dritten!) besteht. Auch die Neigung, eine Bitte zu äußern, sinkt in diesem Fall. Offenbar liegt eine Bedrohung des Selbstwertgefühls vor. Hans Werner Bierhoff: Verantwortungszuschreibung und Hilfsbereitschaft, in: Bierhoff/Montada, a.O. S. 233. Unter äußerst schwierigen Lebensbedingungen kann die Verpflichtung anderer eine Überlebensstrategie werden: So versuchte bei den Ik nach dem Bericht von Colin M. Turnbull (Das Volk ohne Liebe, Reinbek 1973, S. 119f) jeder jeden in Dankesschuld zu bringen, auch wenn der Hilfeempfänger oft vehement gegen die Hilfeleistung protestierte. Dieses Verhalten war offenbar durch die akute Not jener Zeit mitbedingt.
[16] Irenäus Eibl-Eibesfeldt: Die Biologie des menschlichen Verhaltens, 3. Aufl. 1995, S. 495. Bei den Trobrinand-Insulanern werden im Rahmen des Kula-Rings auch echte Geschenke „überreicht“, die zwar feierlich herbeigetragen werden, dann aber mit der Entschuldigung, dass man nur Reste gibt, dem Partner vor die Füße geworfen werden. Oder man überreicht eine Halskette mit den Worten: „Hier der Rest meiner Nahrung von heute, nimm ihn“ (nach Eibl-Eibesfeldt 1995, S. 500). Dadurch wird natürlich auch abgesichert, dass die Gabe angenommen wird und damit doch eine gewisse Verpflichtung übernommen wird.
[17] Vgl. Daniel Kahneman: Thinking, fast and slow, Penguin Books 2012 S. 42f (1. Aufl. 2011).
[18] Ewald Frie: Ein Hof und elf Geschwister, München 2023, S. 122f.
[…] und vor allem den Zusammenhalt. Dies nicht nur in der Zweierbeziehung, in der sie die Reziprozität stärkt, sondern auch in der Gruppe. Erfolgreiche Kooperation in der Gruppe aber war […]